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1. WER WAREN DIE GERMANEN? MYTHOS UND WIRKLICHKEIT Wer waren die Germanen? Germanenbilder
Оглавление»Grimmige blaue Augen, rotblonde Haare, große Körper« – dieses Germanenbild des römischen Geschichtsschreibers Tacitus ist nicht nur eines der ersten, sondern auch dasjenige, das unsere Vorstellung von den Germanen bis heute geprägt hat –, wie im Folgenden noch aufzuzeigen ist.
Wer waren die Germanen? Eine Frage mit vielen Antworten. Ähnlich wie man mit dem Begriff Indianer die Einwohner zweier Kontinente und der unterschiedlichsten Kulturen von den Sammlern und Jägern bis hin zu Hochkulturen weitläufig zusammenfasst, so verwendete man auch den Begriff Germanen ungenau-schwammig und inflationär. Während aber die Indianer sich selbst auch als solche bezeichnen, hat es im Unterschied dazu ein Volk, das sich selbst als »Germanen« bezeichnete, nie gegeben. »Germanen« war eine Fremdbezeichnung und blieb es: Die Römer waren es, die den »barbarischen« Völkern jenseits des Rheins den Namen Germanen gaben. Als Barbaren (von griech. barbaros = Stammler) galten bei den Griechen und Römern alle Völker, die nicht Griechisch bzw. Lateinisch sprachen und nicht der griechischen bzw. römischen Kultur angehörten. Von Beginn an bis in die Gegenwart ist die Einordnung bestimmter Stämme als germanisch, keltisch, slawisch etc. nie eindeutig klar gewesen, sondern immer mit einem Fragezeichen zu versehen. Die Wissenschaft ist auf die »Fremdzeugnisse« der römischen Geschichtsschreiber angewiesen, es gibt keine eigenen schriftlichen Berichte der Germanen. Auch die archäologischen Zeugnisse geben relativ wenig Antworten auf unsere Fragen. Zur Zeit der Völkerwanderung (375–568) haben wir bereits mehr Quellen, aber auch hier gibt es mehr Fragen als Antworten. Dazu kommt, dass der Begriff »Germanen« von Beginn an bis zur Gegenwart oft mit ideologischen Ansichten und Zielen verbunden wurde und nach wie vor wird.
Schon bei den allerersten Beschreibungen der Germanen von Caesar und Tacitus diente ein bestimmtes Germanenbild als Projektionsfläche, um diverse Ziele zu erreichen: Caesar verfolgte mit seiner Einteilung der linksrheinischen Kelten und rechtsrheinischen Germanen seine politischen Ziele und Karriere, nicht zuletzt die Eroberung Galliens. Tacitus versuchte mit einem idealisierten Germanenbild vor allem die Dekadenz der römischen Gesellschaft zu kritisieren. Im nationalstaatlichen Denken des 18. und 19. Jh. und vor allem im Nationalsozialismus dienten die Germanen als Schablone für die Entwicklung einer nationalen Identität der Deutschen, die man mit den Germanen gleichsetzte.
Dazu kommt ein anderes Problem, nämlich das der Entwicklung und Veränderung der germanischen Stämme im Laufe der Geschichte. Die einzelnen germanischen Stämme haben sich während ihrer Wanderungen und in ihrer jeweiligen neuen Heimat verändert, sind mit anderen germanischen und nichtgermanischen Stämmen Bündnisse eingegangen, haben sich durch Heiraten vermischt etc. So ist beispielsweise zu fragen, ob und inwiefern die Goten, die von ihrer ursprünglichen Heimat im heutigen Polen aufbrachen und ihre Wanderung begannen, im Oströmischen Reich öfter ihren Aufenthaltsort wechselten, noch »dieselben« Goten waren, die dann, Jahrhunderte später, das Ostgotische und Westgotische Reich in Italien und Spanien errichteten. Auch die Wissenschaft betont heute, dass sich germanische Stämme wie die Goten durch die »fremden« Einflüsse veränderten. Denn die Goten hatten sich im Laufe der Geschichte mit verschiedenen Stämmen und Völkern verbunden wie z. B. den Karpen, den Herulern, den Hunnen und nicht zuletzt den Römern. So schloss sich ein Teil der Greutungen bzw. Ostgoten den Hunnen an und übernahm deren Lebensweise als nomadisches Steppenvolk. Nicht zuletzt römische Einflüsse spielten eine maßgebliche Rolle in der geschichtlichen Veränderung der germanischen Stämme.
Zur näheren Erläuterung sei kurz auf die Entstehung ethnischer Identität eingegangen: Der Begriff Ethnie, der heute statt des vorbelasteten Begriffes »Volk« verwendet wird, ist ein taxonomischer Begriff, d. h. ein Begriff, der der Klassifizierung dient. Ethnische Identität ist eine Form der kollektiven Identität, eines Wir-Bewusstseins, aufgrund gemeinsamer Traditionen wie z. B. Abstammung, Geschichte, Sprache, Religion, Lebensraum etc. Ob diese Traditionen real oder fiktiv sind, ist nicht entscheidend, entscheidend ist das Wir-Bewusstsein, das Zugehörigkeitsgefühl der einzelnen Person zur Gruppe. Die ethnische Gruppe entsteht und stabilisiert sich durch Abgrenzung von anderen Gruppen und Interaktion mit anderen Gruppen. Ethnische Identität ist kein statischer Zustand, sondern ein dynamisch-kreativer Prozess mit latenten und – in Krisenzeiten, wie z. B. Krieg oder Eroberung – aktiven Phasen. Und es sind nicht objektive Kriterien, sondern in der Regel allein soziale Faktoren ausschlaggebend, so vor allem die eigene Zuordnung zu einer Gruppe A, auch wenn die objektiven Kriterien für eine Zuordnung zu Gruppe B sprechen. Wie sich »Völker« und Gesellschaften ändern, können wir auch in unserer sogenannten multikulturellen Gesellschaft beobachten. Ein modernes Beispiel: Ein Sohn deutsch-türkischer Eltern, in Deutschland geboren und aufgewachsen, ist als Türke anzusehen, wenn er sich selbst als solcher »fühlt« und von der Umwelt als solcher eingestuft wird, auch wenn er überhaupt nicht türkisch spricht. Umgekehrt kann er sich aber auch ganz als Deutscher fühlen, als solcher von der Umwelt gesehen und akzeptiert werden, und ist dann in diesem Fall auch als Deutscher einzuordnen. Dieses Beispiel zeigt gleichzeitig die Schwierigkeit, selbst in der Gegenwart, eine Gruppe als Ethnie genau ein- und abzugrenzen. Auch im Falle von Wulfila, Geiserich oder Theoderich war jeweils ein Elternteil nichtgermanischer Herkunft. Sie selbst sahen sich aber als zu den Goten bzw. Vandalen gehörig und wurden von außen auch als solche eingeordnet.
Zurück zu den ersten Quellen über die Germanen. Die Herkunft und die Bedeutung der Bezeichnung »Germanen« ist nicht geklärt. Poseidonios (135–51 v. Chr.) verwendet erstmals die Bezeichnung »Germanen« in seinen sogenannten Historien (um 80 v. Chr.) für die am Rhein lebenden und den Kelten verwandten Stämme. Auch Strabon (63 v. Chr. – 33 n. Chr.) betont die Verwandtschaft zwischen Germanen und Kelten. Aber erst Caesar machte die Bezeichnung populär und unterschied klar zwischen den Germanen als rechtsrheinische und den Kelten als linksrheinische Stämme. Überspitzt kann man sagen, dass Caesar es war, der die Germanen »erfand«. Denn Caesars Unterscheidung zwischen Germanen und Kelten ist so nicht korrekt, weil auf beiden Rheinseiten sowohl Germanen als auch Kelten lebten. Caesar verfolgte mit seiner Einteilung ein bestimmtes Ziel – nämlich die Eroberung Galliens, das links des Rheines lag.
Gaius Julius Caesar (100–44 v. Chr.) machte eine Karriere in römischen Staatsdiensten, wurde Prokonsul in Illyrien und Gallien. Während des Gallischen Krieges 58–51 v. Chr. gelang es ihm, das bis dahin freie Gallien zu erobern und zur römischen Provinz zu machen. Im Römischen Bürgerkrieg 49–45 setzte sich Caesar erfolgreich gegen seinen Konkurrenten Pompeius durch und wurde Diktator auf Lebenszeit. Als Caesar 44 einem Attentat seiner politischen Gegner zum Opfer fiel, führte sein Nachfolger und Neffe Gaius Octavius das Kaisertum in Rom ein und nannte sich Kaiser Augustus. Über den Gallischen Krieg, den Caesar führte, schrieb er einen Bericht: »Der Gallische Krieg« (Commentarii de Bello Gallico). Gerade Caesar gilt als Paradebeispiel für die tendenziöse Geschichtsschreibung, denn er schrieb den »Gallischen Krieg«, um seinen Feldzug nach Gallien politisch zu rechtfertigen und um damit finanzielle und berufliche Erfolge zu erlangen. (Vgl. Kap. Ariovist)
Eine andere Hauptquelle zu den Germanen ist neben Caesars »Der Gallische Krieg« die »Germania« von Tacitus. Publius Cornelius Tacitus (58–120) machte wie Caesar schon früh Karriere im römischen Staatsdienst. Er war Senator, unter anderem auch Militärtribun und Prokonsul in der Provinz Asia (heute Türkei). Aber unsterblichen Ruhm erwarb sich Tacitus als Historiker vor allem mit den Werken »Agricola«, »Historien«, »Germania« und den »Annalen«. »Agricola« ist eine Biografie seines Schwiegervaters, dem Konsul Gnaeus Julius Agricola, die wertvolle Informationen über Britannien zur Römerzeit enthält. In den nur zum Teil erhaltenen »Historien« stellte Tacitus die Geschichte des Römischen Reiches von Galba im Jahr 69 bis Domitian im Jahr 96 dar. In den nur zur Hälfte erhaltenen »Annalen« stellt er die Geschichte des Römischen Reiches von Augustus bis Nero im Jahr 68 dar. Die »Germania« (De origine et situ Germanorum liber) ist eine Beschreibung der Germanen, in der Tacitus auf die Geschichte, Kultur und Lebensweise und die einzelnen Stämme eingeht. Seine Quellen sind neben der eigenen Anschauung unter anderem Schriften aus staatlichen oder privaten Archiven, Augenzeugenberichte und historische Werke, vor allem die nicht mehr erhaltenen »Germanenkriege« von Plinius dem Älteren.
»Ohne Zorn und Eifer« (= sine ira et studio) oder »über niemanden mit Zuneigung und von jedem ohne Hass« (= neque amore quisquam et sine odio) sprechen – diese Sätze stellte Tacitus seinen Annalen bzw. den Historien voran, gemeint ist damit eher die abschließende Beurteilung der Sache als die Darstellung selbst. Es sind die Sätze eines exzellenten Rhetorikers und eines Schreibers von hoher stilistischer Qualität, dem es gelingt, die Personen und Ereignisse scheinbar objektiv darzustellen, aber dem Leser durchaus subtil seine Sicht der Dinge zu vermitteln. Vor allem mit der »Germania« verfolgte Tacitus das Ziel, die Dekadenz, den Sittenverfall der römischen Gesellschaft in der Kaiserzeit zu kritisieren und diese Kritik mit einer Darstellung der Germanen sozusagen als positives Gegenbild zu veranschaulichen: Bei seinem Vergleich zwischen Germanen und Römern schneiden die Germanen besser ab. Tacitus schreibt den Germanen die Tugenden zu, die er bei den Römern vermisst, und fordert sie damit indirekt zu einer Rückkehr zu diesen Tugenden auf. Aber Tacitus versuchte mit der »Germania« auch zu erklären, warum die Römer die Germanen nicht vollständig unterworfen hatten so wie die Gallier oder Britannier. Zudem muss man generell bei den antiken Schriften, auch wenn sie sich als »Historie« ausgeben, immer berücksichtigen, dass es sich nicht um objektiv-wissenschaftliche Beschreibungen handelt. Neben Klischees betonen die antiken Autoren gerne das Ungewöhnliche, Fremde und Exotische.
Hatten die Werke Tacitus’ in der Antike keine große Breitenwirkung und wurden sie im Mittelalter sogar vergessen, feierten die »Germania« und die »Annalen« seit der Wiederentdeckung im Humanismus bis zur Gegenwart eine Renaissance von nicht zu unterschätzendem Ausmaß. Bis heute, vor allem aber im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, übernahm man in selektiver, auswählender Weise die Verherrlichung der starken, reinrassigen, freiheitsliebenden und treuen Germanen von Tacitus, die von ihm erwähnten negativen Eigenschaften der Germanen ignorierte man. Die von Tacitus beschriebenen Germanen und ihre Geschichte wurden dabei als erste Phase der Geschichte der modernen Deutschen gesehen und mit ihnen fälschlicherweise gleichgesetzt. »Rein von fremder Vermischung (…) lebt in den Ländern jenseits des Rheins ein Volk mit trotzigen blauen Augen, hochgelben Haaren, von starkem Körperbau und riesenhaftem Wuchs, abgehärtet gegen Kälte und Hunger, nicht gegen Durst und Hitze, von kriegerischem Geist, bieder, treu, freundlich (…).« Dieses Zitat stammt nicht etwa von Tacitus, sondern aus dem Brockhaus von 1834 und belegt, wie verbreitet das Germanenbild des Tacitus in der deutschen Öffentlichkeit war. Überspitzt kann man sagen, das Germanenbild der Deutschen war das von Tacitus.
Bei Tacitus heißt es: »Die Germanen selbst sind (…) in keiner Weise durch Zuzug oder Gastfreundschaft mit anderen Völkern vermischt worden (…)« (Tacitus, Germania 2) Weiter glaubt Tacitus, dass die Germanen »ein eigenes und reines und nur sich selbst ähnliches Volk darstellen. Daher ist auch die Körpergestalt trotz der großen Zahl von Menschen bei allen dieselbe: grimmige blaue Augen, rotblonde Haare, große Körper, die jedoch nur zum Angriff geeignet sind. Für Mühe und Anstrengung besitzen sie nicht dieselbe Geduld, am wenigsten ertragen sie Durst und Hitze, an Kälte und Hunger dagegen haben sie sich durch das Klima und die Bodenbeschaffenheit gewöhnt.« (Tacitus, Germania 4)
Das Germanenbild des Tacitus diente den Deutschen zunächst politisch – vor allem in Abgrenzung zu den Franzosen – zur Entwicklung einer nationalen Identität. Diese »germanische« Identität wurde später durch rassenkundliche und sozialdarwinistische Theorien in pseudowissenschaftlicher Weise untermauert. Bei den Nationalsozialisten genoss Tacitus so große Verehrung, dass sie ihn zum Arier erklärten. Die »Germania« des Tacitus stand so hoch im Kurs, dass die Nationalsozialisten die älteste Abschrift von diesem Werk, den Codex Aesinas, von Italien nach Berlin holen wollten. Als Mussolini seine Zusage, den Codex an die Deutschen zu übergeben, nicht einhielt, befahl der SS-Führer Heinrich Himmler einer SS-Gruppe, in den Palazzo der Familie Balleani einzudringen und den Codex nach Berlin zu bringen. Allerdings erfolglos, denn die Balleanis konnten den Codex rechtzeitig woanders verstecken.
Außer Caesar und Tacitus sind als weitere antike Autoren, in deren Werken sich Informationen über die Germanen finden, unter anderem Appian (Römische Geschichte), Strabon (Geographie), Plinius der Ältere (Germanische Kriege, verloren gegangen) oder Ammianus Marcellinus (Res Gestae) zu erwähnen.
Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über Geschichte und Kultur der Germanen gegeben, der den Schwerpunkt auf die römische Zeit legt. Zu weiteren Informationen siehe auch die Exkurse, die einigen Kapiteln vorausgehen (Goten, Arianismus, Franken, Sachsen und Sachsenkriege, Wikinger).