Читать книгу Das Mädchen im Schloss - Ulrike Müller - Страница 6

Kapitel 1

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In welchem wir Amélie kennenlernen, die sich tapfer und phantasievoll dem nicht ganz einfachen Leben einer Prinzessin stellt

Amélie war enttäuscht, ja, und wütend vielleicht auch. Aber es war nicht erlaubt, mit dem Fuß aufzustampfen, es war nicht erlaubt, ein Widerwort zu geben: Noch nicht einmal „Nein, ich kann das nicht essen!“, durfte man sagen, wenn irgendein ganz furchtbares Gericht auf den Tisch kam. So wie die Taube beim Festessen neulich, mit der sie Mitleid gehabt hatte. All das hatte das Mädchen mit seinen sieben Jahren gelernt herunterzuschlucken und dabei zu lächeln. Außerdem schreiben und französisch sprechen – das konnten alle Geschwister eigentlich von Beginn an besser als deutsch, damit waren sie aufgewachsen. Und tanzen, feine Handarbeiten mit unendlich sich verwirrenden Fäden herstellen und immer Geduld üben. Etwa, wenn es ans Frisieren ging, das ewig dauerte, bis die Haare endlich der riesige Turmaufbau waren, den die Mode vorschrieb.

Aber heute war es einfach zu viel gewesen: Amélie durfte nicht mit den Brüdern und Schwestern in das Lustschloss• Salzdahlum fahren. Dort würden sie vielleicht in den wunderbaren Laubengängen• schon längst Verstecken spielen, Hütten bauen und mit den Hunden tollen. Es war einfach gemein. Als Strafe für ein paar ganz kleine Streiche musste sie zu Hause bleiben. Oder war es vielleicht schlimm, Madame Benzin, der Hofmeisterin•, die alles in ihrem Leben und dem ihrer Schwestern bestimmte, heimlich hinter dem Rücken eine Nase zu drehen oder ihr eine Spinne in den Rückenausschnitt ihres Kleids gleiten zu lassen? Oder war es so furchtbar, im Gottesdienst zu lachen, als von Jesus und dem Lahmen die Rede war? Als es hieß, dass Jesus ihn aufforderte, aufzustehen, sein Bett zu nehmen und zu wandeln, hatte sie das überlegt: Wie wäre es gewesen, wenn der Lahme ihr Vater gewesen wäre und das tonnenschwere Prunkbett herumgetragen hätte? Das war doch komisch! Nein, ihre Vergehen waren nicht schlimm, befand sie trotzig. Warum war die Benzin denn auch immer so übel gelaunt?

Außerdem war es immer dasselbe: Abt• Jerusalem, der ihren Unterricht und den der älteren Schwester kontrollierte, ließ keine Gelegenheit aus, Caroline zu loben. Amélie selbst wurde von ihm als „noch wenig gebildet“ bezeichnet. Caroline war neun, aber ein Muster aller Tugenden. Sie war klug, ihr Benehmen war vollkommen und sie war, wie die Eltern betonten, sehr schön. Von ihr selbst war nie die Rede, sie war einfach unwichtig. Warum nur? Sie ahnte es. Nur eines wurde hervorgehoben: Ihr feines Ohr, das es ihr möglich machte, jeden vorgesungenen Ton genau richtig zu treffen.

Amélie, so rief man sie – ihr deutscher Name, Anna Amalia, zierte nur die Geburtsurkunde – beschloss in ihrer Wut und Enttäuschung über den verpassten Ausflug, aber auch überhaupt (!) zu verschwinden. Wenn es an ihr so wenig zu loben gab, dann war sie ja wohl überflüssig! Außerdem hatten die Eltern nun wirklich genug Kinder. Sie hatte zwei ältere Geschwister und fünf jüngere – drei andere Geschwister waren schon früh verstorben. Gerade eben war eine neue Schwester angekommen, Friederike Wilhelmine, und zwei weitere Geschwister würden noch kommen. Kurz und gut: Sie drehte sich auf dem Absatz um. Ihr Ziel: Weg von hier.

Wenig später war sie wirklich, unter dem Vorwand, ein stilles Örtchen besuchen zu müssen, in ein Treppenhaus geschlüpft, das nur die Diener benutzten. Das war streng verboten, denn im Wolfenbütteler Schloss gab es eine riesige Menge von Regeln für alle Menschen, die hier lebten und arbeiteten. Und da war es auch ganz deutlich, wer welche Treppen benutzen durfte, welche Räume aufsuchen konnte oder eben nicht. Gerade Toiletten oder Abtritte, wie sie auch genannt wurden, waren nur für die Bedienten da. Sie selbst und ihre Eltern hatten in ihren Gemächern kleine Kabinette• oder auch Nachtstühle und -töpfe. Dieses dunkle Nebentreppenhaus jedenfalls war ihr und ihren Geschwistern streng verboten. Mit einer kleinen Gänsehaut überlaufen, weil sie ein Verbot übertreten hatte, und einem entsprechend kleinem schlechten Gewissen behaftet, war sie aber dennoch entschlossen nach unten in das Parterre• des Schlosses gelangt. Und nachdem sie durch den dunklen, muffig riechenden Kellergang gehuscht war, entwischte sie durch eine unscheinbare, schwere Holztür aus dem Schloss. Vom Sonnenschein geblendet stand sie nun direkt am Mühlgraben, einem Seitenarm der Oker. Danach klopfte ihr Herz ganz gewaltig, stellte sie fest und wollte schon den Mut verlieren. Aber dann kam die Wut wieder: alle anderen waren in Salzdahlum. Nur sie und die neugeborene Schwester Friederike, die natürlich nicht laufen konnte, hatten zurückbleiben müssen. Nein, sie hatte keine Angst, im Gegenteil: Sie würde allein einen schönen Nachmittag verbringen. Vielleicht würde er sogar viel schöner sein als der, den die Brüder und ihre Schwestern Caroline und Elisabeth in Salzdahlum verbrachten. Oh ja, ihre blauen Augen blitzten unter den langen Wimpern, mit denen sie rasch die einzige Träne zerquetschte, die ihr doch entglitten war. Sie war fest entschlossen, einen sehr schönen Nachmittag zu verbringen! Tief atmete sie ein und machte sich selbst Mut, indem sie das kleine Menuett• trällerte, das Caroline ihr neulich vorgespielt hatte. Sodann begab sie sich auf Schleichwegen durch Gärten der Wolfenbütteler Ackerbürger• zu einem nur ihr bekannten Platz an der Oker, die auch den Schlossgraben speiste und die kleine Stadt insgesamt durchfloss, in der sie zur Welt gekommen war. Schon nach wenigen hundert Schritten war der letzte Garten durchquert. Das freie Land begann, ein weiter Blick bot sich ihr über die frühlingshafte Landschaft. Sie hatte die Oker schon erreicht.

Amélie liebte das Flüsschen, und jetzt war es hier auch ganz besonders lauschig. Sie setzte sich ins Gras, achtete nicht auf ihr hellgelbes Kleid, das ihren Ausflug sicher durch einige Flecken verraten würde. Sie genoss die Wärme und es flossen keine oder allenfalls nur noch ein paar kleine Tränen, die sie rasch mit dem Handrücken abwischte. Kein Taschentuch war zur Hand. Das hätte ihr im Schloss erneut einen Tadel eingebracht, nun sah es aber niemand … Sie seufzte. Wie sollte sie sich später entschuldigen, wenn sie zurückgekehrt war? Man würde sie gewiss wieder bestrafen. Ihr mehrere Seiten zum Abschreiben aufzwingen, was sie hasste. Oder sie schon wieder von einem Vergnügen ausschließen, während ihre Geschwister, sobald sie zurückgekehrt waren, auf den Kostümball gehen durften … Was war das für ein Leben? Und eigentlich war sie, genau wie die musterhafte Caroline, doch eine Prinzessin! Der Abt Jerusalem hatte das gesagt und auch das: „In Ihrem Fürstentum werden alle fürstlichen Kinder, also die Prinzen und Prinzessinnen, Herzog und Herzogin genannt.“ Wie fast alle anderen Menschen um sie herum, ausgenommen der Piper, die ihre Kammerfrau war und sie immer schon an- und ausgezogen und frisiert hatte, hatte er das auf Französisch gesagt. Es galt im Schloss als höchst unfein, deutsch zu sprechen. Das taten die Diener untereinander – und sie gelegentlich heimlich mit der Piper oder auch mit der Tochter der Köchin. Mit dieser zu sprechen, war ihr eigentlich auch nicht erlaubt.

Wenn die anderen, die Kinder der Bäcker und Weber und Bauern, wüssten, was das bedeutete! Tag für Tag. Eigentlich war es nur schrecklich. Sie war zwar immer unter Menschen, aber niemand verstand sie. Eine Freundin zu haben, jemanden, der sie verstehen könnte, der sie auch einmal trösten würde und der ihr nicht nur als Beispiel wie Caroline vorgehalten würde, das wäre schön, träumte sie und vergoss in ihrer Einsamkeit noch einmal ein paar Tränen. Und vielleicht schlief sie auch vor lauter Erschöpfung ein, denn an Schlaf fehlte es den Kindern von Herzog Carl und Herzogin Philippine Charlotte von Braunschweig-Lüneburg-Wolfenbüttel immer: Sie wurden jeden Morgen sehr zeitig geweckt, um sechs Uhr, und kamen eigentlich nicht vor elf Uhr abends ins Bett. Natürlich nicht, ohne vor dem Bett kniend ein letztes Abendgebet zu sprechen. Nur die Geschwister unter vier Jahren durften einen Mittagsschlaf halten. Wie dem auch sei, eine Art Erscheinung riss sie plötzlich aus ihren eher traurigen Überlegungen: Da schlängelte sich doch ein ziemlich großer silbriger Fisch durch die gemächlich dahinfließende Oker. Das war ein ganz kapitaler Fisch, würde ihr großer Bruder Carl Wilhelm Ferdinand sagen. Der war schon dreizehn Jahre alt und ritt und jagte und focht. Aber … das war gar kein Fisch, das war … Und da hob dieses Tier doch seinen Kopf aus den Fluten. Und da hatte der Kopf ein Mädchengesicht und wunderbares, goldengrün schimmerndes Haar. Und da lächelte das Wesen, war jetzt nahe bei ihr, dann mit einem Sprung aus dem Wasser und aalte sich auf einem kleinen Felsvorsprung.

Amélie wollte ihren Augen nicht trauen, wollte davonrennen, schreien … aber das Wesen lächelte lieblich.

Und Amélie, die eigentlich ein mutiges kleines Mädchen war, fasste sich und sagte einfach nur: „Bonjour, Mademoiselle.“ Das heißt: „Guten Tag, junges Mädchen.“ Und das Wesen lachte und schüttelte seine nasse Haarmähne, dass die Tropfen wie glitzernde Perlen herumstoben und auch Amélie benetzten.

Verblüffung zu zeigen war unfein, das hatte sie auch schon gelernt! Auf keinen Fall durfte man sich beeindruckt zeigen, wenn der Anblick, den jemand bot, auch noch so seltsam war: Weder unmäßig dicke Menschen, noch Einäugige, Hinkende oder andere Bedauernswerte sollten angestarrt werden, sagte die schreckliche Madame Benzin immer. Die war die Frau eines Pastors und musste so etwas wissen. Und außerdem war dieses Wesen da eigentlich sehr schön, und richtig: Der lange schuppige Schwanz des Wassermädchens war das Zeichen dafür, dass sie einer Nixe begegnet war! Einem richtigen Märchenwesen. Sie hatte also recht und Caroline unrecht. Die sagte, es gäbe keine Zwerge, Hexen, Kobolde und Zauberer. Möglich. Nixen gab es jedenfalls, denn das Wesen hier war eine Nixe! Amélie beschloss, das Abenteuer zu genießen und fragte sie nach ihrem Namen. Da hörte sie einen ganz ausnehmend schönen, wie ihr schien: Amalunde hieß die Okernixe mit der Perlenstimme. Sie sprach kein Französisch, das hätte Madame Benzin als Grund genügt, das Gespräch gar nicht erst aufzunehmen, aber Amélie machte das nichts aus. Sie hatte sofort Vertrauen zu dem wunderschönen Wesen mit der guten Laune. Daher erzählte sie ihr alles: das von dem verbotenen Ausflug, von der Gemeinheit wegen Madame Benzin, von den ewigen Verhaltensmaßregeln und von allen Versuchen der anderen, ihr jede Freude, jedes bisschen Spaß zu vergällen. Erneut kamen ihr vor Wut ein paar Tränen. Da rollte Amalunde ihre grünen Augen und fasste mit ihrer kleinen, nassen Hand an Amélies Wange, fühlte die Träne an und fragte: „Was ist denn das?“ Amélie schämte sich: Das ging doch wirklich nicht. Eine fremde Person zu treffen, ihr alles Mögliche zu erzählen und dann noch – zu weinen. Und von der Person berührt zu werden! Sie fasste sich: „Ach das, das ist … gar nichts, das ist Wasser, du hast mich nass gespritzt.“ Da lachte Amalunde und peitschte ihren langen Fischschwanz lustig durch das Wasser, sodass Amélies Ärmel ganz nass wurden und sie auch zu lachen anfing.

Die Nixe gab übrigens vortreffliche Ratschläge, fand sie. Sie sagte beispielsweise: „Singe einfach in Dir ein Lied, und Du wirst sehen, wie gut es Dir dann geht.“ Dies schien ihr ein hervorragender Rat zu sein, und die Zeit mit der Gutgelaunten verging wie im Fluge. Als diese mit dem Fischschwanz noch einmal peitschte und dann ganz plötzlich zurück ins Wasser glitt und winkte, schien es Amélie, als seien erst wenige Minuten vergangen.


In Wahrheit aber wurde es schon fast dunkel. Amélie hörte noch ein seltsames Liedchen, das Amalunde wohl trällerte, während sie durch die Oker glitt. Jetzt hastete unsere kleine Prinzessin zum Schloss, weil ihr einfiel, dass man sie dort wahrscheinlich lange schon vermisste.

Das Lied hörte sie von nun an öfter, denn jede Gelegenheit nahm sie wahr, die neue Freundin – das wurde Amalunde nämlich für Amélie – zu treffen. Sie achtete der Strafen wenig, die sie für ihr Ausbleiben bei einer Tanzstunde oder dem Handarbeitszirkel der adligen Mädchen aus Wolfenbüttel und den benachbarten Rittergütern erhielt. Sie meinte, Amalunde war genau das, was sie sich gewünscht hatte: Ihre Freundin – ein Wesen, das immer heiter war, das nicht an gestern und an morgen dachte, sich nicht fürchtete und nie zornig war, das in der Gegenwart genoss und nicht, wie der Hofprediger es verlangte, sein Gewissen durchforstete nach irgendwelchen Sünden von gestern und vorgestern. Amélie wurde bei jedem Treffen von einer so feinen Heiterkeit getragen, und das Lied der Nixe summte sie bald immer vor sich her. Es hatte auch einen Text, und der wurde so etwas wie ein Wahlspruch für Amélie, die den Sinn am Anfang nur unvollkommen verstand:

Hör auf die Wellen, hör auf die Felder,

Trau dem Licht und der Schatten weicht.

Tritt in den Kreis der großen Natur.

Lache und wieg‘ dich im Wind,

Lache und wieg‘ dich im Wind.

Schau auf die Menschen, schau ihre Welt,

Sei eine Freundin dem guten Geist.

Sei ein Gedanke, der himmelwärts reicht.

Lache und wieg‘ dich im Wind,

Lache und wieg‘ dich im Wind.

Übrigens: Von ihrem heimlichen Ausflug hatte niemand im Schloss etwas mitbekommen, fast alle waren ja in Salzdahlum gewesen und spät zurückgekommen.

Und so war dieser Tag, der schlecht begonnen hatte, ein richtiger Glückstag für sie geworden, fand Amélie, als sie abends im Bett lag. Und sie träumte von einer Nixe mit goldengrünen Haaren.

Das Mädchen im Schloss

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