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Schnecken, Tiger und 'Was soll das?'
ОглавлениеUnser Garten sah aus wie mit Puderzucker überstreut. In der Nacht hatte der Schnee sich auf leisen Sohlen hineingeschlichen. Gnädig deckte er alles Hässliche des matschig frühlingsnahen Winters zu. An diesem Tag, Anfang März, kam das Kind, das einmal in diesem Garten spielen, toben, träumen, weinen und lachen sollte, das erste Mal zu uns.
Hektik bei mir. Meine beiden Unterrichtsstunden wurden mir zum Glück durch eine Autorenlesung der Schriftstellerin Ilse Bintig abgenommen. Sie zog auch mich in ihren Bann. Die Ausschnitte, die sie aus ihren Büchern halb vorlas, halb mit den Kindern erarbeitete und spielte, zeugten von großem Einfühlungsvermögen in kindliche Seelen. Ich erzählte ihr nach der Lesung von Stephan, und sie versprach, mir einige ihrer Bücher für ihn zu schicken.
»Ich finde es großartig, dass sie einem Kind, das so fürchterliche Dinge hinter sich hat, ein neues Zuhause geben wollen«, sagte sie.
Ich fand mich gar nicht so großartig. Schließlich wollte ich dieses Kind doch auch. Da wurde zwei Seiten geholfen.
Zu Hause backte ich in aller Eile die versprochenen Nussplätzchen. Es waren meine ersten, und ich war gespannt wie sie gelingen würden, doch ich wollte mich bei dem Kind natürlich auch durch hausfrauliche Fähigkeiten, die bisher leider weitgehend ungeübt waren, beliebt machen, mich ein wenig bei ihm einschmeicheln. Zur Überzeugungsarbeit gehört schließlich, sich von der besten Seite zu zeigen. Anpassungsphase - auch bei mir. Übertragbar eigentlich auf den Beginn einer jeden Beziehung.
Das Glück schien mir heute hold zu sein. Die Plätzchen wurden prächtig.
Als Stephan aus dem Auto stieg, rief er uns gleich entgegen: »Ich hab zwei Mal geschlafen!«
Aber dann war da wieder Verlegenheit, Scheu vor uns. Er fasste uns nicht an, nicht gleich. Er lief ein paar Schritte von uns weg, bückte sich, schob mit den kleinen Händchen etwas Schnee zusammen und warf damit erst nach Martin, dann nach mir. Mit gespielter Angst flohen wir ein Stück vor ihm. Das bereitete ihm einen Riesenspaß.
Dann wollte er die versprochenen Tiere sehen. Wir gingen mit ihm zu den Schafen in den Stall. Er verzog das Gesicht. »liiiieeeee, hier stinkt es aber!«
»Die haben ja auch keine extra Toilette wie wir Menschen. Die machen alles direkt hier ins Stroh. Klar, dass das stinkt«, erklärte Martin ihm. »Hast du Lust, beim Füttern zu helfen?«
Sicher hatte er Lust! Martin gab ihm ein Schälchen und zeigte ihm den Futtersack. »Hol mal damit etwas aus dem Sack und schütte es hier in die Futterrinne.«
Konzentriert wühlte Stephan mit der Schüssel im Sack herum, bis sie gefüllt war, trug seine Ladung vorsichtig zum Ziel und kippte das Futter ebenso vorsichtig aus.
»Wenn du möchtest, kannst du nachsehen, ob die Hühner Eier gelegt haben.«
»Wo?«
Ich zeigte ihm, wie er die Klappe zu den Hühnernestern öffnen konnte. Sieben Eier holte er heraus und legte sie in die Eierschachtel, die ich ihm geöffnet entgegenhielt. Stephans Augen strahlten. Vermutlich hatte er noch nie Eier aus einem Nest geholt, sie immer nur verpackt im Laden erlebt.
Klaus beobachtete die Szene mit zufriedenem Lächeln. »Wie machen die Hühner das?«, fragte Stephan.
»Du hast doch schon oft ein Ei gegessen, nicht wahr?«
Er nickte.
»Innen drin ist etwas rundes Gelbes, weißt du, wie das heißt?«
Er nickte wieder. »Dotter.«
»Genau. Von diesen Dotterkügelchen sind ganz viele im Bauch einer Henne. Zuerst sind sie ganz klein, wachsen und sind schließlich so groß wie das Dotter in deinem Frühstücksei. Jeden Tag wächst so ein großes Dotter heran. Drum herum kommt dann das Eiweiß. Das ist das glitschige durchsichtige Zeug, das du sehen kannst, wenn dir ein Ei heruntergefallen und kaputtgegangen ist. Ist dir schon mal ein Ei heruntergefallen?«
Jetzt schüttelte er energisch den Kopf.
»Weiß wird das Eiweiß erst, wenn das Ei gekocht ist. Ja, und dann kommt noch eine Schale drum herum, damit alles schön verpackt ist.«
»Warum legen die Eier?«
»Wenn die Hennen lange genug darauf sitzen und sie warm halten, können kleine Hühnerkinder darin wachsen.«
»Warum wachsen die da drin?«
Jetzt wurde das Erklären schon schwieriger. »Ja, weißt du, wenn der Hühnerpapa, der Hahn, seinen Popo an den Popo der Henne gedrückt hat, fließt sein Samen in ihren Bauch. Zusammen mit dem, was im Bauch der Henne ist, entsteht dann ein winzig kleines Hühnerbaby. Das ist so klein, dass man davon noch nichts sehen kann. Wie ein winzig kleines Pünktchen schwimmt es im Dotter. Das Ei ist nämlich eigentlich nicht für uns gedacht. Darin soll das neue Hühnchen wachsen. Aber das passiert erst, wenn eine Henne lange drauf sitzt und es warm hält. Wenn es genug gewachsen ist, macht das kleine Hühnchen die Schale mit seinem Schnabel kaputt und schlüpft aus dem Ei. Aber keine Angst, in diesen Eiern hier ist kein Hühnchen. Die sind ganz frisch von heute morgen. Darauf hat noch keine Henne gesessen und sie lange genug warm gehalten.« Ich wollte ihm ja schließlich nicht den Spaß am Eieressen verderben.
Er war zufrieden, ging zu den Schafen zurück und wollte sie streicheln. Sie flohen entsetzt vor ihm in die äußerste Ecke der Koje.
»Warum laufen die weg?«
»Sie haben Angst vor dir.«
»Warum haben die Angst vor mir?«
»Weil sie dich noch nicht kennen. Hast du keine Angst vor Tieren oder Menschen, die du noch nicht kennst?«
»Nee ...«
Wir Erwachsene schauten uns an und schmunzelten. Da würde noch einiges an Warum-Fragen auf uns zu kommen. Wir würden gezwungen sein, uns mit unserer Welt ganz neu auseinander zusetzen, um sie ihm hinreichend erklären zu können.«
Wir gingen ins Wohnhaus. Lautstark wurden wir dort von unseren beiden kleinen Hunden begrüßt. Unser Tierarzt hatte sie mal als 'Senfhunde' bezeichnet, weil da 'jeder seinen Senf dazu getan' hatte. Ohne die geringsten Anzeichen von Furcht stürmte Stephan auf sie zu. Sie flohen genauso entsetzt wie die Schafe. So viel Respektlosigkeit kannten sie nicht.
Als er es ein bisschen später mit weniger Hektik noch einmal versuchte, ließ sich der eine Hund bereits streicheln. Der andere knurrte ihn verhalten an. Trotz eines leichten Unbehagens ließen wir Stephan gewähren und vertrauten darauf, dass unsere Hunde nicht ernsthaft beißen würden. Er hielt sich auch von ganz allein bei der etwas unfreundlichen älteren Hundedame Mütze zurück und konzentrierte seine Zärtlichkeit auf die kleine Dulle, Mützes Tochter, die ähnlich unbefangen wie er noch zu neuen Freundschaften bereit war.
Dann wollte er das Haus erkunden. Er entdeckte unsere Betten. »Hier schlaft ihr?«
»Ja, das ist unser Schlafzimmer.«
Er ging weiter. Nach den Wohnräumen besichtigte er die beiden Gästezimmer, von denen eines später sein Kinderzimmer werden sollte. Diese Räume waren für ihn besonders interessant.
»Da stehen ja auch noch Betten. Wohnen hier auch Kinder?«
»Nein, die Betten sind für die Leute, die uns besuchen kommen.«
»Warum habt ihr Betten für die?«
»Die meisten Freunde von uns wohnen weit weg. Wenn sie uns besuchen, schlafen sie oft bei uns, damit sie am Abend nicht mehr so weit fahren müssen.«
»Hm ...« Man sah seiner Mimik an, dass es in seinem Köpfchen arbeitete.
Ich rief alle an den gedeckten Tisch. Wir aßen gemeinsam meine Nussplätzchen. Sie schienen Stephan zu schmecken. Er kaute lust- und geräuschvoll mit offenem Mund. Anschließend sammelte er eifrig die Papierförmchen ein, in denen sie gebacken worden waren, und wollte aufräumen. »Wo ist der Mülleimer?«
Wir deuteten mit der Hand darauf, und er warf den Abfall hinein. Er schien bisher wirklich sehr zur Ordnung erzogen worden zu sein. Seine Hemmungen, sich im Sandkasten des Spielzimmers schmutzig zu machen, fielen uns wieder ein.
Jetzt wollte er malen. Ich nahm ihn mit in unser Arbeitszimmer und holte ein paar Bögen Papier und Buntstifte. Zurück am Tisch verteilte er an jeden von uns ein Blatt und wies uns jeweils einen Buntstift zu. Ich bekam einen schwarzen, er nahm sich einen dunkelbraunen. Düstere Aussichten. Dann begann er, mit seinem Stift von der Mitte des Blattes einen großen Kringel nach außen zu zeichnen.
»Das ist eine Schnecke«, kommentierte er dabei.
»Was macht die Schnecke?«, fragte ich mit der Assoziation 'sich ins Schneckenhaus zurückziehen'.
»Die kommt da gleich raus.«
Oh, dachte ich, keine schlechte Perspektive.
Unerwartet kündigte Klaus an, dass er uns eine Weile mit ihm allein lassen müsse. Er wolle noch jemand anderen in unserem Dorf besuchen. Etwas verunsichert musste Stephan sich von uns einige Male wiederholen lassen, warum Klaus weggefahren war. Wir mussten ihm immer wieder bestätigen, dass er bestimmt gleich zurückkommen würde.
Martins abgeliebter Teddy erregte Stephans Aufmerksamkeit. Er griff danach und schlug Martin damit mehrmals hintereinander. Der verhielt sich völlig ruhig und ließ ihn gewähren. Wir waren neugierig, wie weit Stephan dabei gehen würde. Das Spiel wurde jedoch schon nach kurzer Zeit uninteressant für ihn, vermutlich weil Martin sich nicht wehrte.
Nun wurde Stephan plötzlich zum Tiger, der uns anfauchte und angriff. Wir gingen darauf ein, flüchteten und ließen uns von ihm fangen. Er biss uns, allerdings ohne uns weh zu tun, in Beine und Füße. Höher kam er nicht, da er auf allen Vieren kroch. Dann ließ er von uns ab, zog sich zurück und legte sich hin, stellte sich schlafend. Abwechselnd gingen Martin und ich zu ihm und sprachen leise auf ihn ein. »Wir haben Angst vor dir, Tiger, aber eigentlich mögen wir dich auch.«
Dabei versuchten wir vorsichtig, das 'gefährliche' Tier durch sanftes Streicheln zu besänftigen, dachten immer daran, dass Klaus uns erzählt hatte, er habe Probleme damit, sich anfassen zu lassen.
Stephan machte uns deutlich, dass er genau diese Reaktion von uns wünschte, indem er nahe an uns heran rückte und behaglich schnurrte. Wir waren glücklich, dass er sich berühren ließ. Wenig später jedoch fauchte er uns wieder an, erwachte zu neuem Leben und das Ganze begann von vorn. Etliche Male wiederholte er dieses Spiel. Zum Schluss legte er sich gemütlich über meine Beine und ließ sich streicheln. »Jetzt will ich kein Tiger mehr sein«, sagte er. Martin und ich waren erleichtert über den so positiven Ausgang.
Martin holte seine Gitarre und spielte ein paar Kinderlieder. 'Alle meine Entchen' gefiel Stephan am besten. Wir mussten es immer wieder singen. Mal sanft, mal regelrecht schreiend. Wir passten uns Stephans jeweiliger Variante an. Er geriet dabei fast in Ekstase. Das Schreien machte ihm großen Spaß. Wer konnte wissen, wie ordentlich und kleinlaut er sich bei seinen Adoptiveltern verhalten musste, dachte ich. In diesem Moment schien der Kleine allerdings jede Scheu überwunden zu haben und ging ohne Hemmungen aus sich heraus. Gut so.
Das Singen schien er irgendwie mit 'Geburtstag' zu verbinden. Jedenfalls dichtete er uns nun beiden einen Geburtstag an und verlangte, dass viele Kerzen angezündet werden sollten. Wir taten ihm den Gefallen. Andächtig schaute er in die Flammen.
»Sollen wir mal das Feuer im Kamin anzünden?«, fragte Martin ihn nach einer Weile.
»Au ja!«
Mit seinen kleinen Schläppchen, die Klaus für ihn mitgebracht hatte, schlurfte er hinter Martin her ins Kaminzimmer. Er war fasziniert, als das Feuer zu leben begann, und er durfte selbst auch einige Scheite auflegen. Ganz vorsichtig machte er das. Wieder strahlten seine Augen. Mit welch kleinen Dingen man ein Kind doch glücklich machen kann, dachte ich.
Als Klaus nach fast zwei Stunden zurückkehrte, hatte Stephan überhaupt keine Lust, mit ihm zu fahren. Er zerrte Martin in eines der Gästezimmer, warf sich auf das Bett, klopfte auffordernd neben sich auf die Matratze und wollte noch eine Geschichte vorgelesen bekommen. Martin suchte ein Kinderbuch aus meiner Sammlung heraus und legte sich dazu. Während er las, beobachtete ich Stephans Gesicht. Er schaute Martin unablässig an, hing gefesselt an seinen Lippen. Nachdem Martin das Buch wieder zugeklappt hatte, schenkte Stephan ihm ein dankbares Lächeln.
Nun drängte Klaus endgültig zum Aufbruch. »Komm, Stephan, jetzt ist es genug. Wir müssen zurück. Ich habe heute noch etwas zu erledigen.«
Bereitwillig ließ Stephan sich jetzt seinen blauen Anorak anziehen. Draußen am Auto war er sehr wortkarg geworden. Verunsichert sah er zwischen Klaus und uns hin und her. Im Moment wusste er wohl nicht so recht, wohin er eigentlich gehörte.
Klaus rief uns später noch einmal an. »Unterwegs hat er mir gesagt, dass er eigentlich doch zu klein sei, um ohne Mama und Papa zu sein. Dabei habe ich mich schon gefreut und ihm gesagt, dass wir ja mal sehen könnten, ob wir eine Mama und einen Papa für ihn finden. Ich dachte, das Zusammensein mit euch hätte ihm Lust auf euch gemacht. Hat es mit Sicherheit ja auch. Dann jedoch sagte er, er habe doch schon Eltern, er wolle keine anderen. Damit meinte er natürlich seine Adoptiveltern. Ich denke, dass er sich in einem Loyalitätskonflikt befindet. Die Beschäftigung mit euch wühlt die alten Erinnerungen wieder auf. Deshalb redet er jetzt auch so oft über sie. Vielleicht glaubt er, dass er sie verlässt, wenn er sich jetzt auf euch freut. Wir werden sie noch einmal ins Heim bitten müssen, damit sie ihm persönlich sagen, dass sie ihn nicht mehr wollen, so hart das für ihn zunächst auch sein mag. Aber das wird ihn von seiner Verantwortung befreien, die er vielleicht zu haben glaubt.«
Wir fanden diese Möglichkeit entsetzlich, glaubten Klaus und seiner größeren Erfahrung jedoch. So ganz unlogisch war das ja auch nicht. Aber das arme Kind ...!
Nach diesem ersten gemeinsamen Nachmittag mit Stephan hatten wir gespürt, dass wir nicht mehr die Jüngsten waren. Er hatte uns wirklich keine Minute lang aus seinen Ansprüchen entlassen. Nachdem er fort war, hatten wir alle Viere von uns gestreckt und versucht, uns wieder zu entspannen. Uns wurde bewusst: Da kam ein richtiges Power-Paket auf uns zu!
»Aber die ganz große Hektik wird sich auch wieder legen, wenn er erst einmal für immer hier ist«, beruhigten wir uns gegenseitig. »Jetzt muss er natürlich alles antesten und sehen wie wir reagieren.«
Ein paar Tage später durften wir Stephan im Heim besuchen. In seiner Gruppe empfing er uns zusammen mit einem etwa vierzehnjährigen Mädchen. Sonst war niemand dort. Das Mädchen begleitete uns ins Spieltherapiezimmer, wo Klaus schon auf uns wartete.
Das Tigerspiel begann von neuem.
»Eigenartig«, flüsterte Klaus uns zu. »Bisher war immer er derjenige, der von einem Tiger verfolgt wurde und fliehen musste ...«
Dieses Mal war der Tiger krank, musste sich ständig übergeben. In den Ruhepausen zog er sich in ein Spielzelt zurück, das wir nicht betreten durften. Es war seine Zuflucht, ein Ort, an dem er vor allem Bösen sicher war.
Als er seine 'Krankheit' nicht mehr aushielt, verlangte er nach einer Therapie. »Ihr müsst mich untersuchen und dann mit dieser Salbe einreiben«, wies er uns an und hielt uns dabei eine Cremedose entgegen. Martin spielte den Arzt, begutachtete ihn von allen Seiten und massierte ihm den Bauch mit der Creme. Die Therapie schien anzuschlagen. Dem Tiger ging es wieder besser.
Jetzt wurde Martin aufgefordert, krank zu sein. Da er heute sehr müde war, fiel es ihm nicht schwer, ein krankes, mattes Wesen zu spielen.
»Du musst jetzt auch kotzen.« Stephan hielt ihm eine Brechschale unter den Mund. Offensichtlich gehörte sie ganz selbstverständlich zum Inventar des Therapiezimmers. Hier musste man sich wohl öfter übergeben, alles auskotzen, was bedrückend war. Wie gut Kinder doch mit Symbolik arbeiten können. Man muss die Augen nur geöffnet halten, sie beim Spiel aufmerksam beobachten, um sie zu verstehen.
Martin bemühte sich nach Kräften, würgte so gut er konnte, und Stephan war zufrieden. Er machte Martin nun zu seinem Verbündeten. Jetzt hatten Klaus und ich es mit zwei Tigern zu tun. Stephan war mit seinen Aggressionen nicht mehr allein.
»Habt ihr Tiger Lust, mit mir noch ein bisschen in die Stadt zu fahren?«, fragte ich sie.
Sie hatten und waren schlagartig wieder Menschen.
Uns knurrte der Magen. Wir hatten noch nicht zu Mittag gegessen. Gegen unsere Überzeugung ließen wir uns von Stephan zu Mac Donalds überreden. Pommes und Hamburger sind für die meisten Kinder offenbar unschlagbar. Martin und ich waren gerade dabei, uns auf Vollwertküche umzustellen, besuchten einen entsprechenden Kursus. Aber wir folgten dem Rat der Psychologen, uns vom Kind an die Hand nehmen zu lassen.
Nach dem Essen bummelten wir mit Stephan noch ein wenig durch die Straßen. Bei jedem in der Einkaufspassage aufgestellten Spielgerät mussten wir eine Weile auf ihn warten. Er nahm alles an Vergnügen einfach mit.
Dann gab er plötzlich vor, nun nicht mehr weiterlaufen zu können. Martin musste ihn auf den Arm nehmen. Unvermittelt biss Stephan ihn in die Wange. Diesmal muss es richtig weh getan haben, denn Martin standen die Tränen in den Augen.
»Tat das weh?«, fragte Stephan ihn ohne Gewissensbisse und lachte ihn schadenfroh an.
»Na klar!«, schimpfte Martin - ehrlich entrüstet. »Was hältst du davon, wenn ich das auch bei dir machen würde?«
»Mach doch«, lachte Stephan weiter, drehte aber schnell den Kopf weg, so dass Martins Mund ihn nicht erreichen konnte. Blitzschnell landeten schließlich Stephans Hände an Martins Hals. Er versuchte, ihn zu würgen, so dass Martin nun damit beschäftigt war, sich aus dem Würgegriff zu befreien.
Jetzt wurde es Martin zu arg. Er setzte Stephan wieder auf den Boden zurück. »Du bist mir zu gefährlich. Ich glaube, du kannst doch ganz gut laufen, wenn du mit den Händen so stark bist.«
Auf der Rückfahrt zum Heim landete immer wieder die Kinderüberraschung von Mac Donalds, ein kleines Flugzeug aus Styropor, an Martins Kopf. Das störte ihn nicht weiter, da es sehr leicht war. Aber Stephans Verhalten zeigte uns, dass er damit begonnen hatte, seine Aggressionen bei uns loszuwerden. Damit hatte die Phase der Anpassung insgesamt nicht länger als ein paar Stunden gedauert. Vielleicht war das ganz gut so. Auf diese Weise kamen wir gleich zur Sache.
»Was soll das?«, rief er plötzlich vom Rücksitz des Wagens. Martin und ich schauten uns an. »Was soll das?« Stephan wurde immer lauter. »Was soll das?« Nun schrie er. Sein Gesichtchen lief von der Anstrengung krebsrot an. Dann hörte er plötzlich auf.
»Ihr müsst das auch sagen!«
»Warum sollen wir das auch sagen?« Keine Antwort.
»Ihr müsst das auch sagen!«
Wir wussten zwar nicht, warum das für ihn so wichtig war, aber wir dachten wieder an den Rat der Psychologen. Also riefen wir ebenfalls: »Was soll das?«
Er brüllte weiter mit.
Vor einer roten Ampel mussten wir anhalten. Verstohlen sah ich hinüber zu unserem Nachbarauto. Falls die Leute dort mitbekamen, wie wir uns verhielten, mussten sie uns für völlig verrückt halten. Zum Glück schauten sie stur nach vorn und warteten auf grünes Licht.
Plötzlich sagte Stephan hinter uns leise: »Der Mann in unserer Druppe sagt das immer ganz laut.«
Wir begannen zu verstehen. Damit musste er den Gruppenleiter im Kinderheim meinen. Stephan konnte 'g' und 'k' in Verbindung mit 'r' noch nicht richtig sprechen.
»Schimpft der viel mit dir?«
»Ja, und dann wird er immer ganz laut und ganz böse.«
Wir lernten diesen Mann kurz darauf kennen. Er begrüßte uns recht freundlich, ließ Stephan jedoch bei seinem Eintreffen völlig links liegen, beachtete ihn überhaupt nicht. Stolz wollte er uns durch seine Gruppenräume führen.
Äußerlich sah ja auch wirklich alles recht nett aus. Unermüdlich sprach der Sozialpädagoge von seiner Arbeit, vom Konzept des Hauses, von seinen erzieherischen Grundsätzen und den Gepflogenheiten in der Gruppe. Stephan versuchte er schließlich wegzuschicken, da der nach unserer Aufmerksamkeit verlangte und ihn damit offenbar störte. Mir war das Kind jedoch wichtiger als die Erzählungen des Gruppenleiters. So entzog ich mich dessen Einfluss und kümmerte mich um Stephan.
Martin ließ sich weiter durchs Heim führen, und er erzählte mir später, dass ihm auch Einblick in Räume gewährt wurden, in denen sich gerade Kinder aufhielten und mit irgendetwas beschäftigt waren. »Diese Kinder müssen sich vorgekommen sein wie Affen im Zoo«, sagte er.
Die Situation wurde auch Martin peinlich und so verlangte er danach, Stephans Zimmer zu sehen. Dort trafen wir uns schließlich wieder. Recht unsensibel - wie wir fanden - sagte der Gruppenleiter vor dem Kind zu uns: »Ja, es wird auch langsam Zeit, dass der hier weg kommt. Er ist der Jüngste in der Gruppe. Alle übrigen Kinder sind mindestens zehn oder älter. Da hört er hier so einiges, was für seine Ohren noch nicht bestimmt ist. Ich halte absichtlich zu ihm größte Distanz.«
Ob das wohl für Stephans Ohren bestimmt war?
Martin und ich befürchteten, dass er damit unsere gut geplante Verschwörung zunichte machte. Stephan sollte doch gar nicht wissen, dass wir ihn zu uns holen wollten! In der Tat musste dieser Mann wenig Erfahrung mit kleinen Kindern und mit Vermittlungssituationen haben.
Eiliger als unter anderen Umständen verabschiedeten wir uns von Stephan und hofften, dass er möglichst bald zu uns übersiedeln konnte. Dieser Platz hier im Heim war nicht so gut für ihn, wie es zunächst ausgesehen hatte. Schließlich konnte Klaus nicht überall sein ...
Wir sprachen noch kurz mit Klaus darüber, was wir eben erlebt hatten. Er runzelte nur die Stirn und hob die Schultern. Weiter wollte oder konnte er sich dazu nicht äußern.
»Um die Sache mit den Adoptiveltern werde ich mich jetzt kümmern«, sagte er hingegen. »Ich hoffe, ich kann sie dazu bewegen, noch einmal her zu kommen. Das wird ja auch für sie nicht leicht sein. Sicherlich stecken sie ohnehin schon voller Schuldgefühle.«
Erste Tage mit Stephan auf unserem Hof.
Es scheint ihm bei uns zu gefallen.