Читать книгу Nachtmahr – Das Vermächtnis der Königin - Ulrike Schweikert - Страница 11
Kapitel 4 STRAFE
ОглавлениеUm sie herum war es dunkel. Schmerz war das Erste, das wieder durch ihr Bewusstsein flutete. Sie schwebte von zwei Händen getragen durch die Luft, dann näherte sich diese Kraft, die sie plötzlich umgab. Zorn peinigte ihre Seele. Sie konnte Stimmen hören, die sich entfernten. Zurück blieben nur das Wispern in ihrem Geist und der Schmerz ihres Körpers, der ihn in Krämpfen schüttelte. Warm rann das Blut an ihren Beinen herab. Sie bäumte sich auf und schrie. Wieder Hände, die sie niederdrückten. Der Schmerz steigerte sich immer mehr. Als er schließlich abebbte, hoffte sie, dass sie nun sterben würde und vergessen, denn schon während sie wieder in die Bewusstlosigkeit versank, wusste sie, dass sie nun alles verloren hatte.
Doch sie starb nicht. Ein Nachtmahr war ein robustes Wesen voller Magie, dessen Körper sich auf wundersame Weise von den schlimmsten Verletzungen erholen konnte. Aber während es ihrem Körper langsam besser ging, wurde der Schmerz ihrer Seele immer heftiger. Wie lange würde es ihr noch gelingen, in den sanften Armen der Ohnmacht Zuflucht zu finden? Schon drang eine klare Stimme an ihr Ohr.
»Verflucht, nun mach die Augen auf. Ich spüre, dass du wach bist!«
Ein Lichtschein näherte sich und peinigte sie, doch sie hielt die Augen weiterhin geschlossen. So einfach, wie ihr die Augenlider gehorchten, so schwer ließen sich die Gedanken befehligen. Unbarmherzig tanzten sie um die schmerzhafte Gewissheit: Sie hatte ihr Kind verloren. Jasons Kind. Das Letzte, was ihr noch von ihm geblieben war. Nun hatte sie nichts mehr außer ihrem Schmerz. Vielleicht klammerte sie sich deshalb an ihn und versuchte, alles andere von sich fernzuhalten.
Sie spürte eine Hand, die nach der ihren griff. »Mach die Augen auf!«
Der Befehl drang in sie ein und peinigte ihren Geist. Sie kämpfte gegen ihn an, doch sie spürte, wie der Widerstand schwächer wurde und ihr Wille schließlich nachgab. Lorena öffnete die Augen und sah in Lucys Gesicht, das sich über sie beugte.
War das wirklich Lucys Gesicht? Sehr viel Ähnlichkeit hatten die verquollenen Züge mit den Schrammen und Blutergüssen nicht mit dem Gesicht ihrer schönen Schwester. Auch die Hand, welche die ihre hielt, war verbunden.
Sie atmete geräuschvoll aus, sodass es wie ein Stöhnen und ein Seufzer zugleich klang.
»Endlich wirst du wach. Ich dachte schon, du hättest – ich meine, der Unfall hätte dich umgebracht.«
Lorena hob ein wenig den Kopf an, doch der stechende Schmerz ließ sie zusammenzucken.
»Bleib liegen. Du hast dir ganz schön den Kopf angeschlagen. Ich nehme an, da drinnen ist noch so einiges durcheinander. Außerdem sind ein paar Rippen gebrochen, und, na ja ...« Sie brach ab und sah zur Seite, doch Lorena wusste, was sie nicht aussprach. In Gedanken vervollständigte sie den Satz.
... und dein Kind ist tot.
Lorena spürte, wie ihre Augen brannten, doch sie konnte nicht weinen. Es war zu schrecklich. Vermutlich stand sie noch unter Schock. Der Schrecken von Jasons Tod rollte wieder wie eine Sturmwelle über sie hinweg.
Lucy drückte erneut ihre Hand. »Es tut mir ehrlich leid, aber die sind einfach mitten auf der Straße gelandet. Sienna und Grace, erinnerst du dich? Du hast es nicht übers Herz gebracht, sie zu überfahren, und wolltest ausweichen. Tja, und da sind wir dann in den Graben gefahren und gegen den Baumstumpf. Und in dieser blöden Karre sind nicht einmal die Airbags aufgegangen«, fügte sie hinzu. »Deshalb haben wir ganz schön was abgekriegt, aber das wird schon wieder.«
Lorena starrte sie an. Ja, ihr Körper würde wieder heilen. Sie waren Nachtmahre. Sie starben nicht so einfach, aber das Kind in ihr, auf das alle so viel Hoffnung gesetzt hatten, das war gestorben, noch ehe es die Chance gehabt hatte, zu leben.
Etwas quälte sie an diesem Gedanken, neben dem eigentlichen Verlust. Wie konnte das sein? Die Erbin würde nicht geboren werden. Sie würde die Nachtmahre nicht in eine neue, große Zeit führen. Wie konnte sich die Prophezeiung so irren? Das war nicht richtig.
Das war nicht möglich!
Lorena sank zurück ins Dunkel, doch die Frage marterte ihren Geist weiter und raubte ihr die Ruhe.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis sich ihr Bewusstsein wieder an die Oberfläche kämpfte und sie Lucys Gegenwart spürte. Ihre Schwester saß noch immer oder schon wieder an ihrem Bett. Nun nahm Lorena auch die Geräusche und Gerüche ihrer Umgebung wahr. Sie öffnete die Augen und richtete sich trotz ihrer Kopfschmerzen auf. Ihr Blick fiel auf ihre Hand, aus deren Verband schmale Finger mit abgebrochenen Nägeln ragten.
Offensichtlich hatte sie sich während ihrer Ohnmacht zurückverwandelt. Dann wanderte ihr Blick zum Fenster, durch das trübes Licht in den Raum fiel, der ihr nicht bekannt vorkam. Sie lag nicht in ihrem Bett in ihrem Zimmer, das sie über Monate in Gryphon Manor bewohnt hatte. Dieses war viel kleiner und nur spartanisch eingerichtet. Auch die Fenster waren kaum größer als die ihres Badezimmers in ihrer Wohnung in London.
Nein, daran wollte sie nicht denken. Das würde nur den Schmerz wieder neu entfachen.
Lorena konzentrierte sich abermals auf den Raum. Zwei schmale Betten standen an den gegenüberliegenden Wänden. Unter dem Fenster war ein quadratischer Tisch zu sehen. Sonst war der Raum leer. Es war kühl hier drinnen und feucht.
Das Zimmer erinnerte sie an ...
»Na, wie gefällt dir unser Gefängnis?«, fragte Lucy. »Ich war ja schon lange nicht mehr eingesperrt. Vielleicht hätte ich es demnächst vermisst!«
»Wo sind wir?«, fragte Lorena mit krächzender Stimme.
»In Gryphon Manor, wo sonst? In einem der Türme. Sie haben uns gleich nach dem Unfall hierher zurückgeschleppt.
»Was ist mit Sienna und Grace? Habe ich sie überfahren?«
Lucy schnitt eine Grimasse. Vermutlich hatte auch sie die Szene wieder vor Augen: die schmale, nächtliche Straße, die der Porsche entlangschoss, die beiden Schatten, die plötzlich über ihnen waren und dann mitten auf der Straße landeten. Sie konnte noch ihre weit aufgerissenen Augen sehen, als sie auf die Bremse trat und das Lenkrad herumriss.
»Nein, hast du natürlich nicht. Du hast versucht auszuweichen und uns das hier eingebrockt!« Lucy seufzte. »Na ja, vermutlich hätte ich sie auch nicht einfach überfahren. Ich mag Sienna, und soweit ich es mitbekommen habe, ist auch Grace in Ordnung. Sie hatten übrigens von Mylady persönlich die Order, uns zu überwachen. Was ihnen nicht ganz so gut gelungen ist«, stellte Lucy mit Befriedigung fest.
»Dennoch haben sie unseren Ausbruch vereitelt«, widersprach Lorena.
»Ja, leider. Mylady ist so sauer auf die beiden, dass sie auch Sienna und Grace hat einsperren lassen. Sie sind in dem Raum unter uns. Morla hat irgendwas davon geschwafelt, dass sie über die beiden Gericht halten würden.«
»Weil sie unsere Flucht nicht rechtzeitig verhindert haben«, stellte Lorena fest.
»Ja, das auch, aber ich glaube, die Lady ist vor allem sauer, weil sich ihre hohen Pläne wegen dieses Erben nun in Luft aufgelöst haben und die Prophezeiung hiermit hinfällig ist.« Ein erschrockener Ausdruck trat auf ihre Miene.
Lorena seufzte und schloss ihre Hände um ihren Bauch. »Ich weiß, ich habe das Kind verloren.«
Beide schwiegen eine Weile, ehe Lucy wieder das Wort ergriff: »Ich möchte ja wirklich wissen, wie sie von unserem Plan erfahren haben. Hat da vielleicht jemand seinen Mund nicht halten können?« Sie starrte Lorena an.
»Ich habe ganz sicher nichts gesagt, und ich habe vor allem vermieden, Morla zu begegnen. Sie kann vermutlich genauso gut Gedanken lesen wie die Lady selbst.«
»Ich bin ihr auch nicht begegnet, aber vielleicht war es Raika.«
Lorenas Blick huschte durch den Raum, obgleich ihr längst klar war, dass Raika nicht bei ihnen war.
»Was ist mit ihr? Weißt du etwas?«
Lucy zuckte nur die Achseln. »Sie hat uns hängen lassen. Wie das so ihre Art ist.«
Lorena widersprach. »Früher, ja, da hat sie sich um keinen geschert, aber sie hat sich geändert. Wir sind Freunde geworden.«
»Deshalb ist sie auch auf ihrem Motorrad davongebraust und hat uns bei den Guardians gelassen, die uns hierher zurückgeschleppt haben«, konterte Lucy.
»Sie hätte es nicht verhindern können«, stellte Lorena fest. »Warum hätte auch sie sich wieder einfangen lassen sollen? Sie hat am wenigsten mit diesem ganzen Schlamassel zu tun. Alleine konnte sie nicht verhindern, dass man uns zurückbringt. Immerhin haben sie uns versorgt und unsere Wunden verarztet.«
»Ja, wie schön«, ätzte Lucy. Sie erhob sich und kehrte zu ihrem eigenen Bett zurück. Vorsichtig ließ sie sich darauf nieder. Sie schien ebenfalls unter starken Schmerzen zu leiden. Davon sprachen die Grimassen, die sie zog.
»Es tut mir leid!«, hauchte Lorena.
»Mir auch«, gab Lucy zurück. Sie setzte sich auf ihr Bett, zog die Beine hoch und umschlang sie mit den Armen. »Ich bin Gefängnisse so leid!«
»Hat irgendjemand gesagt, wie es mit uns weitergehen soll?«, fragte Lorena vorsichtig.
Lucy schüttelte den Kopf. »Nein, Mylady hat sich noch nicht herabgelassen, uns unser Strafmaß mitzuteilen. Sie zieht es vor, uns noch ein wenig schmoren zu lassen.«
»Sie kann uns nicht ewig hier in diesem Turmzimmer einsperren«, meinte Lorena.
»Ach nein?«, entgegnete Lucy. »Warum sollte sie nicht? Wer könnte sie daran hindern? Es gibt da draußen keinen, der sich um uns schert oder der überhaupt davon weiß.«
»Außer Raika«, widersprach Lorena.
»Ja, außer Raika«, stimmte Lucy ihr zu. »Und, meinst du, sie holt die Kavallerie, um uns zu befreien?«
Beide schwiegen bedrückt. Nein, wie sollte Raika es schaffen, sie hier herauszuholen, wenn sie überhaupt an so etwas dachte. Wenn sie die Schwestern nicht bereits vergessen hatte.
Die Tage verstrichen, ohne dass sie die Lady oder Morla zu Gesicht bekamen oder auch nur erfuhren, was man mit ihnen vorhatte. Jeden Tag kam Audry, brachte Essen und eine Waschschüssel und auch mal frische Wäsche, doch sie sprach kein Wort mit ihnen. Nur einmal erhaschten sie ein paar Brocken eines Gesprächs, das nahe ihrer Tür geführt wurde. Offensichtlich ging es Sienna und Grace nicht besser. Auch sie waren noch immer eingesperrt.
Wenigstens ging es mit Lorenas und Lucys Genesung schnell voran – zumindest, was die körperlichen Verletzungen anging. Nachtmahre waren robuste Wesen, deren Körper während der Wandlung erstaunliche Heilkräfte hervorbrachten. Bereits nach einer Woche litten sie kaum mehr Schmerzen. Die Wunden hatten sich geschlossen und würden bald nicht mehr zu sehen sein. Keine Narbe würde die makellose Haut der Nachtmahre verunstalten. Nur der seelische Schmerz blieb und peinigte Lorena bei Tag und bei Nacht.
Eine weitere Woche verstrich in grauer Eintönigkeit, während draußen der englische Sommer die Rosen im Park erblühen ließ, sodass ihr Duft bis in ihr Turmzimmer drang. Wieder einmal vernahmen sie Audrys Schritte, die sich der Tür näherten, doch dieses Mal trug sie kein Essenstablett in den Händen. Lorena und Lucy spürten die Spannung, die eine Veränderung ankündigte. Sie erhoben sich von ihren Betten.
»Was, kein Essen?«, beschwerte sich Lucy, doch auch sie musterte Audry aufmerksam und versuchte, in ihrer Miene zu lesen, aber die alte Hüterin war so verschlossen wie Morla.
»Ihr könnt später essen. Jetzt bringe ich euch zu Mylady.«
»Ach, sie lässt sich herab, mit uns zu sprechen?«, rief Lucy. »Wie gnädig. Wir sind durchaus neugierig, wann wir hier endlich rausgelassen werden.«
Audry erwiderte nichts. Sie hielt ihnen lediglich die Tür auf. Lorena und Lucy folgten ihr die Wendeltreppe hinunter und dann durch die große Halle zu ihrem Salon. Vor der Tür trafen sie auf Grace und Sienna. Die stolzen Guardians wirkten blass und elend. Sie schwiegen.
»Ruhe«, zischte Audry, als Lucy sie ansprach. Dann wurde die Tür geöffnet, und Morla ließ sie eintreten.
Stumm standen die vier vor der Lady, den Blick gesenkt. Wie üblich gestattete die Lady ihnen nicht, sie anzusehen.
Lorena wusste nicht genau, was sie erwartet hatte: Anklagen, Vorwürfe, eine zornige Rede oder Worte der Enttäuschung, so hintergangen worden zu sein, und dann die Verkündung einer Strafe, doch die Lady schwieg. Lorena spürte nur den Blick, der sie durchdrang und in ihrer Seele wühlte. Es begann in ihren Ohren zu summen, als der Druck anstieg, der sie zusammenzupressen schien. Dann endlich vernahm sie Worte in ihrem Geist, die aber an Sienna und Grace gerichtet waren.
Es war eure Aufgabe, die Eclipse zu bewachen und die ungeborene Erbin zu schützen. Ihr habt versagt! Es ist euer Fehler, dass die einmalige Chance der Nachtmahre verloren ist. Ihr tragt genauso viel Schuld an dem Verlust wie die Eclipse und ihre Schwester selbst, deren Verhalten von unfassbarer Niedertracht und dem Fehlen jeder Loyalität ihren Mitschwestern gegenüber zeugt. Ihr wisst, welche Strafe ihr verdient habt.
Lorena erwartete, dass die Lady nun sie und Lucy mit Vorwürfen überschütten würde, doch stattdessen strafte sie die beiden mit Missachtung, die auf ihre Seelen drückte und ihnen jeden Lebensmut auszusaugen schien.
»Audry, lass die Wagen vorfahren!«, befahl Morla, dann waren sie entlassen.
Lucy und Lorena tauschten verwirrte Blicke. Was hatte das zu bedeuten? Lucy hob nur unmerklich die Schultern, während Audry und zwei der Diener sie durch die Halle und das Tor hinausbegleiteten.
Zwei Wagen fuhren vor. Grace und Sienna nahmen auf der Rückbank des ersten Autos Platz, während Audry vorn einstieg. Lorena und Lucy wurden zu dem zweiten schwarzen Luxuswagen geführt. Am Steuer saß der Chauffeur, der Lorena schon etliche Male nach Gryphon Manor gefahren hatte. Auf dem Beifahrersitz nahm Morla Platz. Lorena beschlich ein ungutes Gefühl. Was zum Teufel hatte das zu bedeuten?
Das Tor öffnete sich, und die beiden Wagen glitten hinaus.
»Wohin fahren wir?«, wollte Lucy wissen, doch Morla hüllte sich in Schweigen.
Den Geschwistern wurde viel Geduld abverlangt. Stunde um Stunde fuhren sie durch die grüne Landschaft, ohne dass ihr Fahrer oder Morla bereit gewesen wären, auch nur ein Wort zu sagen. Lorena versuchte zu erraten, was ihr Ziel sein könnte. Sie fuhren die ganze Zeit in nördliche Richtung, passierten Leicester und Nottingham.
»Ah, ein Besuch bei Robin Hood«, scherzte Lucy, doch Lorena war es alles andere als zum Spaßen zumute. Sie spürte etwas Grauenvolles auf sie zukommen, konnte sich aber nicht denken, was das sein könnte und wozu sie diese lange Strecke fuhren. Wenn die Lady sie zu strafen gedachte, hätte sie dann nicht jede Sanktion auch in Gryphon Manor durchführen können?
Ein Abzweig nach Sheffield huschte vorbei, dann Leeds. Eine weitere Stunde später näherten sie sich der Ostküste des Königreichs.
»Jetzt sind wir bald in Schottland«, sagte Lucy.
Lorena zermarterte sich den Kopf, ob Schottland irgendeine Bedeutung hatte, doch es fiel ihr nichts ein.
»Wenn wir in Edinburgh sind, will ich was zu essen«, beschwerte sich Lucy, doch wieder kam keine Reaktion. Allerdings bogen sie jetzt von der Hauptstraße ab und folgten einer kleineren Landstraße. Ein Hinweisschild am Straßenrand mit dem Bild einer Burgruine erregte Lucys Aufmerksamkeit.
»Roxburgh ... das sagt mir irgendetwas.« Grübelnd zog sie die Stirn kraus.
Lorena sah sie nur fragend an.
»Warum nur muss ich dauernd an den Councillor denken«, murmelte Lucy und stieß dann einen Pfiff aus. »Der Councillor! Winston Campbell ist der Duke of Roxburgh!«
Lucy hatte recht. Jetzt, als sie es aussprach, erinnerte sich auch Lorena, den Titel schon einmal gehört zu haben. Aber was hatte das zu bedeuten?
Sie überquerten den Tweed, fuhren durch das Städtchen Kelso und bogen dann links ab. Der vordere Wagen kam vor einem prächtigen, schmiedeeisernen Tor zum Stehen. Floors Castle. Die tief stehende Sonne ließ das goldene Wappen aufblitzen. Rechts und links der steinernen Säulen ließen weitere Gitterelemente den Blick auf das Anwesen frei. Rechts erhob sich ein schmales Wäldchen, links fiel der Park zum Ufer des Tweed ab. Gesäumt wurde die herrschaftliche Zufahrt von zwei Torhäusern, aus denen nun ein paar grimmig dreinsehende Männer mit Kurzhaarschnitt traten, die Lorena an die Wanderer erinnerten, gegen die die Nachtmahre in Alcatraz gekämpft hatten.
»Was wird denn das?«, fragte Lucy leise, doch keiner konnte oder wollte ihr antworten. Lorena schüttelte nur fassungslos den Kopf, als sich am Wagen vor ihnen die hinteren Türen öffneten und Sienna und Grace ausstiegen. Der Kofferraum klappte auf. Sienna zog sich hinter die Klappe zurück. Als sie wieder in Sicht kam, hielt sie ihr Schwert in den Händen. Auch Grace trug nun eine Waffe. Die Türen und der Kofferraum klappten wieder zu, und der Wagen setzte ein Stück zurück. Die beiden Frauen standen nebeneinander, die Schwerter gesenkt, und starrten die Männer an, die langsam näher kamen und begannen, sie einzukreisen. Inzwischen waren sie zu acht. Einige hatten Pistolen gezogen und zielten auf die beiden Nachtmahre. Drei der Männer trugen Schwerter.
Lucy sog scharf die Luft ein. »Verdammt, das wird eine Hinrichtung!«
Die Sonne näherte sich bereits dem Horizont. Wenn die Männer noch ein paar Augenblicke verstreichen lassen würden, könnten sich die beiden wandeln und einfach davonfliegen. Doch dies waren nicht irgendwelche Männer. Dies waren die Warriors des Councillors, deren Aufgabe es war, Floors Castle vor den Nachtmahren zu schützen. Sie waren gut ausgebildet und für den Einsatz trainiert! Sie würden nicht zögern, das konnte Lorena spüren.
Obgleich sich die beiden Nachtmahre nicht rührten, richteten sich noch mehr Waffenläufe auf sie. Die Sonne würde gleich versinken. Ihre roten Strahlen ergossen sich über die Nachtmahre und die dunkel gekleideten Männer. Der Augenblick der Entscheidung war gekommen.
»Feuer!«, befahl der Mann in der Mitte. Seine Männer gehorchten.
Es ging so schnell, dass Lorena den Blick nicht abwenden konnte. Sie sah, wie die beiden Frauen von Geschossen zerfetzt wurden. Ihr Brustkorb wurde geradezu zersiebt. Ihr Herzblut spritzte nach allen Richtungen. Aus dieser kurzen Distanz schoss keiner der Wanderer daneben. Die Nachtmahre waren sofort tot. Die Schwerter fielen ihnen aus den Händen und schlugen klirrend auf dem Boden auf, noch ehe ihre leblosen Körper ihnen folgten und sie in ihrer eigenen Blutlache liegen blieben. Der Mann, der den Befehl gegeben hatte, steckte seine Pistole weg und sprang nach vorn. Er zog sein Schwert und schlug mit einer einzigen Bewegung Sienna den Kopf ab. Der zweite Streich enthauptete Grace. Lucy stieß einen Schrei aus. Lorena war so entsetzt, dass sie nicht einmal atmete. Die Türen neben ihnen schwangen auf.
»Aussteigen!«
Sie konnten sich gegen den Befehl nicht wehren. Es war, als würde eine kräftige Hand sie aus dem Wagen befördern.
Jetzt sind also wir dran, fuhr es Lorena durch den Kopf. Jetzt sterben auch wir im Kugelhagel, und sie werden uns, um ganz sicherzugehen, die Köpfe abschlagen.
Sie fühlte den Kies unter ihren Schuhen. Die Wagentüren schlugen zu, und das Auto setzte zurück. Die Männer wandten sich ihren neuen Opfern zu, doch in diesem Moment, als sie bereits ihre Waffen hoben, passierten gleich mehrere Dinge:
Die Sonne berührte den Horizont. Das Tor schwang auf, als ein Reiter auf einem mächtigen schwarzen Pferd herangeprescht kam. Ein Motor röhrte in Lorenas Ohren, und ein schwarzer Schatten raste von der Seite auf sie zu.
»Aufhören!«, schrie der Mann auf dem Pferd. »Was ist hier los?«
Die Warriors zögerten. Für einen Moment traf Lorenas Blick den des Councillors.
Die Männer ließen ihre Waffen sinken, nur der Kommandant zielte weiter auf sie. Der Motorenlärm wurde lauter. Dann huschte die Silhouette eines Motorrads in ihr Blickfeld. Lorena wurde umgerissen und geriet so für einen Moment aus der Schusslinie. Die Warriors schienen irritiert, nur der Kommandant drückte in dem Moment ab, als der letzte Sonnenstrahl verlosch.
Ein Schuss fiel und ließ Lucy herumwirbeln. Blut spritzte.
Lorenas Körper zuckte. Sie musste sich nicht auf die Wandlung konzentrieren. Sie ging so blitzschnell vor sich, dass sie sich bereits in die Luft erhob, ehe der Wanderer sie ins Visier nehmen konnte. Sie sah, wie Lucy wankte. Die in Leder gekleidete Gestalt auf dem Motorrad fing sie auf und gab Gas. Mit einem raschen Schlenker brachte sie die beiden Wagen zwischen sich und die Bewaffneten und raste dann die Straße entlang.
Die beiden Chauffeure brauchten viel zu lange, die schweren Luxuskarossen zu wenden, um die Verfolgung aufzunehmen.
Raika raste durch die Dämmerung. Lorena musste sich anstrengen, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Wie schwer war Lucy verletzt? Brauchte sie einen Arzt? Wohin war Raika unterwegs und wo zum Teufel war sie plötzlich hergekommen?
Ich habe dir Unrecht getan, dachte Lorena reumütig. Ich dachte, du hast uns einfach aufgegeben. Stattdessen musste sie wochenlang das Anwesen der Lady beobachtet haben, um rechtzeitig von ihrem Aufbruch zu erfahren. An Zufall mochte Lorena nicht glauben.
Und dann war sie ihnen auf dem Weg bis nach Schottland gefolgt, um im rechten Moment einzugreifen.
Wenn es noch der rechte Moment gewesen war.
Wenn sie wenigstens Lucy noch retten konnten.
Für Sienna und Grace war es zu spät. Lorena konnte noch immer nicht glauben, dass diese Bilder, die ihr ständig durch den Geist spukten, Wirklichkeit waren. Dass die Lady die beiden Guardians – und auch Lucy und sie selbst – auf diese perfide Weise zum Tode verurteilt hatte. Dass die Wanderer die Henker waren, welche die Tat ausführen mussten, machte die Sache vielleicht sogar noch schlimmer. Die Lady und ihre Helfer hatten sich die Hände nicht selbst mit Blut befleckt, doch Lorena war sich sicher, dass sie genau gewusst hatte, wie die Wanderer reagieren mussten, wenn mit Schwertern bewaffnete Nachtmahre vor ihrem Tor auftauchen würden.
Wenn der Councillor nicht in diesem Moment aufgetaucht wäre und seine Männer für den entscheidenden Augenblick aufgehalten hätte, würden nun auch ihre Körper von Kugeln zerfetzt vor dem Tor von Floors Castle liegen. Lorena blinzelte die Tränen weg, als in ihrem Geist das Schwert noch einmal herabfuhr, um den Guardians die Köpfe abzutrennen.
Nein, sie vermochte die Schuld nicht bei den Wanderern zu finden. Allein die Grausamkeit der Lady war für das Massaker verantwortlich.
Wie konnte sie nur zwei ihrer besten und treuesten Guardians auf diese Weise opfern? Auch Emily war von der Hand eines Wanderers getötet worden, doch das war etwas anderes. Es war ein Kampf zwischen zwei ebenbürtigen Gegnern gewesen. Die Nachtmahre waren gekommen, um sie bei Lucys Befreiung zu unterstützen. Dafür hatte Emily ihr Leben gegeben.
Wofür hatten Sienna und Grace sterben müssen? Weil sie ihren Auftrag nicht so ausgeführt hatten, wie die Lady es sich gedacht hatte? Weil sie eine Situation falsch eingeschätzt hatten, die zu diesem verhängnisvollen Unfall geführt hatte?
Wenn einer an diesem Unfall und am Tod des Kindes Schuld trägt, dann ich!, dachte Lorena bitter. Ich bin so schnell gefahren und habe das Lenkrad zu hastig herumgerissen. Eigentlich hätte die Lady mich allein den Wanderern vorwerfen müssen.
Ihr Zorn brannte so heiß, dass sie sich die Fingernägel in die Handflächen bohrte.
Plötzlich sah sie die Bremslichter des Motorrads aufleuchten. Raika lenkte die Maschine in den Hof eines kleinen Gebäudes, neben dessen Eingangstür ein Licht brannte. Lorena ließ sich tiefer sinken und landete neben dem Motorrad. Sie kam gerade rechtzeitig, um Lucy aufzufangen, die ohnmächtig zur Seite kippte.
»Was tun wir hier?«, erkundigte sich Lorena, die Arme um ihre Schwester geschlungen.
Raika deutete auf das Schild, das die Lampe anstrahlte. B & B. »Wir können nicht weiter. Ich kann Lucy nicht richtig festhalten, wenn sie nicht bei Bewusstsein ist. Außerdem hat sie schon viel Blut verloren. Ich werde mal fragen, ob hier noch ein Zimmer frei ist.«
Lorena sah Raika in ihrer schwarzen Lederkluft zweifelnd an. »Lass mich das lieber machen.«
Raika stellte die Hüfte aus und schenkte Lorena einen Augenaufschlag. »Meinst du, mir könnte jemand einen Wunsch abschlagen?«
Lorena schnitt eine Grimasse. »Eine Frau? Ja, durchaus.«
Sie übergab Lucy in Raikas Hände und trat dann an die Tür, um zu klingeln. Schwere Schritte waren zu hören, dann öffnete eine Frau in einem Hauskittel, die sich ein Tuch um den mit Lockenwicklern bestückten Kopf gebunden hatte.
Lorena versuchte sich an einem unschuldigen Lächeln und bat um ein Zimmer für sie und ihre beiden Freundinnen.
Die Frau nickte nur und winkte sie herein. Lorena folgte ihr in ein mit geblümten Bettüberzügen und Vorhängen liebevoll eingerichtetes Zimmer, das sogar über ein eigenes Bad verfügte.
»Da können Sie sich Tee und Kaffee machen«, sagte die Frau. »Ab acht mache ich Ihnen Frühstück mit Eiern, Bohnen, Würstchen und Kartoffeln.«
Lorena dankte und wartete, bis sich die Frau wieder in ihr Wohnzimmer zurückgezogen hatte, ehe sie Raika mit Lucy hereinholte.
Neugierde über ihre Gäste schien der Zimmerwirtin zum Glück fremd zu sein. Sie nahm weder die anderen beiden Frauen in Augenschein noch schien sie sich zu fragen, wie drei Frauen mit einem Motorrad reisen konnten und warum sie kein Gepäck mit sich führten.
Als sie Lucy auf eines der Betten gelegt hatten, ging Lorena noch einmal zu der Frau und erkundigte sich nach dem nächsten Dorf mit einer Apotheke.
Lucy war noch immer ohne Bewusstsein, als Lorena zurückkehrte. Ihr Oberteil war blutverkrustet. Raika hatte sich schon darangemacht, es ihr auszuziehen, und tupfte nun mit einem nassen Handtuch die Wunde sauber, die noch immer blutete.
»Wir müssen ihr einen Verband anlegen, um die Blutung zu stoppen.«
»Vorher muss das Geschoss raus!«, mahnte Raika an.
Lorena seufzte. »Kommt mir das alles nicht verdammt bekannt vor?« Jasons Gesicht tauchte vor ihr auf.
»Du hast das einmal geschafft, du kannst das wieder«, drängte Raika.
»Und jetzt ist Jason tot«, sagte Lorena.
»Aber nicht, weil du ihm die Kugel rausgeholt hast«, stellte Raika richtig. »Das hast du gut hingekriegt. Diese Verletzung hätte er überlebt.«
Lorena nickte. »Ja, ich weiß. Doch du verstehst vermutlich, dass ich nicht begeistert bin, wieder so eine Operation durchzuführen. Wer weiß, was das Geschoss alles verletzt hat.«
Die Wunde war unterhalb des Herzens und der Lunge, doch so genau kannte sich Lorena mit der Lage der Organe nicht aus, um zu sagen, was alles verletzt sein konnte.
»Sie ist ein Nachtmahr!«, sagte Raika betont munter. »Wenn ihr Herz nicht durchbohrt ist und ihr Kopf noch auf ihren Schultern sitzt, dann wird sie es überstehen.«
Lorena schloss schaudernd die Augen. »Sprich nicht von Köpfen!«
»Ja, das war scheußlich«, gab Raika zu, doch ihre Stimme klang noch immer ungerührt.
»Ich habe nicht einmal ein scharfes Messer, um die Kugel rauszuholen«, stellte Lorena fest. »Und kein Verbandszeug. Kein Desinfektionsmittel.«
»Wo ist die nächste Apotheke?«, wollte Raika wissen. »Du hast doch gefragt?«
Lorena beschrieb Raika den Weg zu der Ortschaft. »Die hat jetzt sicher zu«, vermutete sie.
Raika grinste. »Das hoffe ich. So werde ich keine Schwierigkeiten bekommen, dir alles, was du brauchst, zu besorgen. «
»Sei vorsichtig und beeile dich. Wir sollten das durchziehen, ehe es Tag wird.«
Raika nickte ernst. »Ja, das denke ich auch. Solange sie gewandelt ist, ist ihr Körper robuster und wird das besser wegstecken.«
Sie drückte Lorena kurz die Hand und wandte sich dann ab. »Ich bin bald wieder da«, versprach sie und verließ das Zimmer.