Читать книгу Fühl mal, Schätzchen - Ulrike Linnenbrink - Страница 3

1

Оглавление

»Nie wieder«, schwöre ich meinem Spiegelbild, »nie wieder wird dieses Arschloch das mit mir machen!«

Wütend betupfe ich die Verletzungen in meinem Gesicht. Noch immer sickert Blut aus dem Riss unterm Nasenflügel, aus der geplatzten Oberlippe, die inzwischen heftig angeschwollen ist. Auch die Gegend um das rechte Auge scheint kräftig etwas abbekommen zu haben. Morgen werde ich mit einem herrlichen Veilchen durch die Gegend laufen. Was soll ich den Leuten bloß wieder erzählen? Mir fallen bald keine Ausreden mehr ein! Herrgott, ich bin so wütend, so verdammt wütend! Zum Kotzen, wie ich schon wieder aussehe. Zum Kotzen, wie er mich wieder zugerichtet hat. Zum Kotzen!

Der Toilettendeckel knallt gegen den Spülkasten. Ich muss würgen - wieder und wieder, bringe den ganzen Mist heraus. Dann lasse ich das Waschbecken mit kaltem Wasser voll laufen, tauche mein Gesicht hinein. Nie wieder, denke ich, nie wieder! Hätte Lust, nicht mehr da zu sein, mich in Luft aufzulösen, einfach zu sterben.

Bevor ich tatsächlich ersticke, tauche ich wieder auf, schnappe nach Luft. Einen Moment lasse ich das Wasser von den Haaren, von der Haut rinnen, vom Kinn tropfen, sehe mich an. Verachte sie, diese Frau mit den strähnigen, nassen Haaren, dieses fremde Wesen, das ausschaut, als sei es für einen Horrorstreifen in der Maske gewesen.

Angewidert tupfe ich meine Haut trocken, werfe das blutfleckige Handtuch in den Wäschekorb und tappe barfuß die Treppe hinab. Für den Augenblick habe ich Ruhe, Richard ist endlich eingeschlafen. Sein Schnarchen dringt aus der Mansarde zu mir herunter. Sicher weiß er morgen früh wieder von nichts. Wie so oft.

Unten in der Küche setze ich Teewasser auf und lasse mich auf einen der harten, schwarzen Stühle sacken. Sofort dieser Schmerz im Steißbein! Für einen Augenblick bleibt mir die Luft weg. Hab nicht an den Tritt gedacht, der mich dort mit voller Wucht getroffen hat, als ich am Boden lag. Nach ein paar tiefen Atemzügen geht es wieder einigermaßen.

Ich stütze meine Ellbogen auf die Tischplatte und vergrabe meinen Kopf in den Händen. So etwas passiert mir nicht noch einmal, mein Lieber! Ganz sicher nicht. Viel zu lange habe ich still gehalten und für dich gelogen. Habe dafür gesorgt, dass niemand erfährt, was für ein Arschloch du in Wahrheit bist, habe darauf geachtet, dass dein guter Ruf nicht beschädigt wird. Aber damit ist jetzt Schluss. Jeder Mensch hat irgendwo eine Schmerzgrenze, auch wenn meine viel zu lange einem ausgeleierten Gummiband glich. Jetzt ist es, als habe jemand daran gezogen und es gestrafft. Nur noch Wut und Hass sind da, und plötzlich keimt in mir der Wunsch nach Vergeltung.

Wie durch einen Filter nehme ich mein eigenes, bitteres Lachen wahr. Der Wasserkessel fährt mit seinem schrillen Pfeifen in meine Gedanken. Ich zucke zusammen, als habe man mich ertappt.

Auch beim Aufstehen, spüre ich den Schmerz in meinen Gliedern. Ich muss mir den Rücken stützen, schiebe mich sozusagen selbst hinüber zum Teeregal. Einen Moment konzentriere ich mich auf die Frage, welches Tütchen ich wählen soll. Entscheide mich für Melisse. Muss mich beruhigen.

Hoffentlich haben Britta und Jan nichts gehört. Sie schlafen direkt über dem Wohnzimmer. Hoffentlich haben sie das Theater nicht mitbekommen. Nicht schon wieder. Ich weiß, sie leiden unter der beschissenen Situation genauso wie ich. Nein, sicher mehr als ich. Ich bin erwachsen, könnte mich wehren, hätte mich längst wehren sollen. Doch die Kinder? Wie fühlt sich ein Kind, dem die Welt zerbricht, dem das Vertraute, Geliebte, das, was verdammt noch mal für Sicherheit und Geborgenheit zuständig wäre, wenn dieses Vertraute plötzlich zur Bedrohung, zur Gefahr wird? Ich müsste es doch wissen. Hab‘ ich‘s vergessen?

Der Tee hat genug gezogen. Ich gieße mir ein, löffele ein paar Stückchen Kandiszucker dazu und balanciere die Tasse nach oben in den ersten Stock. Komme kaum die Treppe hoch, und der Tee schwappt ein paar Mal heiß über meine Finger. Schmerzen auch an der Schulter. Mit dem Kerzenleuchter muss er mich dort erwischt haben.

Oben lausche ich kurz in die Zimmer der Kinder. Jan ist erkältet, und es rasselt ein wenig beim Atmen. Aber seine Atemzüge sind ruhig und regelmäßig, er scheint fest zu schlafen. Gott sei Dank. Britta liegt mit dem Gesicht zur Wand, hat die Decke über den Kopf gezogen, reagiert nicht. Wenn sie noch wach wäre, hätte sie sich jetzt zu mir umgedreht.

Vorsichtig ziehe ich die Türen wieder zu, gehe hinüber in mein Schlafzimmer. Im Bett nippe ich vom meinem Tee. Tut gut, die Wärme im Bauch.

Ich ziehe mir das Kopfkissen über die Ohren. Kann‘s nicht mehr hören, dieses Schnarchen. Seit er fast durchgängig betrunken ist, wird auch das immer lauter. Kann mich nicht erinnern, dass er früher so laut geschnarcht hat. Früher, als er noch einen Halt hatte. Früher? Wann war das? War das überhaupt ...?



Durch die Jalousiespalten greifen warme Lichtfinger in mein Schlafzimmer und zerschneiden meinen Kleiderschrank in kleine, übereinander gestapelte Abschnitte. Ehe ich vollends erwache, betrachte ich dieses Spiel eine Weile wie durch milchiges Glas, wie einen Traumfetzen. Dann, als ich mich bewege und ein Stück drehe, ist mein Körper wieder da. Ich fühle mich, als hätte ich gestern fassweise Weinbrand getrunken und wäre einmal durch den Wolf gedreht worden.

Unten in der Küche hat jemand mit Geschirr geklappert. Britta wahrscheinlich. Vermutlich wird sie mir gleich Kaffee ans Bett bringen.

Ich denke an gemeinsame Sonntagsfrühstücke im Bett. Ganz flüchtig nur. Denke ihn mir lächelnd, mit noch feuchten Haaren vom Duschen, dunkel glänzend und streng zurückgekämmt, ein Badetuch um die Hüften geschlungen. Nackt und muskulös der Oberkörper, ohne Behaarung. Teppiche auf Männerbrüsten fand ich immer widerlich. Ich denke mir die Rose zwischen seinen Zähnen, die er in die kleine Vase auf dem Tablett steckt, bevor er es mir auf die Beine stellt, dann das Handtuch aufknotet und fallen lässt, auf der anderen Seite des Bettes – geschmeidig wie ein Wiesel – unter die Decke schlüpft, mir einen Kuss auf die Wange drückt und nach der ersten Brötchenhälfte schnappt ...

Bin froh, dass ich ihn morgens kaum noch sehe. Obwohl ich morgens nicht befürchten muss, dass er gleich wieder durchdreht. Am Morgen scheint sich eine watteweiche Glocke über ihn gestülpt zu haben. Eine, die ihn zwischen Wach und Traum, zwischen Er- Leben und Er-Trunkensein gefangen hält.

Das Schnarchen aus der Mansarde ist leiser geworden. Morgens ist es immer leiser. Muss daran liegen, dass der Alkoholspiegel sich über Nacht abbaut. Säufer schnarchen besonders intensiv, und sie sind in hohem Maße vom Atemstillstand bedroht, hab ich irgendwo gelesen. Wie oft habe ich mir während der letzten Zeit gewünscht, dass Richard in einer seiner Schnarchpausen erstickt.

Mit einiger Mühe, wieder meinen Rücken stützend, zwinge ich mich hoch, schlurfe hinüber zum Fenster, ziehe die Jalousie nach oben und sehe einen Moment hinaus in den Garten. Ein wunderschöner, ein sonniger Tag. Der Kirschbaum steht voll in Blüte und sieht aus, als habe man ihn mit weißer Spitze überzogen.

Tessa muss das Geräusch gehört haben. Sie hockt unten auf der Wiese, wischt mit ihrem Schwanz über das Gras und hechelt angespannt zu mir hoch.

Ist sie immer noch draußen oder schon wieder? Ich erinnere mich daran, dass Richard sie gestern Nacht ausgesperrt hat. Sie wollte mir beistehen und ist auf ihn losgegangen ...

Doch ich bin noch zu träge, mir darüber Gedanken zu machen, zu kaputt. Außerdem ist Britta schon auf und wird Tessa wieder ins Haus lassen. Ich krieche zurück unter meine Bettdecke und greife nach der Zigarettenschachtel auf dem Nachtschrank. Sie ist leer.

Jetzt höre ich, wie kleine, nackte Füßchen die Treppe heraufgetappt kommen.

»Britta!«, rufe ich. »Britta, bringst du mir bitte eine neue Packung

Zigaretten aus der Schublade mit hoch?«

Die kleinen Füßchen auf der Treppe stoppen, kehren um und nehmen bald darauf einen neuen, vorsichtigen Anlauf. Britta streckt

den Kopf zur Tür herein. Dann schiebt sie in der einen Hand die Zigarettenpackung, in der anderen eine Kaffeetasse in den Raum.

»Morgen, Mami.«

Sie wirft mir die Zigarettenpackung entgegen. Ich fange sie auf, lege sie auf den Nachtschrank. Rücke ein Stück zur Seite und klopfe auf den Platz neben mir. Sie stellt die Kaffeetasse ab und kriecht zu mir unter die Bettdecke.

»Ich hab‘ unten schon das Frühstück vorbereitet. Geht‘s dir gut, Mami?«

Ich lege ihr den Arm um die Schulter und ziehe sie an mich heran.

»Geht so ...«

»Ich hab‘ dich heute Nacht weinen gehört.«

»Weinen?«

»Ja, und schreien. Hat er dir ...«, sie stockt einen Moment, und ich fühle wie sie zittert, »hat er dir wieder weh getan, Mami? Er soll dir nicht immer weh tun!«

»Was macht Jan? Ist er auch schon auf?«, will ich wissen und drücke mich damit um eine Antwort

»Er ist zu Sebastian rüber. Wollte dich nicht stören. Du hast so fest geschlafen. Ich hab‘ ihm was zu essen gemacht. Tessa war auch schon pinkeln.«

»Ja«, gähne ich, »ich hab‘ schon gesehen, dass sie noch im Garten ist. Dann hast du sie herausgelassen, oder?«

»Nee, die war schon draußen. Habt ihr sie vergessen gestern Abend? Zum Glück war kein Gewitter. Ihr wisst doch, dass sie Angst hat bei Gewitter.«

»Arme Tessa«, sage ich, greife über Britta hinweg nach meinem Kaffee, trinke einen Schluck, setze die Tasse wieder zurück. »Ja, zum Glück war kein Gewitter gestern Nacht.«

»Aber es hätte sein können. Find ich nicht gut, dass ihr sie über Nacht draußen gelassen habt.«

Tessa ist eigentlich Brittas Hund. Richard hat sie ihr vor ein paar Jahren als Welpe zu Weihnachten geschenkt. Britta hängt an der Hündin wie an einer kleinen Schwester.

Ich fische die Schachtel vom Nachtschrank, reiße sie auf, ziehe eine von den Zigaretten heraus, stecke sie mir in den Mundwinkel. Das Feuerzeug in meiner Hand zittert. Tief ziehe ich den Rauch in meine Lungen, halte ihn einen Moment, muss husten.

»Mein Gott, wann hörst du endlich damit auf?« Angewidert wedelt Britta den Qualm von sich.

»Hast ja Recht. Bald. Ich versprech‘s. Ganz bald«, sage ich und streichle ihre Wange.

»Früher hast du doch auch nicht geraucht. Du rauchst, seit Papa dir weh tut. Er soll dir nicht mehr weh tun, Mama«, flüstert sie leise, »ich will das nicht! Manchmal hab‘ ich Angst, dass du am Morgen, wenn ich zu dir komme, nicht mehr lebst. Die Katrin hat zum Beispiel neulich in der Zeitung gelesen, dass ein Vater seine Frau umgebracht hat. Dann ist er ins Gefängnis gekommen, und die Kinder mussten ins Heim. Ich will nicht ins Heim, Mami! Da würde ich weglaufen. Zu Omi oder so. Da würd‘ ich auf keinen Fall bleiben ...« Sie verzieht das Gesicht, ihre Lippen beben. Sie schlingt mir ihre Ärmchen um den Hals, drückt sich an mich und weint.

Wieder streiche ich sanft über ihr Gesicht und hauche ihr einen Kuss ins Haar. »Brauchst keine Angst zu haben, Schatz, das wird bei uns nicht passieren. Ganz bestimmt wird das bei uns nicht passieren. Ich regele das schon ...«



Endlich Montag. Mein Entschluss steht fest.

Britta und Jan sind in der Schule. Jan wollte heute wieder kein Frühstück. Auch nichts für die Pause. Ich glaube manchmal, er will sich weghungern. Isst wie ein Spatz. Magersucht schon mit sieben Jahren?

Ich lege mich eine Viertelstunde in die Badewanne. Schön, das warme Wasser. Pilatus schießt mir in den Sinn. Ich wasche meinen ganzen Körper in Unschuld – schon bevor es geschehen ist. Bin ich schuldig? Werde ich schuldig sein? Oder handle ich in Notwehr? Gibt es eigentlich so etwas wie Gerechtigkeit? Warum fällt ihm kein Stein auf den Kopf? Warum überfährt ihn kein Auto, beißt ihn keine Schlange? Oder ...

Ich muss es selbst tun. Das wird mir immer klarer.

Sorgfältig trockne ich mich ab, creme mich ein und ziehe mich an. Wieso bin ich so ruhig?

Er hat sich wieder hingelegt. Gesehen habe ich heute noch nichts von ihm. Heute war er für mich nur ein Geräusch. Eines, das mich jedes Mal zusammenzucken lässt. Und ein Geruch. Die Mischung aus abgestandenem, in der Luft stehendem Alkoholdunst, kaltem Nikotingestank und süßlich-herbem Deodorant. Einfach widerlich.

Ich greife meinen Mantel, nehme die Autoschlüssel vom Haken neben der Haustür und gehe in die Garage. Fühle mich, als liefe ich neben mir her. Bin ich das? Ich, das angepasste, immer beherrschte Wesen? Die Frau, die jahrelang fast alles widerspruchslos hingenommen hat? Die, die schon zweimal mit Prellungen und Knochenbrüchen im Krankenhaus gelandet ist? Von allen ‚unerheblichen‘ Verletzungen mal ganz zu schweigen?

Gestern war er wohltuend abwesend. Verbrachte den Tag zurückgezogen oben in seiner Mansarde. Kurierte seinen Brummschädel aus und arbeitete gleichzeitig am nächsten. Immer nur kurz kam er herunter, tappte in seinen Filzpantoffeln durch die Küche, schien jeweils zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank geholt zu haben (ich hörte es am Aneinanderklirren von Glas), und verschwand wieder. Irgendwann muss er so betrunken gewesen sein, dass er mitsamt seinen Aggressionen im Vollrausch eingeschlafen ist. Gott sei Dank.

Nach dem Mittagessen hatte ich Jan bei Sebastian abgeholt und war mit ihm und Britta zu meinen Eltern gefahren. Die Kinder sind gern bei Oma und Opa. Opa kann herrlich Geschichten vorlesen, und dann gibt es da den Bach in der Nähe und die Nachbarskinder, mit denen man im nahe gelegenen Wäldchen Buden bauen kann.

»Wo habt ihr Euren Vater gelassen? Ist was mit Richard?«

Meine Mutter hat schon lange eine Ahnung. Aber ich werde mir lieber die Zunge abbeißen. Ich weiß, sie ist herzkrank.

Ich half ihr das Mittagessen vorzubereiten. Putzte die spanischen Bohnen vom Markt, schälte die Kartoffeln und erzählte ihr davon, dass ich mal wieder über die eigenen Füße gestolpert sei.

»Kind, du fällst in letzter Zeit reichlich oft«, hatte sie kopfschüttelnd bemerkt. »Wart mal, sieh mich an und halt still!«

Sie betupfte die Wunde an meiner Oberlippe mit einem mit Kamillenextrakt getränkten Küchentuch und sah mich dabei – wie immer – auf diese seltsam wissende Weise an.

Ihm nur nicht mehr begegnen müssen, hab‘ ich gestern gedacht. Dann lieber ein schnarchender Vater auf dem Sofa, eine häkelnde Mutter im Ohrensessel, zwei eingedöste, von Oma in eine Decke gewickelte Kinder auf dem Perserteppich und einmal quer durchs Fernsehprogramm bis zum Nacht-Journal.

Gleich um zehn habe ich den Termin bei meinem Neurologen.

Ich lege den Gurt an, werfe einen kritischen Blick in den Rückspiegel, zupfe ein wenig an meinen Haaren herum und verreibe die weißen Reste der Salbe an meiner Oberlippe. Finde, dass ich schrecklich aussehe. Nicht zu ändern. Jedenfalls nicht im Moment. Seufzend lasse ich den Motor an und fahre los. Zum Glück kein Berufsverkehr mehr. Aber es ist schwer, in der Stadt einen Parkplatz zu finden. Meine Aufmerksamkeit konzentriert sich eine Weile auf dieses Problem.

Abgehetzt schaffe ich es bis ins Wartezimmer. Nur wenige Leute darin. Alle haben ihren Termin. Ich blättere in einer Zeitschrift vom letzten Monat. Dass die immer diese uralten Dinger in ihren Wartezimmern herumliegen lassen müssen! Ich lese, ohne zu begreifen. Tratschgeschichten aus der High Society. Interessiert mich alles nicht. Auf jeden Fall haben die auch ihre Probleme. Offensichtlich.

Wieso bin ich so ruhig?

Die Tür geht auf. »Frau Brink?«

Die Hüfte schmerzt, als ich aufstehe und die wenigen Schritte hinüber zu meinem Arzt ins Sprechzimmer gehe. Ich setze mich vor seinem Schreibtisch auf den eleganten schwarzen Ledersessel und starre auf die Papiertaschentücher. Sie liegen zwischen dem Kalender und dem silbergerahmten Familienfoto auf der Schreibtischplatte. Wie immer.

Wir kennen uns schon lange. Seit Jahren behandelt er die Nervenschmerzen in meinen Schultern, die sich organisch eigentlich nicht erklären lassen. »Sie sollten sich einfach nicht so viel aufladen«, rügt er mich ständig, und ich weiß, dass er damit meine psychische Last meint. Er ist der Einzige, der über alles Bescheid weiß. Bis auf Elvira natürlich. Aber die ist im Augenblick weit weg.

Er schiebt meine Karteikarte und seinen Stift zur Seite, lehnt sich in seinem Sessel zurück und lächelt mich an. Signalisiert Aufmerksamkeit, erwartet die aktuelle Geschichte von mir. Auch wie immer.

»Ich hab‘ in den letzten Wochen furchtbare Schlafprobleme«, beginne ich zaghaft. »Hab‘ schon alles versucht. Gelesen vor dem Schlafengehen, warm gebadet, Baldriantropfen geschluckt, Melissentee getrunken. Bin abends noch mit dem Hund spazieren gegangen, um mich zu beruhigen. Aber es hilft alles nichts. Ich kann einfach nicht einschlafen. Das macht mich fertig! Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt! Ich muss endlich mal wieder tief schlafen. Ich brauche ein Schlafmittel. Eines, das besser und länger wirkt, als das frei verkäufliche Zeug aus der Apotheke.«

Er sieht mich eine Weile wortlos an, und ich fühle mich dabei wie mit Röntgenaugen durchleuchtet. »Sind Sie sicher, dass Ihnen das helfen wird?«, fragt er dann, beugt sich wieder vor, stützt die Arme auf den Schreibtisch und sieht mir prüfend in die Augen. »Müssen Sie da nicht an grundsätzliche Dinge heran?«

»Ach Gott, ja«, sage ich und weiche seinem Blick verunsichert aus.

»Als Außenstehender kann man immer leicht reden ...«

»Vielleicht weil man als Außenstehender objektiver ist«, bemerkt er lakonisch, und ich überlege fieberhaft, wie ich ihn davon überzeugen kann, dass mir in dieser akuten Situation keine Zeit bleibt für den langwierigen Prozess grundlegender Veränderungen. »Ich sehe doch, wie Sie unter Ihrer Situation leiden. So können Sie nicht bis in alle Ewigkeit weiter machen, ständig nur an den Symptomen kurieren und Pillen schlucken. Ihr Problem liegt ganz woanders. Sie brauchen keine Chemie, Sie müssten wirklich mal nach Alternativen schauen, ihren Mann dazu bringen, dass er endlich eine Familientherapie mit ihnen zusammen in Angriff nimmt. Ja, oder ihn konsequent vor die Wahl stellen ...«

»Ich weiß, ich weiß«, verlege ich mich aufs Weinerliche, die Taschentücher im Blick. »Aber dazu brauche ich Kraft. Dazu muss ich mal richtig schlafen können. Sie wissen, dass ich Angst habe, dass er mich bedroht. Er wird mich überall finden, wenn ich ihn verlasse, hat er gesagt ...«

Endlich gelingt es mir in Tränen auszubrechen, und ich angele nach der Packung mit den Papiertaschentüchern.

»Wir haben ja schon getrennte Schlafzimmer. Das bringt ein bisschen Distanz, und manchmal können wir sogar wieder miteinander reden. Es ist ja nicht so, als geschähe gar nichts. Das geht nur alles nicht so schnell. Helfen Sie mir. Bitte! Ich kann nicht mehr. Diese Schlaflosigkeit saugt mich aus, zieht mir die Energie ab. Wenn das so weiter geht, schaffe ich gar nichts mehr.«

Aus meinem gequälten Weinen wird hemmungsloses Schluchzen. Geräuschvoll putze ich mir die Nase. Ich versuche, meine Augen frei zu reiben. Die Wimperntusche muss mir das ganze Gesicht verschmieren. Doch was soll‘s. Kommt sicher gut.

»Ungern mache ich das. Sie arbeiten – wie gesagt – am Symptom. Eigentlich unterstütze ich das nicht gern.« Er senkt den Kopf, scheint ein paar Augenblicke nachzudenken, mit sich zu ringen. Dann greift er endlich nach seinem Rezeptblock und beginnt zu schreiben. Geschafft!

In der Apotheke nehme ich hastig die Packung an mich.



»Wo warst du?«, fragt er mich, als ich zu ihm in die Küche komme. Er sitzt gerade beim Frühstück, und ich bin froh, dass der Alkohol es noch immer nicht geschafft hat, seinen obligatorischen Morgenkaffee zu verdrängen. Ohne den Kaffee würde es nicht gehen.

»In der Stadt«, antworte ich und stelle meine Handtasche auf die Arbeitsplatte.

Nur der Hund freut sich, dass ich wieder da bin. Er springt japsend und hechelnd an mir hoch, ist kaum zu beruhigen, benimmt sich, als sei ich wochenlang nicht zu Hause gewesen.

Richard macht sich nicht die Mühe, mich anzuschauen. Er starrt in die auf dem Tisch ausgebreitete Zeitung, als sei sie der Nabel der Welt, das Einzige, was ihn im Augenblick interessiert.

Seine Kaffeetasse ist leer!

»Willst du noch einen?«, frage ich, während ich sie vom Tisch nehme und hinüber zur Anrichte trage.

Statt zu antworten fragt er mit den Augen im Sportteil: »Was hast du denn in der Stadt gemacht?«, und ich weiß, dass er in der Hauptsache wissen will, ob und wie viel Geld ich in meine eigenen Bedürfnisse investiert habe.

»Willst du noch einen Kaffee?«, frage ich wieder, greife nach der Kanne und drehe ihm den Rücken zu. Ich habe keine Lust, seine Frage zu beantworten oder ihn am Küchentisch Zeitung lesen zu sehen. Ich habe überhaupt keine Lust mehr, ihn zu sehen und mit ihm zu reden. Es stört mich heute kaum, dass er ignoriert, wie er mich zugerichtet hat. Wie jedes Mal tut er so, als sei nichts geschehen, als habe er es nicht nötig, sich zu entschuldigen. Dabei sind die Verletzungen in meinem Gesicht nicht zu übersehen.

Ich drehe das Radio etwas lauter, krame die Packung aus meiner Tasche, drücke ein paar Tabletten aus der Plastikfolie und lege sie vorsichtig neben die Kaffeetasse. Dann schütte ich Kaffee ein und lasse die Tabletten hineingleiten.

»Zucker und Milch?«

»Schlechtes Gewissen?«, fragt er zurück. »Heute mit Bedienung? Du weißt doch, wie ich meinen Kaffee trinke.«

Nach außen hin bleibe ich ruhig, gebe beides in die Tasse und rühre lange und geräuschvoll um. Impertinent, mich zu fragen, ob ich ein schlechtes Gewissen habe! Wieso vermutet er bei mir ein schlechtes Gewissen? Was geschehen wird, kann er noch nicht wissen, und nach allem, was schon geschehen ist, bin ja wohl nicht ich es, die ein schlechtes Gewissen haben sollte ...

Ich befürchte, dass die Tabletten noch nicht restlos aufgelöst sind, dass eventuell Krümel davon oben schwimmen werden. Habe so etwas ja noch nie gemacht. Lasse mich deshalb jetzt doch auf ein kurzes Gespräch mit ihm ein. Rühre dabei weiter in der Kaffeetasse herum.

»Ja, ich habe ein schlechtes Gewissen«, sage ich leise. »Den Kindern gegenüber.«

»Du bist eben einfach keine gute Hausfrau«, brummt er in seine Zeitung.

In mir will etwas aufbrausen! Dieser anmaßende Ignorant! Doch ich zwinge mich zur Ruhe, will heute nicht wütend werden. Sehe ihn weiterhin nur an und rühre im Kaffee herum. Das Ausbleiben meiner Reaktion lässt ihn zu mir aufblicken. »Es hat sich schon mal jemand tot gerührt.«

Ein kurzer Kontrollblick auf den Kaffee. Nichts mehr zu sehen von den Tabletten. Zart lächelnd stelle ich die Tasse vor ihn hin. »Na, dann lass es Dir mal schmecken, mein Lieber«, sage ich und verschwinde aus der Küche.

In Richards Büro, das er seit Monaten kaum mehr betreten hat, suche ich nach den wichtigsten Papieren: Versicherungspolicen, Pässe, Urkunden, Verträge etc. In einer der Schreibtischschubladen finde ich eine schwarze Ledermappe, die ich zuvor nie gesehen habe. Sie ist mit einem Riegel verschlossen, und ich habe keine Zeit nach einem Schlüssel dafür zu suchen, gehe aber davon aus, dass die Mappe wichtige Papiere enthalten könnte. Zur Not werde ich später den Riegel zerschneiden müssen.

Als ich glaube, alles Unentbehrliche beisammen zu haben, packe ich die Sachen in den Metallkoffer und bringe ihn in den Keller. Dort wickle ich den Koffer in unsere Asbestdecke aus dem Auto ein, schiebe das Paket in die Mauerecke neben der Gefriertruhe und gehe zurück nach oben in die Küche. Die ist inzwischen leer. Richard muss sich wieder hingelegt haben. Seine Kaffeetasse ist leer. Gut so! Nun gieße ich mir selbst Kaffee ein, setze mich damit im Wohnzimmer in den schwarzen Sessel am Kamin und schaue durch die bis zum Boden reichenden Fenster in den Garten. Etwa eine halbe Stunde sitze und warte ich so, spüre die wachsende Anspannung in mir.

Dann halte ich die Zeit für gekommen.

Schon auf der Treppe hinauf in die Mansarde, kann ich ihn schnarchen hören. Er scheint fest eingeschlafen zu sein. Oben schlägt mir abgestandener Alkoholatem entgegen. Breitbeinig liegt er auf seinem Bett. Der Bademantel ist auseinandergerutscht, gibt den Blick frei auf die Teile seines Körpers, die ich schon lange nicht mehr sehen, geschweige denn berühren und liebkosen will. Der Aschenbecher auf seinem Nachtschrank ist hochvoll. Einzelne Kippen liegen verglüht daneben auf dem Nachtschrank. Brandflecken im Holz. Es stinkt nach Kneipe am Morgen. Der übliche Dreitagebart umrahmt seinen leicht geöffneten Mund.

Widerlich! Kaum zu glauben, wie er sich verändert hat!

Ich rüttele an seiner Schulter. Das kann ihn nicht mehr wecken. Sehr gut!

Ich hebe das Bettzeug vom Boden auf, decke ihn zu und falte die Tageszeitung auseinander, lege sie aufs Deckbett. Seine Arme rücke ich so zurecht, dass es aussehen muss, als habe er darin gelesen und sei dabei eingeschlafen. Nun ziehe ich eine der filterlosen Zigaretten aus seiner Schachtel und zünde sie an, klemme sie so zwischen seine Finger, dass die Glut das Papier erreicht.

Rauchiges Glimmen nach ein paar Sekunden. Ich blase die ersten züngelnden Flämmchen an, damit sie wachsen. Warte noch einen kurzen Moment, beobachte die Entwicklung des Feuers. An der Tür drehe ich mich noch einmal um. Die Flammen haben inzwischen einen Teil der Bettdecke erfasst. Die Zeitung brennt lichterloh.

Himmel, was mache ich nur?!, durchfährt es mich plötzlich. Panik ergreift mich. Ich fliege die Treppen hinunter, reiße meine Handtasche vom Küchentisch, stopfe die Tablettenpackung hinein.

Schaffe es mit meinen bebenden Händen erst nach mehrmaligem Versuch, Tessa anzuleinen, zerre den Hund in den Flur. Siedendheiß fallen mir die Tassen ein! Ich kehre noch einmal um, schnappe mir beide Kaffeetassen und halte sie unter den laufenden Wasserkran. Umgestülpt lasse ich Richards zum Abtropfen auf der Spüle, meine wische ich sorgfältig mit einem Küchentuch trocken und stelle sie zurück in den Schrank. Ein Blick auf die Uhr: Halb eins. Jan muss in etwa einer Stunde aus der Schule kommen. Britta hat in der fünften und sechsten Stunde Schwimmen. Da dauert es immer ein bisschen länger, bis sie zu Hause ist.

Im Flur riecht es schon nach Qualm. Vorsichtig öffne ich die Haustür und sehe mich nach allen Seiten um. Niemand zu sehen. Gott sei Dank! Ich muss mich zusammenreißen, obwohl mir das Herz fast zum Hals heraus klopft. Muss möglichst ruhig und unauffällig zu meinem Wagen gehen. Ich lasse den Hund auf den Rücksitz, steige dann selbst ein und ziehe die Tür so leise wie möglich zu. Starte den Motor und rangiere aus der Einfahrt.

Nach etwa fünfzig Metern Fahrt halte ich noch einmal an und schaue zurück. Aus dem in Kippstellung geöffneten Giebelfenster der Mansarde quillt in einer rasch anschwellenden Wolke hässlicher, grauschwarzer Rauch.

Fühl mal, Schätzchen

Подняться наверх