Читать книгу Nachtmahr – Das Vermächtnis der Königin - Ulrike Schweikert - Страница 9
Kapitel 2 EINE NACHT IN OXFORD
ОглавлениеLorena hatte gerade die Halle passiert, als sie plötzlich abrupt stehen blieb. Es fühlte sich an, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen. Ihre Beine schienen nicht mehr ihrem Willen unterworfen zu sein.
In ihrem Kopf erklang eine Stimme: Du wünschst, mit mir zu sprechen? Dann komm zu mir.
Von fremder Hand gesteuert, wandte sich Lorena um und ging durch die Halle. Carter hielt ihr die Tür zu Myladys Salon auf. Lorena trat ein und näherte sich dem thronartigen Sessel, in dem die Lady immer saß; dann hielt sie plötzlich inne. Es war die Lady, die den Abstand bestimmte. Lorena blieb stehen und senkte den Kopf. Wieder einmal wurde ihr nicht gestattet, den Blick zu erheben und die Lady anzusehen.
Du wolltest mich sprechen?, ertönte von irgendwoher die alterslose Stimme.
Lorena ließ ein wenig den Blick nach rechts und nach links wandern, um zu sehen, ob Morla wie üblich anwesend war, doch sie konnte sie nicht entdecken. Es würde also ein Gespräch nur zwischen ihr und der Lady werden.
»Ja, ich versuche es seit mehr als drei Monaten!«, platzte sie unwirsch heraus.
Es gab nichts zu besprechen, entgegnete die Stimme.
»Ach ja? Jason ist tot. Raika, Lucy und ich werden hier wie Gefangene gehalten, und in mir wächst unser Kind heran, von dem die Prophezeiung spricht, doch ich habe keine Ahnung, wie dieses Kind den Nachtmahren helfen könnte.«
Ja, Jason ist tot. Das ist bedauerlich, aber nicht zu ändern. Seine Aufgabe hat er erfüllt. Er hat mit dir dieses Kind gezeugt, das uns Nachtmahre stärker machen wird. Mehr kann ich dir dazu auch nicht sagen. Wir verfügen leider nicht über alle Schriften, in denen von der Prophezeiung die Rede ist. Damals im Krieg sind Bücher verloren gegangen und nicht wieder aufgetaucht. Ich habe Audry nach Oxford und in andere Bibliotheken geschickt, um sie zu suchen. Dass der Councillor euch für tot hält und nichts von deiner Schwangerschaft weiß, ist unser aller Vorteil. Natürlich werdet ihr hier nicht gefangen gehalten, doch es kann entscheidend sein, dass die Wanderer nichts von dem Kind erfahren, bis es geboren ist.
»Und dann? Was sollte sich dann ändern?«, fragte Lorena.
Dann ist deine Aufgabe vollbracht. Du kannst mit deiner Schwester und Raika gehen, wohin du willst.
»Und mein Kind wäre durch die Wanderer nicht gefährdet? Egal, wohin wir gehen?«, wunderte sich Lorena.
Die Tür öffnete sich, und Morla glitt herein. Sie positionierte sich neben der Lady und übernahm die Unterhaltung. Offensichtlich war sie auf dem Laufenden.
»Das Kind bleibt natürlich hier!«, sagte sie schroff, so als könnte sie kaum glauben, dass Lorena etwas anderes denken würde. »Es ist unsere Zukunft, und wir werden es hier beschützen.«
»Es ist mein Kind!«, rief Lorena. »Es ist alles, was mir von Jason geblieben ist, und ich werde mich ganz sicher nicht von ihm trennen.«
Es bleibt dir frei, in Gryphon Manor zu bleiben, sprach die Stimme der Lady in ihrem Kopf.
»Ach, und wie lange gedenkt ihr, mein Kind hier einzusperren?«
»Wir ziehen es auf«, korrigierte Morla. »Wir werden das Beste für deine Tochter tun. Wenn wir wissen, was die Prophezeiung bedeutet und auf welche Weise das Kind uns stärken wird, dann sehen wir weiter.«
»Und wann soll das sein?«
Morla zögerte. »Vielleicht wird sich schon mit ihrer Geburt etwas für uns ändern, vermutlich aber erst, wenn sie beginnt, sich zu wandeln.«
»Also etwa in vierzehn Jahren«, ergänzte Lorena. »Und so lange soll sie Gryphon Manor nicht verlassen?«
»Es ist nur zu ihrem Schutz«, beharrte Morla. »Willst du das Leben deiner Tochter riskieren? Willst du, dass sie den Wanderern in die Hände fällt? Du weißt, die Männer des Councillors kennen keine Gnade. Sie würden ihr den Kopf abschlagen. Sie werden ihren Vernichtungsfeldzug gegen uns Nachtmahre fortsetzen, bis die Letzte von uns getötet ist.«
Lorena schwankte zwischen Zorn und Resignation. Dann hob sie noch einmal den Kopf, konnte aber nur Morla ansehen. »Ihr scheint euch absolut sicher zu sein, dass ich eine Tochter bekomme. Was, wenn es ein Junge wird?«
Morla zog eine Grimasse. »Das wird nicht geschehen. Wir sind Nachtmahre! Was sollte ein Junge für uns tun können? Wie sollte er uns stärken und die Prophezeiung erfüllen?«
Ich spüre den Widerstand in deinem Herzen und deinem Geist, erklang nun noch einmal Myladys Stimme. Gib dir Zeit, zur Ruhe zu kommen und zu der Einsicht, dass es so das Beste für uns alle ist: für dich, für deine Tochter und für uns Nachtmahre.
Damit war sie entlassen. Ihre Beine lenkten sie zur Tür, obgleich sie mit dem Ausgang der Unterredung gar nicht zufrieden war, doch ihre Gedanken schwirrten so in ihrem Kopf durcheinander, dass sie zu ihrem Zimmer tappte und sich auf ihr Bett fallen ließ. Stundenlang brütete sie vor sich hin. Eines war sie sich sicher: Das, was sich die Lady für sie und ihr Kind ausgedacht hatte, würde Lorena so nicht hinnehmen. Sie wollten ihr ihre Tochter wegnehmen, sie in ihrem Sinn erziehen und von ihren Kräften profitieren – wie immer die auch aussehen mochten. Lorena kam in ihrem Plan nicht mehr vor. Sie würde keinen Einfluss auf ihr Kind haben und es vermutlich nur selten zu Gesicht bekommen. Ein Kloß setzte sich in ihrem Hals fest und bereitete ihr Schwierigkeiten zu atmen. Nein, so sollte es nicht laufen. Sie wollte ihr Kind bei sich haben und es selbst aufziehen. Nicht in diesem düsteren, alten Gemäuer mit seinen seltsamen Bewohnern, sosehr sie einige der Guardians inzwischen mochte. Ihre Tochter würde Männer nur als seelenlose Diener kennenlernen. War das der richtige Umgang für ihr Kind? Lorena spürte, wie ihre Abneigung gegen das Haus und gegen die Lady und ihre Anweisungen wuchs. Sie wollte eine normale Mutter mit einem normalen Kind sein, das ganz natürlich wie alle anderen Kinder aufwuchs. In ihrer kleinen Wohnung in London! Sie würden samstags zusammen über den Flohmarkt schlendern und schöne, unnütze Dinge kaufen. Sie würden ein ganz normales Leben führen.
Wovon?
Ihre Ersparnisse würden nicht lange reichen. Sie würde sich einen neuen Job suchen müssen. Bei einer anderen Bank, um ihr Leben zu finanzieren. Derweil würde das Kind in eine Betreuungseinrichtung müssen, um wieder von Fremden erzogen zu werden.
Lorena seufzte.
Wie lange würde das gut gehen? Wie lange wären sie eine glückliche, kleine Familie?
Bis es den Wanderern gelingen würde, sie aufzuspüren. Würden sie das Kind wirklich töten? Der Kloß schmerzte nun noch stärker. Lorena glaubte zu wissen, dass die Wanderer keine Gnade kannten. Sie hatten auch keine Skrupel gehabt, Lucy zu entführen, weil sie sie für die Eclipse gehalten hatten.
Wäre es da nicht doch besser, mit dem Kind hierzubleiben und nicht für ihr tägliches Brot arbeiten zu müssen?
Lorena stöhnte. Alles in ihr wehrte sich gegen diese Vorstellung. Gryphon Manor war ganz sicher kein Gefängnis wie Alcatraz, und dennoch war sie eingesperrt und hatte das Gefühl, ihr würde die Luft zum Atmen genommen.
Er folgte dem Motorrad mit den beiden Frauen, seit sie es aus dem Schuppen im Wald hinter dem Herrenhaus geholt hatten. Sein Vater hatte ihn nach Gryphon Manor geschickt. Er selbst verfolgte andere Spuren, über die er sich nicht näher ausgelassen hatte.
William hatte so eine Ahnung, wohin sie unterwegs waren, daher ließ er sich so weit zurückfallen, dass er ihnen nicht auffiel. Außerdem fuhr die Schwarzhaarige wie der Teufel, und er hätte wohl alles aus seinem Sportwagen herausholen müssen, um sie einholen zu können.
Als er die Stadtgrenze erreichte, drosselte er das Tempo. Sein Wagen erregte auch so noch genug Aufsehen. Einige Studenten winkten ihm zu und hoben die Daumen, um ihm ihre Begeisterung für den McLaren zu demonstrieren. William winkte ihnen zu und sah sich dann um. Wohin waren die beiden Ladys verschwunden? Langsam fuhr er weiter, bis er das Motorrad vor einem Pub entdeckte. Die Blonde war bereits auf dem Weg zur Tür und verschwand dann im Innern. Die Schwarzhaarige stand noch neben der Maschine und fuhr sich mit den Fingern durch die langen Locken, die im Licht der Straßenlaternen schimmerten. William hielt den Wagen an und ließ die Tür nach oben gleiten. Vielleicht war es ein Glück, dass es bereits auf zwei Uhr zuging und sich die meisten Studenten schon auf den Heimweg gemacht hatten. Ansonsten wäre er vermutlich schnell von Schaulustigen umringt gewesen, die sich das Auto gern aus der Nähe ansehen wollten, und das war im Moment nicht in seinem Sinn. Er schwang die langen Beine aus dem Wagen und richtete sich auf. Es wunderte ihn nicht, dass er – oder das Auto – die Aufmerksamkeit der Schwarzhaarigen erregte. Sie wandte sich zu ihm um und warf ihm einen herausfordernden Blick unter ihren langen Wimpern zu.
»Tolle Maschine!«, sagte sie mit einer Stimme, die ihm einen Schauder über den Rücken jagte.
»Dito«, gab William zurück und trat zwei Schritte näher. Die junge Frau sah flüchtig zu dem Motorrad. »Ja, nicht schlecht.«
»Ist es deine Maschine, oder gehört sie deiner Freundin«, fuhr William fort. Er hatte sich vorgenommen, in sicherem Abstand zu bleiben und sie sich nur ein wenig genauer anzusehen, doch seine Beine trugen ihn noch ein Stück näher zu der Frau, die das Verführerischste war, das er je zu Gesicht bekommen hatte. »Wohin ist deine Freundin denn so schnell verschwunden?«, fragte er.
Die Dunkle deutete auf den Pub. »Sich amüsieren. Dazu ist die Nacht doch da, oder nicht?« Sie streckte eine Hand aus und winkte ihn näher. »Du gefällst mir! Willst du auch ein wenig Spaß haben? Wie heißt du?«
»William.« Er konnte gerade noch verhindern, mehr zu sagen, aber er reichte ihr seine rechte Hand zur Begrüßung.
Als ihre Hand die seine umschloss, durchfuhr es ihn wie ein Stromstoß, doch er konnte und wollte sie nicht zurückziehen.
»Die Nacht ist so schön«, gurrte sie. »Komm, lass uns dort in den Park gehen.«
Er folgte ihr widerstandslos, obgleich seine Gedanken rasten. War das eine gute Idee? Was würde sein Vater sagen, wenn er wüsste, was er im Begriff war zu tun? Er war drauf und dran, sich von einem ihrer größten Feinde verführen zu lassen, und doch folgte er ihr bis unter die Bäume und ließ sich dann gegen einen der Stämme drücken.
»So, mein Lieber. Ich habe Lust auf einen echten Kerl, und du scheinst mir dafür genau der Richtige zu sein!«
Sie öffnete sein Hemd und zog es ihm von den Schultern. Sie ließ ihre Lippen sanft über seine Brust streifen und griff mit einer Hand nach seinem Hintern.
Er bebte und begann zu zittern. William spürte die Magie, die seine Sinne vernebelte, als seine Lippen mit ihren zu verschmelzen schienen, und doch konnte er nicht anders. Er presste die Frau an sich. Er fühlte ein Begehren, so stark, wie er es noch nie empfunden hatte. Er wollte alles für sie tun, wenn sie ihn nur von seiner Qual befreite. Er musste sie haben. Jetzt!
Seine Hände fuhren unter ihren kurzen Rock, unter dem sie nichts trug. Seine Lust ließ ihn fast explodieren, doch da öffnete sie ihm bereits die Hose und befreite sein Glied, das sich in ihre Hand drängte.
William hatte schon mit vielen Frauen geschlafen. An der Universität gab es immer Studentinnen, die einem Abenteuer nicht abgeneigt waren und nachher nicht mit Ansprüchen kamen oder einen Kerl gleich in eine Ehe drängen wollten. Es hatte ihm immer Spaß gemacht. Er hatte die Erregung genossen, den Akt und die Erlösung, doch das, was sich in seinem Körper in diesem Moment abspielte, war so überwältigend, dass er nur noch seinen Trieben folgen konnte. Seine Hände umfassten ihr Gesäß und schwangen sie herum, dass sie nun gegen den Baum gedrückt wurde, während er in sie eindrang. Sie lachte auf, spielte mit seiner Lust und warf ihn dann zu Boden, ehe er zum Höhepunkt kam, so als wäre er nicht mehr als einen Kopf größer und wesentlich schwerer als sie. In diesem Moment begriff er, über welche Kräfte ein Nachtmahr verfügte. Doch es war nicht ihre Körperkraft, die ihn beunruhigte, soweit seine nicht erfüllte Lust solche Gedanken überhaupt zuließ.
Seine Hand umschloss ihr Handgelenk, wobei er das Gefühl hatte, es wäre ein Leichtes für sie, sich loszureißen, doch sie hatte offensichtlich Spaß daran, mit ihm zu spielen und sich an seinem Flehen zu ergötzen.
»Komm, du kannst mich nicht so zurücklassen!«
»Habe ich auch nicht vor«, gurrte sie und ließ sich dann mit gespreizten Beinen rücklings auf ihm nieder. Er keuchte und stöhnte, während sie ihn fast in den Wahnsinn trieb. Ihre Bewegungen waren wild und dann wieder sanft, sodass er jedes Mal kurz vor seinem Höhepunkt abgefangen wurde.
Er stöhnte auf. »Raika, du folterst mich!«
Sie hielt mitten in der Bewegung inne.
»Woher kennst du meinen Namen?«
»Den hast du mir doch gesagt«, behauptete er, doch sie schüttelte den Kopf.
»Nein, ganz sicher nicht. Und da fällt mir ein, woher weißt du von meiner Freundin?«
»Lucy? Die habe ich letzthin kennengelernt. Vielleicht hat sie mir deinen Namen gesagt?«
Raika versuchte, sich ihm zu entziehen, doch er hielt sie fest und bewegte die Hüften, um doch noch Erlösung zu finden. Raika stemmte sich für einige Momente dagegen, doch dann schien sie sich anders zu besinnen und schwang ihre Hüfte, als würde sie ein wildes Rodeopferd reiten. Er kam mit einem Aufschrei, zuckte und stöhnte und blieb dann völlig erschöpft liegen. Raika wandte sich ihm zu und legte sich über ihn.
»Mein lieber William, ich glaube, wir müssen noch das eine oder andere besprechen«, sagte sie und knabberte spielerisch an seinem Handgelenk.
Er zuckte zusammen. Anscheinend war sein Gehirn nun wieder bereit, ihm zu gehorchen. Mit einem Ruck befreite er sich aus ihrem Griff und warf sie zur Seite. Raika war offensichtlich so überrascht, dass sie keine Gegenwehr leistete. Sie rappelte sich auf und starrte ihn verwundert an.
»Wer bist du?«, herrschte sie ihn an.
»Jedenfalls kein Mann, der sich von dir widerstandslos dein Gift in seine Adern träufeln lässt!«, gab er zurück.
Raika riss die Augen auf. Für einen Moment wirkte sie unsicher. »Du bist kein Wanderer«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Das würde ich spüren.«
»Nein, ich bin ein Mann, und du bist ein Nachtmahr. Ein verderbtes Wesen, das mit seiner Magie Männer verhext und mit ihrem Gift versklavt.«
Raika rappelte sich auf und rückte ihren Rock zurecht. Mit verschränkten Armen wich sie zu dem Baum zurück. »Du hast dich mir an den Hals geworfen, erinnerst du dich? Du hast mich gesehen und warst geil auf mich. Ich würde sagen: einvernehmlicher Sex unter Erwachsenen!«
»Ja, ich gebe zu, zu Anfang bin ich deinem Zauber erlegen, doch jetzt sehe ich wieder klar. Ich hätte nicht gedacht, dass es so sein könnte«, fügte er leise hinzu.
»So unglaublich gut?«, meinte Raika und lächelte überlegen. »Dazu brauche ich weder Gift noch Hexerei. Ich weiß nicht, wie du zu diesen Spinnereien kommst, doch glaube nicht alle Kindermärchen, die man dir erzählt.«
»Keine Magie und keine Hexerei?«, wiederholte William, der sich auch erhoben hatte und seine Hose schloss. »Dann zeig mir mal deine Flügel. Ich konnte die Schlitze unter deinen Schultern fühlen.«
Raika zuckte zusammen. Als er auf sie zukam, wich sie noch weiter zurück. Noch ehe er sie berühren konnte, brach sie zur Seite aus und bückte sich hinter dem Stamm unter den tief hängenden Ästen hindurch.
William folgte ihr. Er sah, wie sie blinzelte. Auf ihrem Rücken entfalteten sich ihre Schwingen, und mit einem kräftigen Schlag erhob sie sich in die Luft. Die durchscheinenden Häute erinnerten ihn an eine Fledermaus. Dann war sie seinem Blick entschwunden.
William sah ihr hinterher. Das Hochgefühl, das die Begegnung mit Raika in ihm ausgelöst hatte, war verflogen. Es schauderte ihn, als ihm aufging, wie knapp er ihrem Gift entgangen war. Was, wenn sie es geschafft hätte? Wäre er nun für immer seines Willens beraubt und verdammt, ihr Sklave zu sein? Er wusste es nicht, doch er nahm sich vor, in Zukunft vorsichtiger zu sein und sich nicht mehr in Gefahr zu begeben, von ihrer Magie übermannt zu werden. Er musste nur Abstand zu ihnen halten, wie sein Vater ihm befohlen hatte.
Das brachte ihn zu einem neuen Problem. Sein Vater durfte von dieser Sache auf keinen Fall erfahren! Er würde nicht nur wütend sein. Das konnte William ertragen. Er würde ihn wieder mit diesem Blick voller Verachtung ansehen, wie immer, wenn er von seinem Sohn enttäuscht war. Wieder einmal fragte sich William, wie es hatte geschehen können, dass der Councillor, der mächtigste Wanderer durch die Zeit, ein Kind hatte zeugen können, das über keinen Funken Magie und daher auch sicher nur über die Lebensspanne eines normalen Menschen verfügte. Es war ein Schlag für seinen Vater gewesen, als er dies hatte erkennen müssen. Doch war es etwa seine Schuld?
William seufzte. Er wandte den Blick vom Nachthimmel ab, an dem längst nichts mehr zu sehen war, und kehrte mit gesenktem Kopf zu seinem Wagen zurück. Er beschloss, erst in sein Hotel zu fahren, ausgiebig zu duschen und sich umzuziehen, ehe er seinem Vater wieder unter die Augen trat. Es war ihm, als strömte der Duft des Nachtmahrs noch aus jeder seiner Poren.
»Beobachte sie, komm ihnen aber nicht zu nahe«, hatte der Auftrag geheißen.
»Mist!«, schimpfte William. War er nicht einmal in der Lage, eine solch einfache Aufgabe zu erfüllen?
Doch noch schwerer drückte ihn die Frage, ob man den Councillor der Wanderer wirklich belügen konnte. Und was würde geschehen, wenn er es doch herausfand?
»Verdammt, ich bin erwachsen und kann tun, was mir gefällt«, schimpfte er vor sich hin, als er den Motor anließ. Doch er konnte sich nicht einmal selbst davon überzeugen.
Als Lorena am nächsten Tag ihr Zimmer verließ, machte sie sich auf die Suche nach Lucy. Sie fand sie auf einem Liegestuhl ausgestreckt auf der Terrasse, an der sich zur einen Seite ein Springbrunnen mit allerlei Figuren anschloss. Auf der anderen Seite war ein Kräutergarten, hinter dem sich die Eibenhecken eines vor langer Zeit angelegten Labyrinths erhoben.
Lucy blinzelte träge in die Julisonne, als der Schatten ihrer Schwester über sie fiel. »Du stehst mir in der Sonne«, beschwerte sie sich.
»Ja, denn ich möchte, dass du ein Stück mit mir gehst«, sagte Lorena leise. »Ich möchte mit dir über die vergangene Nacht reden und über die davor ...«
Lucy zog einen Schmollmund. »Nicht, wenn du wieder die große Schwester raushängen lässt und mich schimpfen willst.«
»Ich habe nicht vor, dich zu schimpfen, aber ein paar Fragen hätte ich schon.«
»Ich bin ganz Ohr«, antwortete Lucy mit einem Seufzer. »Nein, nicht hier. Steh auf und komm mit mir.«
Lucy rekelte sich, erhob sich dann aber und schlüpfte in einen hauchdünnen Morgenmantel. Sie folgte Lorena in das Heckenlabyrinth, wo es im Schatten der rechteckig gestutzten Eiben deutlich kühler war, doch das machte den beiden Nachtmahren nichts aus. Lucy gähnte.
»Also, was gibt es, was wir nicht draußen in der Sonne besprechen können? Falls du wissen willst, was ich getan habe: Ich war mit Raika in Oxford. Ich war in einem Pub und hatte später Sex mit einem Typen. Raika war derweil mit einem Kerl im Park. Er fuhr einen tollen Sportwagen und hat sie vor dem Pub angesprochen. Das ist alles. Wir sind noch vor dem Morgengrauen zurückgekommen.« Lucy zog trotzig die Lippe hoch. »Na, zufrieden? Dann fang mit deiner Standpauke an.«
»Ich will dir keine Standpauke halten. Ich möchte wissen, wie ihr es schafft, unbemerkt Gryphon Manor zu verlassen, denn ich bin überzeugt, wüssten die Lady oder Morla davon, dann hätten sie euch ganz schön den Marsch geblasen und dem ein Ende gesetzt.«
Lucy ließ den Blick an den undurchdringlichen Hecken entlangschweifen. »Ja, das denke ich auch, und deshalb ist es wichtig, dass niemand davon erfährt.«
»Du willst es mir also nicht verraten?«
Lucy schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich? Was willst du mit dieser Information anfangen? Brauchst du ein Druckmittel gegen Raika und mich?«
»Nein!«, rief Lorena empört. »Warum denkst du immer, ich wollte dir etwas Schlechtes? Ich bin nach Amerika gereist und habe mein Leben riskiert, um dich zu befreien.«
Lucy zuckte mit den Schultern. »Alte Gewohnheit, vermute ich. Unsere Beziehung war nicht gerade eitel Sonnenschein, du erinnerst dich?«
»Ja, aber ich dachte, wir seien auf einem guten Weg und würden einander endlich vertrauen.«
Lucy schien darüber erst einmal nachdenken zu müssen, dann nickte sie. »Gut, also, was willst du? Mit uns ausgehen und dir einen Kerl aufreißen? Ich kann es kaum glauben!«
Lorena starrte sie an. So absurd es sich im ersten Moment für sie anhörte, so spürte sie doch ein Ziehen der Lust in ihrem Unterleib. Es war viel zu lange her, seit sie das letzte Mal einen Mann gehabt hatte, dachte der Nachtmahr in ihr. Lorena in ihrer jetzigen Gestalt war über ihre eigenen Gefühle schockiert und bat Jason in Gedanken um Verzeihung, doch statt zu verschwinden, wuchs die Lust in ihr noch. Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf.
»Nein, im Moment ist mir nicht nach einem Mann«, log sie. »Aber ich wüsste dennoch gern einen Weg, um unbemerkt aus Gryphon Manor rauszukommen. Ich hatte gestern ein Gespräch mit Mylady – und mit Morla!«
Lucy kräuselte die Lippen. »Das war sicher ganz herzerfrischend! «
Lorena schnitt eine Grimasse. »Oh ja, und vor allem sehr aufschlussreich, was ihre Pläne für mich und für das Kind betrifft.« Unwillkürlich legte sie die Hände schützend um ihren Bauch. »Es geht nur noch um diese Prophezeiung«, sagte sie leise. »Sie wollen mein Kind, um sich gegen die Wanderer zu stärken. Ich bin dann nicht mehr wichtig. Jason und ich haben unsere Aufgabe erfüllt.«
»Ging es nicht immer um die Prophezeiung?«, fragte Lucy mit einem tiefen Seufzer. »Beeinflusst sie nicht unser ganzes Leben? Bin ich nicht deswegen entführt und eingesperrt worden?«
Lorena nickte. »Ja, und es tut mir unendlich leid, dass man dir dein Leben für nichts und wieder nichts geraubt hat.«
Lucy wischte den Einwand mit einer Handbewegung beiseite. »Ach, Schwamm drüber. Ich bin da jetzt raus.«
»Ja, aber meiner Tochter steht das gleiche Schicksal bevor. Sie werden mir das Kind wegnehmen. Ich kann gehen oder bleiben, das kümmert sie nicht. Vielleicht werde ich sie ab und zu sehen, wenn ich hier in Gryphon Manor bleibe, aber ich werde sie nicht aufziehen können und nicht entscheiden dürfen. Das werden die Lady oder vermutlich Morla übernehmen.«
Lucy sah ihre Schwester aufmerksam an. »Lass mich raten. Damit bist du nicht einverstanden.«
»Nein, bin ich nicht. Ich habe die ganze Nacht gegrübelt und bin zu dem Entschluss gelangt, dass es schlimmer ist, wenn ich mich füge und mein Kind ihnen ausliefere ...«
»... als wenn du wegläufst und riskierst, dem Councillor in die Hände zu fallen? Sie werden dich und das Kind töten!«, vermutete Lucy.
Lorena barg das Gesicht in den Händen. »Dann denkst du also auch, es wäre Wahnsinn?«
Lucy starrte ihre Schwester an. »Von hier weglaufen und wieder frei sein?« Sie überlegte kurz. »Vielleicht«, sagte sie dann langsam, »aber was soll’s: no risk, no fun. Also ich bin auf alle Fälle dabei, wenn du mich mitnehmen willst. Mir geht das Gemäuer mit seinen spaßbefreiten Guardians längst auf die Nerven. Die Welt ist groß. Der Councillor wird uns nicht finden!«
Lorena stöhnte. »Glaubst du wirklich daran? Wenn er mir auch noch das Kind nimmt, könnte ich mir das nie verzeihen.«
Lucy zeigte ihr freches Grinsen und klopfte Lorena auf den Rücken. »Nur nicht verzagen, Schwesterchen. Zusammen sind wir ein bewährtes Team. Ich wette, auch Raika lässt sich dieses Abenteuer nicht nehmen. Und wer weiß, vielleicht bist du ja noch immer von diesem besonderen Schutz umgeben, der die Wanderer von dir abhält. Der Councillor konnte dich in Amerika kaum berühren, geschweige denn, dir etwas antun.«
Lorena legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Ja, vielleicht, wobei dieser Schutz schwächer wird, je weiter wir uns von Gryphon Manor entfernen, doch wer weiß, vielleicht gebietet nicht nur die Lady über Magie, uns zu schützen.«
Lucy sah sie aufmerksam an. »Was meinst du?«
»Ich bin mir nicht sicher, aber ich würde gerne etwas ausprobieren.« Sie packte Lucy am Arm. »Suche Raika und bitte sie, hierherzukommen. Und bringt drei Übungsschwerter mit.«
»Jetzt?«
Lorena überlegte. »Nein, nicht jetzt. Sobald die Sonne untergegangen ist.«
»Was hast du vor?«, wollte Lucy wissen, doch Lorena war noch nicht bereit, über ihren Einfall zu reden.
»Ich möchte nur etwas ausprobieren.«
»Du weißt, dass dir der Umgang mit Waffen in deinem Zustand streng verboten ist?«, erinnerte Lucy, wobei ihr Tonfall deutlich machte, dass ihr so ein Verbot völlig egal war.
»Ja, das weiß ich. Darum lasst euch mit den Schwertern lieber nicht sehen und kommt so schnell wie möglich in die Mitte des Labyrinths.«
»Jetzt bin ich aber neugierig«, sagte Lucy, wandte sich ab und ging davon.
Das bin ich auch, dachte Lorena. Sie machte sich auf den Weg zum Mittelpunkt des Labyrinths, der einen kleinen, quadratischen Platz bildete, dessen Zentrum von einem offenen Pavillon beschattet wurde. Nervös knetete sie die Hände und ging eine Weile ruhelos hin und her, dann machte sie sich auf den Rückweg in ihr Zimmer. Dort nahm sie einen Roman zur Hand, begann zu lesen und versuchte so, die Zeit bis zum Abend totzuschlagen.