Читать книгу Nachtmahr – Das Vermächtnis der Königin - Ulrike Schweikert - Страница 10
Kapitel 3 FLUCHT
ОглавлениеAls sich die Sonne dem Horizont näherte, machte sich Lorena wieder zum Labyrinth auf. Sie hätte sich gern ihr Ledergewand angezogen, doch sie fürchtete, auf eine der Guardians zu treffen und unangenehmen Fragen ausgesetzt zu werden. Also trug sie Jeans und Turnschuhe und ein helles Shirt. Morla hatte Chloe und Harriet in dieser Nacht eingeteilt, den Park zu bewachen. Ihre Schwerter in den Händen umrundeten sie das Haus in einigem Abstand. Als sie um die Ecke bogen und ihrer Sicht entschwanden, machte sich Lorena auf den Weg über die Terrasse.
Sie gelangte ungestört zum Mittelpunkt des Labyrinths und ging dann hin und her, bis sie die Nähe der beiden anderen Nachtmahre hinter sich spüren konnte. Erwartungsvoll wandte sich Lorena um.
»Majestät, hier das von Euch Gewünschte«, sagte Raika mit einem Kichern, als sie mit drei Übungsschwertern im Zentrum des Heckenlabyrinths auftauchte. »Was hast du vor? Hier riecht es nach Widerstand, also irgendetwas Verbotenes.«
»Noch nicht«, entgegnete Lorena und nahm ihr eines der Schwerter ab. »Oder zumindest noch nichts Bemerkenswertes.«
Raika strahlte. »Habe ich da ein ganz entscheidendes Wörtchen gehört, das meinen Sinn frohlocken lässt?«
Sie wandte sich an Lucy, doch die lächelte nur geheimnisvoll und zuckte mit den Schultern.
»Ah, so ist das. Ich bin die Einzige, die nicht eingeweiht wird«, beschwerte sich Raika.
»Noch nicht«, gab Lorena zu. »Ich möchte erst etwas ausprobieren.«
»Und dazu brauchst du ein paar Schwerter und einen Ort ohne Augen«, schlussfolgerte Raika.
»Genau. Ich hoffe, du hast mit dem Schwert fleißig trainiert?«, wollte Lorena wissen.
»Aber ja, Maestra. Tagsüber drei Stunden und nach Einbruch der Dunkelheit noch einmal, wobei der Kampf in unserer gewandelten Gestalt deutlich spannender ist. Es ist alles schneller und härter.«
»Ja, ich habe gesehen, wie dich Sienna bei unserer letzten Stunde durch den Saal gejagt hat. Sie war irrsinnig schnell!«
Lorena sah ihre Schwester an. »Du hast auch mit dem Schwert trainiert?«
»Klar!« Lucy nickte, dass ihre blonden Locken flogen. »Was soll man hier denn sonst den ganzen Tag machen?«
»Gut!«, sagte Lorena und trat mit erhobener Klinge einige Schritte zurück. Sie hatte sich zum Nachtmahr gewandelt und band nun ihre langen Locken zurück.
»Nehmt euch ein Schwert und greift mich an.«
»Beide?«, fragte Lucy ein wenig ungläubig.
»Ja! Wandelt euch, und dann zeigt mir, was ihr draufhabt.«
Obgleich Lucy und Raika ihrer Aufforderung folgten und ihre Nachtmahrgestalt annahmen, wehrte Lorena die ersten Angriffe mit Leichtigkeit ab. Sie hatte das Gefühl, die beiden würden sie absichtlich schonen.
»Könnt ihr nicht mehr? Ich bin enttäuscht. Ihr seid langsam wie zwei Großmütterchen.«
»Du bist schwanger«, erinnerte Raika.
»Ja und?«, entgegnete Lorena und schlug Raika das Schwert aus den Händen, dass es einige Meter durch die Luft flog und dann bis zu der dunkelgrün aufragenden Hecke schlitterte.
Das schien die beiden Angreiferinnen zu überzeugen. Sie legten sich ins Zeug und versuchten alle Tricks, die Sienna ihnen beigebracht hatte, doch Lorena hielt sie mühelos in Schach und entwaffnete beide noch einmal. Während Lucy und Raika ihre Waffen holten, legte auch Lorena ihr Schwert beiseite.
»Wir versuchen etwas anderes«, sagte sie und zog ein Tuch aus der Tasche.
»Hast du noch immer nicht genug?«, fragte Raika.
»Nein! Jetzt geht es erst richtig los!«
Schnell hatte die Nacht die Dämmerung abgelöst. Unter dem Pavillon begannen einige Lämpchen zu glühen, die den Platz in sanftes Licht tauchten. Es war jedenfalls für einen Nachtmahr hell genug, jedes Detail zu erkennen.
Lorena band sich das Tuch um die Augen und nahm dann ihr Schwert wieder auf.
»Kommt, los, wo bleibt euer nächster Angriff?«
»Du bist verrückt geworden!«, wehrte Lucy ab. »Gehört das zu den üblichen Nebenwirkungen einer Schwangerschaft?«
»Keine Ahnung«, sagte Raika. »Davon habe ich noch nie gehört.«
»Los, kommt schon! Vertraut mir. Ich werde euch schlagen.«
»Wenn du unbedingt willst!« Raika griff als Erste an. Lorena wartete. Obwohl jeder Nachtmahr sich nahezu unhörbar bewegte, konnte sie ihre Schritte vor ihrem inneren Auge sehen. Es war, als würde sie über einen neuen Sinn verfügen, der in ihrem Geist die Bilder erzeugte, die sie mit den Augen nicht sehen konnte. Und noch mehr. Bereits als Raika das Schwert hob, wusste sie, welchen Angriff sie wählen und in welchem Winkel die Klinge auf sie eindringen würde. Lorena spannte ihre Muskeln an und schlug mit einem schnellen Schwung Raika das Schwert aus der Hand.
»Wo bleibst du, Lucy?«, rief sie über Raikas Ausruf der Verwunderung hinweg, doch Lucy wartete, bis Raika ihre Waffe wieder aufgehoben hatte. Nun griffen sie Lorena zusammen an, doch auch jetzt wusste sie, was kommen würde, und spürte, welche der Klingen sie zuerst abwenden musste. Sie schlug Lucys Schwert zur Seite und tauchte unter Raikas Klinge hinweg. Die flache Seite von Lorenas Schwert traf Raika hart in den Rücken, sodass sie strauchelte.
Hatten die beiden Lorena bisher noch geschont, so versuchten sie nun alles, um ihre Deckung zu durchbrechen, doch es wollte ihnen nicht gelingen. Endlich blieben sie schwer atmend stehen. Lorena löste die Binde von den Augen.
»Das ist unglaublich!«, stieß Lucy hervor.
»Das sehe ich auch so!«, erklang eine vorwurfsvolle Stimme zwischen den Hecken. »Wie könnt ihr nur?«
Die drei stöhnten, als Sienna auf sie zutrat. Sie trug noch ihre Lederkluft, die sie beim Training stets anhatte, hatte aber kein Schwert bei sich.
»Mylady wird das nicht gutheißen«, sagte sie.
»Ich langweile mich zu Tode«, beschwerte sich Lorena,
»und außerdem könnte ihr jeder Mediziner sagen, dass ein wenig Sport in der Schwangerschaft durchaus gesund ist, doch so, wie es aussieht, werde ich bis zur Geburt nicht einen Arzt zu Gesicht bekommen.«
Lorena las in Siennas nachdenklicher Miene. Sie konnte ihre Gefühle und Gedanken geradezu spüren.
»Mylady will für dich und das Kind nur das Beste«, sagte sie halbherzig.
»Das mag sein, doch ist es das auch?«, konterte Lorena.
Sienna überlegte. Lorena war sich rasch sicher, dass sie nicht fürchten mussten, von ihr verpetzt zu werden. Sienna ging auf das Schwert zu, das Lucy hatte fallen lassen, und sagte: »So, du denkst, du solltest für deine Gesundheit ein wenig Sport treiben? Warum gibst du dich dann mit diesen beiden Anfängern ab? Willst du schwitzen? Na, dann komm!«
Sie stürzte vor, vielleicht in der Absicht, Lorena zu überraschen, doch diese parierte den Schlag, wirbelte herum und griff nun ihrerseits Sienna an.
Sienna war vielleicht die jüngste der Guardiantrainerinnen, doch ihre Kampfkunst war tadellos. Sie war schnell und geschmeidig in ihren Bewegungen, hatte ein gutes Auge und war in der Lage, das Schwert präzise zu führen. Eigentlich hätte sie Lorena deutlich überlegen sein müssen, doch Lorena hielt sich nahezu mühelos. Es war, als würde dieser neue Sinn in ihr jede Absicht im Voraus erkennen. Sienna gelang es nicht, Lorena mit einer ihrer Finten zu locken. Dafür brachte Lorena die Guardian zweimal in Bedrängnis.
Sienna entfaltete ihre Schwingen. Lorena tat es ihr gleich. Sie stießen sich ab und kämpften nun auf der Erde und in der Luft, schossen am grünen Dickicht der Hecken entlang oder tänzelten über das Dach des Pavillons. Endlich ließ Sienna das Schwert sinken. Sie blinzelte.
»Also, wenn ich dich nicht selbst unterrichtet hätte, würde ich dich fragen, wo du so kämpfen gelernt hast. Es ist unglaublich! Ich denke, du könntest es selbst mit Maddison aufnehmen. Es ist mir unerklärlich, aber gut, ich beglückwünsche dich. Es steckt viel mehr in dir, als wir vielleicht vermutet haben.«
Lorena verbeugte sich und reichte Sienna ihr Schwert. »Ich danke dir. Vielleicht wäre es besser, diese Lektion für uns zu behalten?«
Sienna lächelte ein wenig grimmig. »Ja, das denke ich auch. Ich habe nicht vor, mir Morlas Unwillen und damit den der Lady zuzuziehen.«
Sie nahm auch noch das dritte Schwert und machte sich dann auf den Rückweg zum Herrenhaus. Lorena ließ sich auf die Bank unter dem Pavillon sinken. Lucy und Raika, die während des wilden Kampfes in einen der Heckengänge zurückgewichen waren, traten wieder auf sie zu.
»Willst du es uns erklären?«, erkundigte sich Raika.
Lorena hob die Hände. »Das kann ich nicht. Ich musste es selbst erst probieren. In meinen Träumen sah ich meine Kräfte wachsen, doch ich wusste nicht, ob ich ihnen trauen kann.«
»Und woher kommt das?«, wollte Lucy wissen. »So hast du vor ein paar Monaten in Amerika noch nicht gekämpft.«
Lorena schüttelte den Kopf. »Nein, das ist richtig. Ich kann es euch nicht erklären. Ich kann nur Vermutungen anstellen. Es ist, als wäre irgendetwas geschehen, das mich erweckt hat. Ich bin die Eclipse, nicht wahr? Sollte ich wirklich nur als Mutter der ersehnten Retterin taugen? Das kann ich nicht glauben. Ich wollte, dass mehr in mir steckt, als ein Kind gebären zu können.«
»Es steckt mehr in dir«, bestätigte Raika, »definitiv!«
»Oder es ist die Kraft des Kindes«, wandte Lucy ein. »Vielleicht überträgt das Kind dir schon jetzt einen Teil seiner Magie.«
»Mag sein«, gab Lorena widerstrebend zu, »aber ganz gleich, woher meine neuen Kräfte kommen, ich bin nicht wehrlos! Ich bin in der Lage, mein Kind zu schützen, und bin deshalb nicht auf die Magie der Lady und den Schutzwall von Gryphon Manor angewiesen.«
Raika und Lucy starrten sie an. »Daher weht der Wind!« Lucy stieß einen Pfiff aus. »Und ich dachte, dein Gerede von ›du würdest dich hier nicht einsperren lassen‹ habe nichts zu bedeuten.«
»Ich wusste nicht, wie wir unbemerkt von hier fortkommen könnten«, gestand Lorena. »Und außerdem will ich natürlich weder unser noch das Leben des Kindes leichtfertig aufs Spiel setzen. Aber ich werde mir auch nicht einfach mein Kind wegnehmen lassen!«
»Und deshalb wolltest du wissen, wie wir hier nachts unbemerkt über die Mauer kommen«, ergänzte Raika. Ihre Augen funkelten voller Abenteuerlust. »Endlich tut sich was!«, rief sie begeistert. »Ich wollte schon vor Wochen weg, aber wir haben es nicht übers Herz gebracht, dich einfach hier in deinem Elend zurückzulassen.«
»Du hast dich verändert«, sagte Lorena warmherzig zu Raika, doch diese hob nur nachlässig die Schultern.
»Wir sind Freundinnen, nicht wahr? Und wir geben unser Leben füreinander.«
Lorena lächelte. »Hörst du dich reden? Was hättest du vor einem Jahr zu solchen Worten gesagt?«
»Verrückte! So etwas sagen nur Verrückte«, bekannte sie und lachte auf.
»Hört mit dem Gesülze auf«, mischte sich Lucy ein. »Sagt lieber, wann es losgeht. Heute noch?«
Lorena schüttelte den Kopf. »Nein. Wir müssen uns erst überlegen, wie wir von hier wegkommen. Wir können nicht zu dritt auf deinem Motorrad fahren.«
»Wir sind Nachtmahre«, erinnerte Lucy. »Wir können fliegen!«
»Ja, aber nur nachts. Wenn wir das Land verlassen, und das müssen wir, dann sollten wir das schnell tun. Ich bin dafür, einen Wagen zu mieten, allerdings habe ich kein Geld.«
Raika seufzte. »Unsere rechtschaffene Lorena. Überlass das mir. Ich besorge einen Wagen, der dich nicht enttäuschen wird.«
Am nächsten Morgen öffnete sich kurz vor dem Morgengrauen die Tür zu Lorenas Schlafzimmer. Sie war sofort hellwach, als Raika hereinkam und an ihr Bett trat. Sie trug ihr übliches Ausgehoutfit und war noch in ihrer Gestalt als Nachtmahr.
Lorena spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. »Und, hast du ein Auto für uns?«, erkundigte sie sich leise.
Raika grinste. »Natürlich! Hast du etwa an mir gezweifelt? Es ist zwar leider nicht der Wagen, den ich im Auge hatte, aber ich denke, er wird dir gefallen. Lucy zumindest ist begeistert.«
»Dann ist er bestimmt viel zu auffällig«, vermutete Lorena, die sich ein schlichtes, unauffälliges Gefährt vorgestellt hatte, das nicht so leicht aufzuspüren war.
Raika zuckte mit den Schultern. »Er ist schnell!«, betonte sie. »Ich dachte, das sei uns wichtig. Ach ja, und der Kofferraum ist nicht allzu groß, also nimm nicht zu viel Gepäck mit.«
»Das habe ich nicht vor. Nur das Allernötigste.«
»Ich denke, wir sollten uns um ein Uhr im Irrgarten treffen und dann zusammen zu der Stelle gehen, an der man über die Mauer kommt«, schlug Lorena vor. »Den Tag über müssen wir uns ganz normal verhalten, damit keiner Verdacht schöpft.«
Raika verdrehte die Augen. »Was denkst du, was ich vorhabe? Dein Vertrauen in mich ist ja wieder umwerfend.«
Lorena schnitt eine Grimasse. »So war es nicht gemeint. Tut mir leid. Ich bin einfach ein wenig nervös. Ich habe keine Lust, von den Guardians eingefangen und zu Mylady geschleppt zu werden. Ich vermute, wenn das passiert, dann sperren sie uns für die nächsten Monate irgendwo im Keller ein und nehmen mir das Kind sofort nach der Geburt weg. Ich will einfach nichts riskieren.«
Raikas Blick wurde milder. Sie tätschelte Lorenas Hand. »Keine Sorge. Das kriegen wir schon hin.«
Da war sie in ihrer Einschätzung zuversichtlicher, als sich Lorena fühlte. Äußerlich völlig unbefangen, machte sich Raika zwei Stunden später zum Frühstück auf und trat dann ihre nächste Trainingsstunde mit Schwert und Pistolen bei Sienna an, während sich Lorena beim Frühstück entschuldigte und in ihrem Zimmer blieb, was aber nicht ungewöhnlich war und daher keine Fragen aufwarf. Auch später ging sie so wenig wie möglich nach draußen und vermied es vor allem, Morla zu begegnen. Deren Fähigkeit, in den Gedanken anderer zu lesen, war fast so beeindruckend wie Myladys magische Kräfte. Lorena fürchtete, dass man ihr von Weitem ansehen könnte, dass sie etwas im Schilde führte, doch keiner sprach sie darauf an, und so stieg ihre Zuversicht, als der Tag sich dem Abend zuneigte. Lorena packte nur ein paar Kleidungsstücke, ein wenig Wäsche und Hygieneartikel in eine Tasche. Mehr wollte sie aus diesem Haus nicht mitnehmen. Ihr war allerdings schmerzlich bewusst, dass sie über kein Geld und keine Papiere verfügte und auch keine Ahnung hatte, wie sie das Problem würde lösen können.
Eines nach dem anderen, sagte sie sich immer wieder. Jetzt war es erst einmal wichtig, die Mauern von Gryphon Manor unentdeckt hinter sich zu lassen.
Es war noch ein wenig früh, als Lorena, die Tasche unter dem Arm, ihr Zimmer verließ, doch sie hielt es nicht länger aus. Im Flur draußen war es dunkel. Sie wandelte sich in ihre Nachtmahrgestalt und hatte so keine Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Durch eine Seitentür, die niemals verschlossen wurde, verließ sie den Westflügel und trat auf die Terrasse. In tiefen Zügen sog sie die kühle Nachtluft ein. Es roch nach Blumen und frisch gemähtem Gras. Die willenlosen Helfer der Lady erledigten ihre Arbeit stets sauber und zuverlässig. Warum auch nicht? Sie hatten keine eigenen Bedürfnisse mehr. Sie existierten nur noch, um der Lady zu dienen und sie zufriedenzustellen.
Lorena sah sich um. Sie wusste, dass Sienna und Grace irgendwo patrouillierten, doch im Moment war keine Menschenseele zu sehen. Rasch überquerte sie die Terrasse und nutzte dann die blühenden Rosenbüsche als Deckung bis zum Beginn des Labyrinths. Obwohl sie noch fast eine halbe Stunde Zeit bis zu ihrer Verabredung hatte, rannte sie durch die verschlungenen Heckenpfade, hielt dann aber unvermittelt inne, ehe sie um die letzte Biegung kam, die sich zum Pavillon in der Mitte öffnete. Lorena stand völlig bewegungslos da und lauschte in die Nacht. Obgleich sie kein verräterisches Geräusch hören konnte, meldeten ihre Sinne, dass dort jemand war. Sie witterte wie ein Tier in die Nacht. Ein feiner Hauch von Parfüm streifte ihren Sinn, doch die Person selbst konnte sie nicht erfassen. Es musste ein Nachtmahr sein, doch sie konnte nicht sagen, ob es die waren, die sie erwartete, oder ob ihr Plan entdeckt worden war.
Nun, dann würden sie sich den Konsequenzen ohnehin stellen müssen. Lorena holte tief Luft und trat um die Ecke.
Es war Raika, die sich lässig auf der Steinbank rekelte und ihr zuzwinkerte. »Du bist früh dran«, sagte sie. »Du bist doch nicht etwa nervös?«
»Du bist auch früh dran«, konterte Lorena. »Und ja, ich bin nervös! Ich will mir nicht ausmalen, was passiert, wenn sie uns schnappen.«
»Werden sie nicht«, beschwichtigte Raika. »Wir waren jetzt schon so oft draußen, und keiner hat was gemerkt.«
»Was mir sehr merkwürdig vorkommt«, entgegnete Lorena.
»Sie kommen einfach gar nicht auf die Idee, dass wir uns ihren Plänen widersetzen könnten«, meinte Raika. »Sie sind daran gewöhnt, dass jeder gehorcht.«
»Mag sein«, gab Lorena widerstrebend zu, dann deutete sie auf Raikas Gepäck. Zu ihren Füßen lagen ein schwarzer Stoffrucksack und ein länglicher, schmaler Koffer, der Lorena bekannt vorkam.
»Ich dachte, wir sollen nicht viel mitnehmen?«
Raika beugte sich vor und tätschelte den Koffer. »Das muss mit. Es könnte uns nützlich sein.«
»Du hast doch nicht etwa ...?« Lorena vollendete den Satz nicht. Stattdessen kniete sie nieder und öffnete den Koffer.
Drei Schwerter schimmerten im Glanz der Sterne. Ihre Griffe waren kunstvoll verziert, die Klingen schienen tödlich scharf geschliffen. Daneben lagen drei Pistolen und einige Magazine mit Munition.
»Raika, das kannst du nicht machen«, stieß Lorena aus. »Diese Schwerter sind sehr wertvoll. Sie werden außer sich sein, wenn sie es bemerken.«
»Sie werden so oder so außer sich sein«, entgegnete Raika. »Der Verlust der Schwerter ist da sicher das Geringste, über das sie sich Gedanken machen, und uns können sie vielleicht irgendwann das Leben retten.«
Lorena schauderte. »Ich will nicht mordend durchs Land ziehen.«
»Ich auch nicht«, bekannte Raika, »aber wenn die Wanderer uns entdecken, werden sie nicht lange fackeln, und ich habe lieber was zur Hand, mit dem ich mich verteidigen kann.«
Lorena hatte wieder das Bild des abgetrennten Kopfs vor Augen, der in Alcatraz durch den Gang rollte. Der Kopf, den sie dem Wächter von den Schultern geschlagen hatte!
»Dann will ich nur hoffen, dass es ihnen nicht gelingt, uns aufzuspüren.«
»Das hoffe ich auch«, stimmte ihr Raika zu. Sie schwiegen und hörten, wie entfernt eine Uhr schlug.
»Wo bleibt Lucy«, flüsterte Lorena. »Sie wird es sich doch nicht anders überlegt haben?«
Ein leichter Luftzug über ihren Köpfen ließ sie aufsehen. Dann landete Lucy zwischen ihnen und faltete ihre Flügel ein.
»Nein, ich habe es mir nicht anders überlegt«, sagte sie. »Nur keine Panik. Es ist alles bereit.«
Im Gegensatz zu den beiden anderen hatte Lucy gar kein Gepäck bei sich. »Ich bin es gewohnt, mit nichts auszukommen«, sagte sie mit einem Schulterzucken.
Lorena drängte zum Aufbruch. »Sehen wir zu, dass wir wegkommen.«
Raika hatte nichts dagegen. Sie schlüpfte in ihre Motorradjacke und schwang sich den Rucksack über die Schulter. Dann griff sie nach dem Koffer mit den Waffen. Zielstrebig folgte sie den gewundenen Heckengängen bis zum zweiten Ausgang, der sie in der Nähe der Südmauer aus seinen Schatten entließ. Sie folgten einem halb überwachsenen Pfad zwischen Blumenrabatten, bis er einen Knick nach Westen machte.
»Dort drüben zwischen den Eichen«, raunte Lucy und deutete auf die beiden Bäume, deren Äste sich über die südwestliche Mauerecke des Anwesens reckten. Die Mauer war auch hier fast fünf Meter hoch, aber das war für die Nachtmahre kein Hindernis. Sie schlüpften unter den Ästen durch und entfalteten ihre Schwingen. Lautlos erhoben sie sich in die Luft, überwanden die Mauer und landeten auf der anderen Seite am Ende einer Wiese auf einem Wanderweg, der das üppig grüne Gras von einem Wäldchen trennte. Ein Abzweig des Schotterwegs führte zu einer Hütte, die offensichtlich Raikas Ziel war. Sie ging um die Hütte herum und öffnete das zweiflügelige Tor mit einem altmodisch anmutenden Schlüssel.
»Voilà!«, sagte sie mit einer ausladenden Handbewegung. In der Hütte stand Raikas Motorrad und daneben ein knallroter Porsche 911.
Lorena stöhnte. »Auffälliger ging es nicht?«
»Dir kann man es auch nicht recht machen«, maulte Raika. »Mir wäre der orangefarbene McLaren auch lieber gewesen, aber ich konnte ihn nicht finden.«
»Meinst du nicht, dass der Eigentümer den Porsche längst als gestohlen gemeldet hat?«
Raika schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Der ist noch eine Woche lang in der Karibik, und wenn kein anderer derweil in die Garage schaut, dann merkt so lange niemand etwas. Außerdem habe ich die Nummernschilder ausgetauscht. Diese gehören zu einem Unfallwagen, der vermutlich gar nicht mehr fahren wird.«
Lorena nickte anerkennend. »Du hast dir wirklich Gedanken gemacht. Aber der Wagen ist ein Zweisitzer!«
Raika nickte. »Ich lass doch mein Motorrad nicht zurück. Ich gebe zu, da bin ich ein wenig sentimental.«
Sie warf ihren Rucksack in den kleinen Kofferraum und schob den Koffer mit den Schwertern hinter die beiden Sitze. Dann schwang sie sich auf ihre Maschine und schob sie aus dem Schuppen. Lorena setzte sich hinter das Steuer des Sportwagens, und Lucy nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Vorsichtig manövrierte Lorena den Porsche anschließend durch das Tor.
»Und los geht es!«, jubelte Lucy.
Lorena dagegen hatte ein mulmiges Gefühl, das sich schwer in der Magengegend ausbreitete. Wohin sollten sie fahren und wie sich auf Dauer vor den anderen Nachtmahren und den Wanderern des Councillors verbergen? War das wirklich eine gute Idee, oder führte sie die anderen und ihr Kind geradewegs in die Katastrophe?
Lucy schien zu spüren, was in ihr vorging. »Ist es für Skrupel nicht ein wenig zu spät?«
Lorena nickte mit grimmiger Miene. »Ich hoffe nur, dass wir das nicht bereuen müssen.«
Lucy zuckte mit den Schultern. »Red nicht, gib Gas, sonst fahre ich.«
Lorena runzelte die Stirn. »Hast du denn einen Führerschein?«
»Nein«, gab Lucy heiter zu. »Aber so schwer kann das ja nicht sein.«
Statt einer Antwort legte Lorena den Gang ein und gab Gas. Der Kies spritzte nach allen Seiten, als sie über den Wanderweg Richtung Straße schossen und dann mit einem Schlenker auf den Asphalt einbogen. Lucy jauchzte, als der Porsche noch einmal hin- und herschlingerte. Als der Wagen sich gefangen hatte, beschleunigte Lorena, um Raika nicht aus den Augen zu verlieren, die es wieder einmal mächtig eilig hatte. Die beiden wurden in die Sitze gedrückt. Sie folgten Raika, die auf die Bayswaterroad einbog. Aus den Augenwinkeln sah Lorena einen orangefarbenen Sportwagen an der nächsten Kreuzung stehen, als sie mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit vorbeischossen.
»Das Motorrad!«, rief der Fahrer des orangefarbenen McLaren. »Die Frau, hast du sie gesehen?«
Der Mann auf dem Beifahrersitz nickte. »Oh ja. Auferstanden von den Toten.« Er stieß einen Pfiff aus, als der rote Porsche an ihnen vorbeiraste. »Und noch mehr Nachtmahre, die längst verrottet sein sollten«, sagte er, ohne seine Emotionen, die ihn vielleicht bewegten, zu zeigen.
»Die auf dem Motorrad ist Raika«, rief William. »Ich bin ihr in Oxford begegnet.«
»So?« Das Lächeln des Councillors war etwas anzüglich. »Die in dem Porsche sind jedenfalls die gute Lucy und Lorena, die Eclipse. Willst du nicht ein wenig mehr Gas geben, damit wir sie nicht verlieren?«
Das ließ sich William nicht zweimal sagen. Wie ein Pfeil jagte der Wagen hinter dem Porsche her, der vor der nächsten Kurve ein wenig langsamer wurde.
»Langsamer!«, schrie der Duke plötzlich.
William trat auf die Bremse. Die Reifen quietschten, doch der Wagen hielt die Spur. »Was?«
»Sieh, da oben!«
Vier Schatten huschten über den Nachthimmel. Zwei zischten über den Porsche hinweg, während sich die anderen beiden zurückfallen ließen.
»Nachtmahre«, hauchte William.
»Ja, und ich frage mich, was das zu bedeuten hat«, sagte sein Vater.
Die zwei vorderen hatten den Wagen überholt und landeten mitten auf der Straße.
»Das geht schief«, rief William, doch er konnte den Blick nicht abwenden. Sie hörten die Bremsen des Porsche und sahen, wie er schlingerte.
William keuchte. »Das schaffen die nie!« Vor seinem inneren Auge sah er bereits, wie der Sportwagen die beiden Nachtmahre auf der Straße erfasste, doch die Fahrerin verlor die Nerven und riss das Steuer herum. Der Wagen schwenkte scharf nach links, tauchte in einen Graben ab, wurde wieder emporgeschleudert und krachte dann in den Stumpf einer abgesägten Weide.
»Stopp!«, rief der Councillor. »Schnell, hier rechts rein.«
William brachte den Wagen hinter einem Gebüsch zum Stehen. Sie wandten sich um und sahen die beiden Nachtmahre zu dem rauchenden Wrack stürzen. Die beiden anderen Guardians landeten neben dem zerbeulten Fahrzeug. Sie trugen Schwerter an ihren Seiten und zogen nun die Klingen aus der Scheide, sodass sie gefährlich im Sternenlicht aufblitzten.
»Verdammt!«, fluchte William. »Das wäre unsere Chance gewesen, an sie ranzukommen. Ich hatte recht! Sie haben den Flugzeugabsturz überlebt.«
»Um nun bei einer Spritztour zu sterben?« Winston Campbell kratzte sich am Kinn.
»Für mich sah das eher wie eine Flucht aus«, meinte William. »Was? Warum siehst du mich so an?«, wollte er wissen.
»Vielleicht, weil du etwas sehr Erhellendes gesagt hast.«
»Sollen wir aussteigen und sie uns holen?«
Nun lag im Blick des Councillors wieder etwas Verächtliches. »Mit wie vielen Nachtmahren nimmst du es auf? Wie gut bist du mit dem Schwert?«
»Es sind nur Frauen«, begehrte William auf.
»Nachtmahre«, korrigierte Winston Campbell. »Das dort drüben ist Maddison, die dir mit ihrem ersten Streich den Kopf von den Schultern schlagen würde. Ich habe diese Nachtmahre in Alcatraz kämpfen gesehen, und ich sah meine Wanderer sterben. Was, denkst du, machen sie mit einem ganz normalen Jungen?«
Den Nachtmahren war es inzwischen gelungen, die Türen des Unfallwagens zu öffnen. Sie beugten sich über die beiden Insassen, befreiten sie von ihren Gurten und zogen sie dann aus dem Wrack. Die beiden Männer reckten die Köpfe, als die Nachtmahre die blutüberströmten Körper ins Gras legten. Die Verletzten bewegten sich nicht. Sie schienen nicht bei Bewusstsein.
»Vielleicht war der Zufall heute auf unserer Seite«, sagte William. »Meinst du, sie sind dieses Mal tot?«
Der Duke schüttelte den Kopf. »Ich vermute nicht. Es gehört mehr dazu, einen Nachtmahr zu töten. Solange sein Herz nicht durchbohrt ist und der Kopf auf seinen Schultern sitzt, kann er sich wieder erholen. Darin gleichen sie uns Wanderern.«
»Fällt dir etwas auf?«, fuhr William fort. »Der Erwählte, dieser Jason, ist nicht bei ihnen.«
Der Duke nickte. »Das ist in der Tat interessant. Er war nur ein ganz gewöhnlicher junger Mann. Ich vermute, er ist tatsächlich bei dem Absturz ums Leben gekommen. Los, lass uns fahren, solange sie noch mit sich selbst beschäftigt sind und nicht auf uns achten. Wir bleiben auf diesem Weg hier und nehmen dann die nächste Straße.«
William ließ den Motor wieder an und folgte dann dem von Hecken gesäumten, schmalen Weg. »Wo ist eigentlich Raika geblieben?«, fragte er plötzlich.
Der Duke legte die Stirn in Falten. »Sie ist nicht zurückgekommen. Vielleicht lohnt es sich, ihre Spur aufzunehmen. Die anderen werden jetzt erst einmal nach Gryphon Manor zurückkehren, wo sie vor meinen Wanderern leider in Sicherheit sind.«