Читать книгу Fühl mal, Schätzchen - Ulrike Linnenbrink - Страница 5
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ОглавлениеMan hat unser Haus von oben bis unten nach der Brandursache abgesucht. Besser gesagt: Das, was von unserem Haus übriggeblieben ist. Ich gerate in Panik - jedes Mal, wenn das Telefon klingelt.
»Ihr Mann muss im Bett geraucht haben und dabei eingeschlafen sein«, sagt der Beamte am Telefon. »Er war heute Morgen zum ersten Mal vernehmungsfähig. Seinen Angaben nach kann er selbst sich zwar an nichts erinnern, vermutlich der Schock, aber eine andere Möglichkeit ziehen die Fachleute nach Lage der Spuren zur Zeit nicht in Betracht.« Wo ich zur fraglichen Zeit war, hat er mich gestern bereits gefragt.
»Wir haben da einen in Asbest eingewickelten Metallkoffer mit Papieren im Keller gefunden«, fährt er nach einer kurzen Pause fort. Mir bleibt fast das Herz stehen, und ich danke dem Himmel, dass er mir im Moment nicht real gegenüber steht. Dieser Mann macht mich seit Tagen nervös!
Ich bemühe mich, meiner Antwort Ruhe und Festigkeit zu verleihen.
»Der liegt bei uns immer dort. So lange wir noch keinen Safe haben, hielten wir das für die sicherste Möglichkeit.«
Ich kann hören, wie er etwas auf Papier kritzelt, und vermute, dass meine Worte umgehend festgehalten werden. Richard darf die Akten nicht einsehen, niemals! Er darf um Himmels willen niemals auch nur etwas ahnen - falls er überlebt. Nicht auszudenken ...
Offensichtlich ist er mit seiner Notiz fertig. »Jetzt müssen Sie noch auf das Gutachten der Versicherung warten.« Und nach einer weiteren Pause: »Bleibt abzuwarten, ob die den Schaden bezahlen. Möglich, dass Ihre Versicherung sich in Anbetracht des leichtsinnigen Verhalten Ihres Mannes weigern wird. Seien Sie froh, dass Ihr Mann noch lebt. Er hat ja mächtig Glück gehabt. Durch die geschlossene Balkontür und dann in den Fischteich ... Gut, dass er noch rechtzeitig aufgewacht ist. Es hätte auch ganz anders ausgehen können, man hat in seinem Blut nämlich Spuren eines Schlafmittels gefunden. So wie er sagt, kann er sich allerdings nicht daran erinnern, eines genommen zu haben.«
Schwang da eine gewisse Andeutung in seinem letzten Satz mit? Ich spüre jedes einzelne Blutkörperchen, das durch meine Adern rauscht! »Das, äh, das kann gut sein«, stottere ich. »Er trank in letzter Zeit häufig, wissen Sie? Gut möglich, dass er es nicht mehr weiß ...«
Himmel, ich hätte daran denken müssen, dass sie sein Blut untersuchen würden!
»Ja, möglich. Seine Alkoholwerte im Blut waren ebenfalls nicht unbeträchtlich. Aber, wie schon gesagt, er hat Glück gehabt.«
»Ja«, sage ich, »großes Glück! Aber es ist noch nicht ausgestanden.« Froh, den Mann endlich verabschieden zu können, lege ich auf.
Vom Garten aus betrachtet sind die Zerstörungen an unserem Haus besonders schlimm. Der hintere Teil des Daches ist komplett abgedeckt, nur noch einige verkohlte Balken vor dem Loch, das einmal Richards Mansarde war. Der ehemals ins Dach eingelassene Balkon ist als solcher nicht mehr zu identifizieren, und der gemauerte Abzug des Kamins ragt wie ein drohender dunkler Finger in den Himmel.
Nachbar Finke hat mich im Garten entdeckt und mir aufgeregt zugewinkt. Er lässt seine Harke fallen und kommt eilig zu mir herüber an den Zaun.
Unsere Nachbarn ...
Ich kann nur hoffen, dass mich an diesem Morgen neulich niemand gesehen hat. Bei Familie Wedi - rechts neben uns - ist normalerweise vor ein Uhr niemand zu Hause. Auch Frau Wedi arbeitet vormittags, und die Kinder sind - wie unsere - in der Schule. Aber Herr Finke, unser Nachbar zur Linken ... Er ist seit seiner Pensionierung meistens hier. Allerdings scheint er seine Zeit weniger hinter der Fensterscheibe, als in seinem Garten zu verbringen, und spätestens ab Ende Februar ist für ihn die Winterruhe vorbei, da muss er raus. Doch auch wenn er mich nicht gesehen hat, er könnte meinen Wagen gehört haben.
Ein wenig außer Atem erreicht er die Grenze zwischen unseren beiden Gärten. »Mein Gott, Frau Brink!« Rasch wischt er mit den Händen an seinem grauen Kittel entlang, begrüßt mich dann über den Zaun hinweg. »Das war ja alles ganz furchtbar!« Er schüttelt den Kopf, kann das Erlebte offenbar noch immer nicht fassen. »Ganz furchtbar, ganz furchtbar. Wie eine lebende Fackel ist er vom Balkon von da oben runter in den Gartenteich gestürzt. Dass der noch mit dem Leben davongekommen ist - nicht zu glauben!«
Wie genau es Richard gelungen war, dem Flammeninferno zu entkommen, war mir bisher trotz der Informationen noch nicht voll ins Bewusstsein gedrungen. Erst jetzt - den realen Ort vor Augen - konnte ich mich auf das Szenario wirklich einlassen. »In den Gartenteich gestürzt? Und das haben Sie selbst gesehen?«
Heftiges Nicken. »Wenn er nicht gesprungen wäre, hätte er das Feuer sicher nicht überlebt. Als die Feuerwehr endlich hier war, stand da oben schon alles in Flammen. Nur gut, dass Ihr Teich so nah an der Terrasse liegt und tief genug ist ...«
Fast liebevoll tätschelt er die Hand, mit der ich mich am Zaun abstütze. »Stellen Sie sich vor, das mit dem Feuer wäre in der Nacht passiert - als die ganze Familie im Haus war und schlief. Wenn man darüber nachdenkt, kann es einem kalt den Rücken hinunter laufen. Da haben Sie und die Kinder wohl einen Riesenschutzengel gehabt, meine Liebe.«
Ich wiege bestätigend den Kopf und schicke einen demonstrativen Blick zum Himmel. »Sieht so aus, ja.« Dann löse ich mich vom Zaun und trete einen Schritt zurück. »Tja, Herr Finke, jetzt muss ich aber wieder los. Will meinen Mann noch im Krankenhaus besuchen.«
»Grüßen Sie ihn ganz herzlich von mir. Und denken Sie daran: Materielle Dinge kann man ersetzen, ein kaputtes Haus lässt sich wieder aufbauen. Hauptsache ist doch, dass die Familie überlebt hat. Das wird schon alles wieder, Frau Brink.«
Falls er mich an jenem Morgen gehört hätte, hätte er es jetzt sicher angesprochen. Ein Problem weniger. Erleichtert mache ich mich auf den Weg zurück zu meinem Wagen.
»Tessa muss raus, Mami.«
Ich schrecke hoch. Im Augenblick bin ich nirgends richtig anwesend, sitze ständig grübelnd herum. In der Agentur habe ich mir für diese Woche freigenommen. Auf die Arbeit kann ich mich im Augenblick nicht konzentrieren.
»Ach Gott, ja, die habe ich ganz vergessen!«
»Soll ich, oder willst du?«
»Lass nur, Schatz. Ich glaube, es wird mir gut tun, ein paar Minuten an die frische Luft zu kommen.«
Mit einem Seufzer erhebe ich mich aus der Sofaecke. Mein Rücken schmerzt noch immer heftig - genauso wie die Schultern. Ich gehe hinüber in den Flur und nehme meine Jacke vom Haken. So bald ich die Leine in der Hand halte, tänzelt Tessa an mir hoch und um mich herum, bis ich ihr das Halsband angelegt habe.
»Kann ich nicht mit?« Brittas Augen flehen mich an. »Nimm mich bitte mit, Mami, ich muss dir was erzählen. Allein.«
Ich umfasse dieses kleine, verzweifelte Engelsgesichtchen mit beiden Händen. »Lass uns das nachher machen, Schatz. Mir geht es im Moment nicht gut, hab so viele Probleme im Kopf. Muss mir erst mal ein bisschen allein den Wind um die Ohren wehen lassen. Lass uns reden, wenn ich zurück bin, ja?«
Ich werfe mir die Hundeleine über die Schulter, und Tessa prescht vor mir her aus der Haustür. Hier draußen gibt es nur wenig Verkehr, so dass ich sie nicht gleich anleinen muss. Sie kennt die Richtung. Ich sehe ihr gern nach, beobachte, wie sie ein Dohlenpärchen vom Acker hochscheucht und dann hinter der Uferböschung verschwunden ist.
Wie früher, denke ich. Es ist alles wie früher. Damals hieß der Hund nur Trixi und ich passte ungefähr in Brittas Klamotten. Ich schlief im gleichen Zimmer, ließ mich vom gleichen Essen verwöhnen und hatte ähnliche Ängste und Probleme wie heute.
Und während ich hinter Tessa her durchs Gras stapfe, habe ich plötzlich die Bilder jenes Tages wieder vor Augen, als ich nach der Schule mit meiner Freundin Ischi in den falschen Zug gestiegen war. Wir besuchten beide das Gymnasium im Nachbarort, und ich war nach der Schule mit zu ihr gefahren. Ich weiß nicht mehr, warum ich das getan hatte, ohne meine Eltern anzurufen und zu informieren. In jedem Fall kam ich zu spät, viel zu spät nach Hause. Natürlich hatten sie sich Sorgen gemacht, doch die können in keinem Verhältnis zur Prügel gestanden haben, die ich anschließend bezog.
Prügel gab‘s schon bei Kleinigkeiten - als ich beispielsweise meinem Vater den Wein über die Fernbedienung seiner Modelleisenbahn im Keller gekippt hatte. Das war mir aus Versehen passiert, ich hatte mich eigentlich nur an ihn lehnen und ihm beim Spielen zusehen wollen. Doch dabei muss ich eine ungeschickte Bewegung gemacht und das Glas umgestoßen haben. Danach fuhr die Eisenbahn nicht mehr. Blind vor Wut achtete mein Vater anschließend nicht mehr darauf, wo er mich mit seinen Schlägen traf.
Aus meiner heutigen Perspektive erklären sich plötzlich auf ganz neue Weise die blauen Flecken, die meine Mutter früher vor mir mit Make-up zu verbergen suchte. Ich habe trotzdem jedes Mal bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Auch wenn sie eilig die Tränen unter ihren Augen wegwischte und behauptete, sie habe gerade Zwiebeln geschnitten. So oft wie ich sie weinend erlebt hatte, kann sie gar keine Zwiebeln geschnitten haben ...
Wie froh war ich, als ich Richard kennen gelernt hatte. Wie schnell war ich bereit, ihn zu heiraten, nur um aus dem Haus zu kommen. Eine andere Alternative fiel mir damals nicht ein. Ich war gerade zweiundzwanzig, mit dem Studium noch nicht fertig. Ich hätte kein Geld für eine eigene Wohnung gehabt. Richard war da, Richard hatte eine Wohnung, Richard hatte genügend Geld für uns beide und Richard versicherte mir mehrmals täglich, dass er mich liebte. Ich fühlte mich geschmeichelt, fand es himmlisch, begehrt und umworben zu werden und hatte endlich eine Richtung: Weg von zu Hause!
Kurz vor meinem dreiundzwanzigsten Geburtstag haben wir geheiratet. Ich konnte mich wirklich nicht beklagen. Hatte einen aufmerksamen Ehemann, einen zärtlichen, wenn auch ein wenig zu eifersüchtig über mich wachenden Liebhaber, immer genügend Geld, und ich konnte in Ruhe mein Studium beenden. Mit knapp fünfundzwanzig kam Britta, drei Jahre später Jan.
Schon mit den Kindern hat sich bei uns jedoch einiges verändert. Ich war nicht mehr nur die Frau, die Geliebte, jetzt war ich auch Mutter, und manchmal hatte ich das Gefühl, mit einem eifersüchtigen dritten Kind umgehen zu müssen. Ich war schockiert, als er das erste Mal das Tellerregal im Wohnzimmer leer fegte. Später warf er, wenn ihm die Argumente ausgingen, schon mal mit Kaffeetassen. Mit gefüllten. Und irgendwann hat er damit angefangen, mich zu schlagen.
Dicke Blumensträuße gab es danach. Am anderen Morgen, wenn er sich wieder beruhigt hatte. Genau wie die Schokolade oder die Pralinen von meinem Vater. Tränen in den Augen beim: »Ich versteh mich ja selbst nicht. Das wird nie wieder vorkommen. Verzeih mir bitte.«
Ganz schlimm wurde es schließlich, als Richards Firma endgültig ihre Pforten geschlossen hatte. Er hat sich zwar bei seinen Bewerbungen fast die Finger wund geschrieben, doch er bekam eine Absage nach der anderen, und seine Stimmungen schwankten heftiger. Er ließ sich mehr und mehr gehen, griff immer häufiger zur Flasche und ließ immer öfter seine Wut und seine Hilflosigkeit, vielleicht auch seinen Neid auf meine noch bestehende Berufstätigkeit, an mir und meinem Körper aus.
Selbst die Kinder blieben dabei nicht verschont. Jans Sportlehrer rief mich einige Male an und fragte, wie ständig die blauen Flecken an Jans kleinen Körper gelangt sein könnten. Er habe sich beim Umziehen der Klasse schon mehrfach darüber gewundert, dass Jan sich stets in die hintere Ecke der Umkleidekabine verkröche und sich offenbar vor den anderen schäme. Ob es sein könne, dass er zuhause Schläge bekäme ...
Vielleicht wissen die anderen immer schon weit mehr, als man in seinem selbstgestrickten Vertuschungs- und Lügennetz preisgeben will. Ich weiß nicht, ob er mir meine Erklärung, dass Jan eben sehr wild und temperamentvoll sei, häufig stolpere und fiele, abgenommen hat ...
Tessa springt pudelnass auf mich zu, stoppt direkt vor mir und sieht mit heraushängender Zunge zu mir hoch. Unser Wasserhund. Hier am Bach kann sie ihre Retriever-Leidenschaften so richtig ausleben. Als sie Anstalten macht, sich das Wasser aus dem hellen, zottigen Fell zu schütteln, springe ich rasch ein paar Schritte zur Seite, um der unfreiwilligen Dusche zu entgehen.
»Na, genug geschwommen und getobt?«, frage ich sie und kraule ihren feuchten Bart. »Dann lass uns umkehren.«
Keine Gelegenheit, zu Hause - wie versprochen - gleich mit meiner Tochter zu reden. Tante Elvira, die jüngere Schwester meiner Mutter, ist zu Besuch gekommen, weil die dramatischen Ereignisse bei uns sie aus ihrer ländlichen Idylle hoch geschreckt haben. Wo sie ist, wird einfach jedes Haus lebendig, egal, wie trüb es vorher darin ausgesehen haben mag.
Erst am Abend kommt Britta zu mir ins Zimmer.
»Hast du Deine Hausaufgaben fertig?«, frage ich sie. Sie ist in der Schule in den letzten Monaten rapide abgefallen. Ihre Klassenlehrerin macht sich große Sorgen um ihre Versetzung. Ich auch, zumal der Wechsel zur weiterführenden Schule ansteht.
»Ja, hab ich«, sagt sie leise, reicht mir eine Flasche Mineralwasser.
»Hab Dir was zu trinken mitgebracht.« Sie setzt sich in den Sessel neben meinem Jung-Mädchen-Zimmer-Bett.
Ich fülle das Glas auf meinem Nachtschränkchen, klopfe dann auffordernd auf den Platz neben mir. »Komm, Schatzl, du wolltest mir doch etwas erzählen.«
Sofort stürzt sie zu mir herüber, schlingt mir beide Arme um den Hals und beginnt heftig zu schluchzen. »Alles meine Schuld, Mama«, weint sie, »das ist alles meine Schuld.«
»Deine Schuld? Was ist deine Schuld?« Ich bin etwas verwirrt.
»Na, das mit Papa! Das ist alles meine Schuld.«
»Blödsinn! Was soll daran denn deine Schuld sein?«
Sie schluckt an ihren Tränen. »Ich habe in meinem Zimmer am Sonntag eine Kerze angezündet und sie ganz fest angeschaut.
Katrin aus meiner Klasse hat gesagt, dass man so zaubern kann. Wenn man sich ganz doll konzentriert und sich dabei ganz fest etwas wünscht, geht das in Erfüllung, hat sie gesagt.«
Erstaunt tupfe ich ihr beim Zuhören mit meinem Papiertaschentuch übers Gesicht.
»Und dann«, sie kann kaum weitersprechen, »dann habe ich mir gewünscht, dass Papa stirbt. Ich habe in die Kerze geschaut und mir das ganz fest und ganz lange gewünscht.«
»Britta«, rüttele ich sie und halte sie an den Schultern ein Stück von mir weg. »Das ist doch Unsinn!« Unglaublich! Sie scheint tatsächlich davon überzeugt zu sein, dass sie das alles bewegt hat! Mit welchem Schuldgefühl muss sie sich seit Tagen herumquälen?
Ich ziehe sie wieder heran, drücke sie an mich. »So etwas gibt es nicht, mein Schatz. Katrin hat dir Blödsinn erzählt. Du musst nicht alles glauben, was die sagt. Papa ist im Bett mit einer brennenden Zigarette eingeschlafen. Er ist selbst Schuld, weshalb raucht er auch dauernd im Bett ...?«
»Aber das machst du doch auch, Mami«, jammert sie an meiner Schulter.
»Ja, aber ich mache das immer nur dann, wenn ich ganz wach bin und dabei nicht einschlafen kann.«
Im Grunde hat sie natürlich Recht. Und Richard wäre das ohne mein Zutun auch nicht passiert. Zumindest nicht an diesem Tag ...