Читать книгу Fühl mal, Schätzchen - Ulrike Linnenbrink - Страница 4
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ОглавлениеMeine Mutter gießt mir Tee ein. Gedankenverloren rühre ich darin herum, schiebe die kleinen hellbraunen Bläschen an der Oberfläche zu einem sich in der Mitte immer schneller drehenden Schaumkarussell zusammen. Ungefähr ein Jahr ist es jetzt her, dass Richard seine Stelle verlor. Unglaublich, wie sehr sich ein Mensch in einem einzigen Jahr verändern kann.
Ich erinnere mich, dass ich gerade dabei war, im Garten Zweige zu schneiden, die zu Ostern in der großen Bodenvase blühen sollten - etwa eine Woche, bevor die Ferien der Kinder begannen. Der Morgen in der Agentur war sehr anstrengend gewesen. Wir hatten einen neuen Werbeauftrag. Für unser relativ junges Team sehr wichtig. Ein dicker Fisch, große Kaufhauskette, eilige Terminsache. Anstrengend aber schön. Ich brauchte solche Herausforderungen, und es war schwer genug, mir diese Möglichkeit und damit ein Stück Freiraum zu erkämpfen.
Lange hatte er sich gegen meinen Job in der Werbeagentur gesträubt. Er war der festen Überzeugung, dass seine Frau es nicht nötig habe, außerhalb ihres eigenen Haushaltes zu arbeiten. Entsprechend hartnäckig hatte er sich zunächst gegen meine Pläne gewehrt. Wie habe ich gekämpft, um wenigstens drei Vormittage in der Woche durchzusetzen. Inzwischen schien er sich damit arrangiert zu haben, jedenfalls gab es mittlerweile keinen Streit mehr deshalb.
Das Wetter verwöhnte uns in jenem Jahr genauso wie in diesem, und die Knospen der Bäume und Sträucher waren ungewöhnlich weit ausgetrieben. »Wenn da mal nicht noch kräftig der Frost dazwischenfährt«, hatte Herr Finke, unser Nachbar zur Linken, eben über den Zaun hinweg zu mir gesagt, und ich hielt bereits einen dicken Strauß frisch geschnittener Zweige im Arm, als ich vor dem Haus Richards Wagen hörte. So früh am Nachmittag kam er nur selten nach Hause.
Ich warf Herrn Finke einen erstaunten Blick zu und ging über den Rasen zurück ins Haus, traf Richard in der Diele. Er ließ müde seinen Aktenkoffer neben der Garderobe auf die hellen Bodenfliesen fallen und warf die Schlüssel auf die alte, tannene Gründerzeitkommode.
»Jetzt ist es beschlossene Sache«, sagte er und sah mich dabei nicht an, »die machen den Laden dicht.«
»Ach, du meine Güte!« Ich hatte in meinem Stress an diesem Morgen gar nicht mehr an diese wichtige Sitzung heute gedacht.
Ärgerlich warf er die Haustür zu. Sein leichter, dunkler Wollmantel landete nur unzureichend auf dem Bügel im Garderobenschrank, rutschte ab und fiel zu Boden. Ich hob ihn auf.
»Dabei haben wir vor nicht ganz zwei Jahren noch für über drei Millionen neue Maschinen angeschafft, da hat niemand auf meine Warnungen gehört. War damals doch schon abzusehen, dass die Textilbranche in Deutschland weitgehend am Ende ist. Mit den Global-Playern und ihren Werksfilialen in den Billigländern können wir als mittelständisches Unternehmen einfach nicht konkurrieren.« Seine Arme machten eine kleine Bewegung, die seiner Hilflosigkeit Ausdruck verlieh. »Dabei lagen wir bisher immer noch ganz gut im Rennen. Wenn es jetzt ausgerechnet uns erwischt hat, werden andere bald nachziehen müssen, das ist sicher.«
Dieses Schwert hatte zwar schon seit einigen Monaten über uns geschwebt, nun aber war aus der Befürchtung Realität geworden. Dabei ging es nicht mal in erster Linie um unsere finanzielle Sicherheit, darum würde es auch in Zukunft nicht allzu schlecht stehen. Sein Job war jedoch alles für ihn. Er war darin aufgegangen, hatte jede freie Minute geopfert, fand in seiner Arbeit sich selbst, wurde in seiner Position respektiert und geachtet. Nicht selten hatte ich den Verdacht, dass er seinen Beruf und das Gefühl von Macht, das für ihn damit verbunden war, mehr liebte, als seine Familie, mehr als mich.
»Und nun?«
»Tja, was nun?«
Er ging hinüber ins Wohnzimmer und ließ sich in den schwarzen Kaminsessel fallen. »Für mich ist es finanziell ja noch einigermaßen tragbar, meine Abfindung wird uns eine Weile ganz gut über Wasser halten, aber für unsere Mitarbeiter tut es mir Leid, besonders für die Älteren. Wird nicht leicht für sie, in diesen Zeiten neue Jobs zu finden. Frisches Futter für die Arbeitslosenstatistik.«
»Und ihr habt wirklich alles versucht?« So bald ich es ausgesprochen hatte, biss ich mir auf die Unterlippe. Natürlich hatten sie das. Mit immer wieder neuen Produktlinien und Marketingstrategien.
Sein Blick traf mich hart und aggressiv. »Mein Gott Lisa!« Er lehnte seinen Kopf gegen die hohe Lehne des Sessels und schloss die Augen.
»Ja, ich weiß, aber vielleicht findest du irgendwo etwas Neues.«
»Ach, Lisa, hör doch bitte auf«, stöhnte er entnervt. »In meinem Alter. Ich bitte dich! Ich gehe auf die Fünfzig zu, wie wir beide wissen. Verlangt wird jung, dynamisch, flexibel ...«
»Noch bist du sechsundvierzig.«
Abwehrend hob er beide Hände. »Nun lass es - bitte! Mach dich nicht lächerlich. Du weißt, dass ich keine Chance mehr habe.«
»Wie lange wird es dauern, bis es endgültig so weit ist?«, gab ich auf.
»Etwa ein halbes Jahr. Ende September. Bis dahin muss alles abgewickelt sein. Bin müde, werde mich jetzt erst mal eine Weile hinlegen. Sag den Kindern, sie sollen leise sein. Weck mich gegen acht. Brauchst nicht zu kochen. Ich habe keinen Hunger.« Ich auch nicht. Aber die Kinder vielleicht, dachte ich.
Von diesem Tag an ging es mit Richard und mit unserem bisher zumindest äußerlich zufriedenstellenden Familienleben steil bergab.
»Noch Toast?«, fragt meine Mutter.
Von weit her holt sie meine Aufmerksamkeit zurück an den alten, von der Ur-Oma geerbten Eichentisch.
»Ich habe dich gefragt, ob du noch Toast willst.« Sie hielt mir die Schale mit dem Brot entgegen. »Nun mach dich nicht verrückt, Kind! Im Moment kannst du sowieso nichts ändern. Du musst bei Kräften bleiben. Schon wegen der Kinder.«
Ich bin noch so sehr von meinen Erinnerungen gefangen, dass ich nicht gleich auf sie reagiere. Jan verschmiert mit einer Scheibe Brot Ketchup auf seinem Teller, und mein schon etwas seniler Vater stochert stumm und uninteressiert in seinen Bratkartoffeln herum.
Britta wendet den Blick nicht von mir. Verzweifelt, fragend, wissend schaut sie mich an. Es ist, als bohre sie mir mit ihren großen braunen Augen ein Schwert in den Bauch. Ich bin wieder im Jetzt angekommen. Das Geschehen hat mich eingeholt.
»Kann ich mir gleich das schnurlose Telefon mit ins Bett nehmen, Mutti?«, frage ich. Meine Mutter nickt und legt mir die nicht bestellte Toastscheibe auf den Teller. »Iss was, Kind. Ist schon schlimm genug, das alles.«
Seltsam, dass ich mich hier jedes Mal selbst wieder wie ein Kind fühle.
Jan nörgelt. »Unser schönes Haus, Mami! Alle Fenster kaputt, alles nass und schwarz. Glaubst du, dass meine Eisenbahn und mein Computer noch funktionieren?«
»Wir sind doch versichert«, klärt Britta ihn altklug auf, sieht anschließend - meine Bestätigung erwartend - gleich wieder zu mir herüber.
»Ja, ja, das sind wir«, nicke ich und belege meinen Toast mechanisch mit Tomatenscheiben.
»Wichtig ist jetzt erst einmal, was mit Eurem Vater wird«, sagt meine Mutter und versucht damit, dem Tischgespräch eine andere Richtung zu geben. Sie regt sich gern über das materialistische Denken meiner Kinder auf, obwohl sie selbst durch Hunderte von Geschenken nicht unerheblich dazu beigetragen hat. Auch während meiner eigenen Kindheit wurde Zeit und Zuwendung oft durch materielle Dinge ersetzt, die mich zufrieden stellen und mir Geborgenheit vermitteln sollten. Doch seit ich erwachsen bin, seit Richard, der strahlende und gut situierte Ritter, mich aus dem Haus geheiratet hat, ist es, als versuche sie alles wieder gutzumachen.
Mutter war schon vor mir am Tatort gewesen. Meine Nachbarin zur Rechten hatte sie angerufen, da sie hoffte, mich bei meinen Eltern zu finden, um mir die schreckliche Mitteilung zu machen.
Ich hatte Mutter nicht gleich entdeckt, hatte überhaupt nichts anderes wahrgenommen, als die blinkenden Lichter, die zerborstenen Scheiben in unserem Obergeschoss und den prallen Wasserstrahl, der darauf gerichtet war. Ihre Hand auf meiner Schulter erschreckte mich fast zu Tode. Ertappt, jetzt haben sie dich!, dachte ich, jetzt bist du durchschaut. Ich wagte nicht, mich umzudrehen, muss völlig steif dagestanden sein. Unbeschreibliche Erleichterung, als ich ihre Stimme hörte.
»Mein Gott, Kind! Wie konnte das nur passieren?«
»Mama!« Ich fuhr zu ihr herum. »Was machst DU denn hier? Das ..., das ist ja grauenhaft! Und was ist mit Richard? Der muss doch zuhause sein. Jedenfalls lag er noch im Bett, als ich in die Stadt gefahren bin ...«
Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Sie sind mit einer Trage nach hinten in den Garten gelaufen«, sagte sie. »Vielleicht haben sie ihn über den Balkon aus seiner Mansarde geholt. Im Haus soll niemand sein.«
Der Boden unter meinen Füßen schien plötzlich zu wanken, die Knie wurden weich und kraftlos. Die Bilder begannen, sich vor meinen Augen zu drehen. Erschreckt bemerkte Mutter meinen Zustand, fing meinen Sturz ab und stützte mich.
Es dauerte nur ein paar Sekunden, dann hatte ich mich wieder gefangen. Mutter hielt mich weiter im Arm, und gebannt starrten wir nun beide hinüber zum Haus, da ihn in diesem Augenblick zwei Feuerwehrleute durch das Törchen nach vorn trugen. Zwei Sanitäter überholten die kleine Gruppe im Laufschritt und rissen die Türen zum Krankenwagen auf, den ich jetzt erst entdeckte.
Mit stockte der Atem. Jemand trug eine Infusion neben ihm her. Das Tuch, das seinen Körper bedeckte, ließ den Blick auf den Kopf frei. Das Feuer hatte sein Haar weggeschmort. Hässliche Flecken auf der blanken Kopfhaut, im Gesicht. Er rührte sich nicht, schien ohne Bewusstsein. Aber Himmel, er schien zu leben!
Wie gelähmt stand ich da und sah zu, wie sie ihn etwa zwanzig Meter von mir entfernt in den Rettungswagen schoben.
»Schrecklich«, stammelte meine Mutter, »einfach schrecklich! Willst du nicht fragen, ob du mit ins Krankenhaus fahren kannst? Bist doch seine Frau, da nehmen die dich sicher mit. Ich würde dann hier auf die Kinder warten.«
Heftig schüttelte ich den Kopf. »Das kann ich jetzt nicht, Mama, ich kann da jetzt nicht hin ...«
Sie ließ mich los. »Gut, dann werde ich rasch fragen, wohin sie ihn bringen, ja?« Besorgt ergriff sie noch einmal meine Schultern und schaute mir tief in die Augen. »Du wirst mir jetzt doch nicht mehr umfallen, oder?«
Wieder schüttelte ich mit dem Kopf, und sie eilte hinüber, um mit dem Fahrer des Krankenwagens zu reden. Wenig später war sie zurück. »Sie fahren Richard jetzt erst einmal in die Uni-Klinik. Ich habe unsere Telefonnummer hinterlassen. Sie werden anrufen, wenn irgendwas ist«, sagte sie etwas außer Atem. »Beruhige dich, Lisa! Er lebt doch noch! Und das mit dem Haus kann man wieder in Ordnung bringen. Lass uns jetzt erst einmal die Kinder von der Schule abholen. Ihr kommt natürlich mit zu uns, und ihr bleibt so lange, bis hier alles wieder hergerichtet ist. Die Kinder bringen wir in Annas Zimmer unter.«
Ich hatte es mir gern gefallen lassen, dass sie mich wie ein kleines Kind an die Hand nahm, war gern in ihren Schoß geflohen. Nach Hause!
Es ist mitten in der Nacht, als das Krankenhaus anruft.
»Frau Brink?«
»Ja?«
»Könnten Sie bitte rasch kommen? Ihr Mann befindet sich in einem sehr kritischen Zustand.«
Kritischer Zustand - denke ich atemlos und werfe einen schnellen Blick auf meine Armbanduhr. Kurz nach vier. Kann ohnehin nicht schlafen. Meine Gedanken fahren Karussell mit mir.
»Ich bin sofort da! Wohin genau muss ich kommen?« Sie beschreibt es mir.
»Heißt das ...? Ich meine, ist es möglich, dass er stirbt?« Ich muss mich nicht bemühen, meiner Stimme etwas von der brüchigen Hysterie zu verleihen, die dem seelischen Zustand einer aufs höchste besorgten Ehefrau angemessen wäre. Meine Nervosität erledigt das ganz von selbst.
»Das können wir im Moment noch nicht sagen. Kommen Sie bitte erst einmal her. Wir haben für den Augenblick getan, was wir konnten. Aber zu diesem Zeitpunkt ist noch alles möglich. Selbst das Schlimmste ...«
»Oh mein Gott! ...«
»Wie Ihnen zumute ist, kann ich mir vorstellen«, sagt die warme
Frauenstimme am anderen Ende.
Nein, meine Liebe, das kannst du nicht!, denke ich.
Nur wenige Wagen stehen in der sparsam beleuchteten Tiefgarage des Klinikums. Ich parke möglichst nah am Aufzug. Unbehagliches Gefühl, hier so allein. Der Aufzug ist zum Glück schon unten, ich muss nicht warten. Ins dritte Stockwerk soll ich kommen, hat sie gesagt, dann gleich links durch die Glastür.
Unpersönlich und kalt, dieser ganze Bau. Aber hypermodern alles. Die Grafiken an den Wänden hätten mich zu einem anderen Zeitpunkt sicher mehr interessiert. Jetzt treibt es mich weiter.
Ich erreiche die Glastür zur INTENSIV-STATION, öffne sie und befinde mich plötzlich in einem Getümmel, das den Rest des Hauses wohl nur tagsüber zu Stoßzeiten bevölkert. Hier scheint es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht zu geben.
»Tschuldigung«, murmelt ein grünbekittelter junger Mann, mit dem ich bei meinen Eintritt zusammengestoßen bin. Mir klopft das Herz bis zum Anschlag!
Eine Schwester hat mich entdeckt und kommt auf mich zu. »Frau Brink?«, fragt sie.
Ich nicke stumm, mir hat es die Sprache verschlagen.
»Würden Sie das bitte anziehen?«
Sie reicht mir einen dieser grünen Kittel.
Ich streife ihn über, verstecke mein Haar unter einem Ding, das aussieht wie eine Badekappe, nehme ihr auch den Mundschutz aus der Hand. Sie hilft mir beim Anlegen.
»So ist es gut«, versucht sie ein freundliches Lächeln, »und nun folgen Sie mir, aber erschrecken Sie bitte nicht.«
Ich bemühe mich, ihrem forschen Schritt zu folgen. Vor einer halb geöffneten Tür am Ende des Flures bleibt sie stehen und lässt mir den Vortritt. Schon vom Vorraum aus sehe ich ihn hinter einer Glasscheibe - umrahmt von medizinischen Messgeräten. Ein Gewirr von Schläuchen und Drähten. Sein rechtes Bein und seine rechte Schulter bis zur Hand eingegipst. Ansonsten nur nackte, verbrannte Haut! Noch immer bekomme ich keinen Ton heraus, starre entsetzt zu ihm hinüber.
»Die Brüche sind nicht das größte Problem«, spricht die Schwester mich leise von der Seite an. »Aber die Verbrennungen und die Rauchvergiftung ... Sein Kreislauf macht uns Sorgen. Er steht ständig kurz vor dem Zusammenbruch. Der Arzt wird gleich hier sein. Er wird Ihnen mehr dazu sagen.«
Wie in Trance gehe ich langsam auf ihn zu. Mein Gott, was habe ich nur getan?, durchfährt es mich plötzlich. Alles ist schief gelaufen. Mit dieser Situation fühle ich mich absolut überfordert. Ich hätte ihn so nicht sehen dürfen. So klein, so schwach, so verletzt und so erbärmlich leidend. Nein, das habe ich mir alles ganz anders vorgestellt.
Ich will kein Mitleid mit ihm haben, das hat er nicht verdient. Aber ich kann mich plötzlich nicht dagegen wehren. Schuldgefühle. All meine kriminelle Energie verpufft, mein Hass verflogen.
Für den Augenblick jedenfalls.