Читать книгу Der Duft des Blutes - Ulrike Schweikert - Страница 4
Der Vampir
ОглавлениеEr ruhte in einer langen, schmalen Kiste. Bewegungslos lag er da, die Hände über der Brust gefaltet. Die Haut seines Gesichts und seiner schlanken Finger war von wächserner Farbe, der Mund von blassem Rosa. Unnatürlich düster hoben sich die schwarzen Wimpern und Brauen und das ebenso schwarze Haar vom Weiß seiner Haut ab. Kein Atemzug hob seine Brust.
Der Tag neigte sich dem Ende zu, und mit der Dämmerung senkte sich Stille über die Hamburger Speicherstadt. Die letzten Touristenboote knatterten durch den Brooksfleet an der Kaffeebörse vorbei und dann unter dem Brooktorkai hindurch in Richtung Industriehafen.
Als die letzten Strahlen der Sonne hinter dem Hafen verblasst waren, bewegten sich die bleichen Lider plötzlich. Glutrote Augen glänzten in der Finsternis. Die mit einem alten Smaragd geschmückte Hand hob den hölzernen Deckel an, bis er gegen die rote Backsteinwand fiel. Die Brust unter dem schwarzen Hemd begann sich zu heben und zu senken, die bleichen Nasenflügel bebten.
Peter von Borgo sog den gewohnten Geruch in sich ein. Am kräftigsten roch der Tee, der aus Indien, Sri Lanka und Indonesien kam und in metallbeschlagenen Holzkisten direkt hinter der Bretterwand aufgestapelt war. Etwas schwächer nahm er den Kakao aus Brasilien und Ghana wahr, der einen Boden tiefer sortiert und gelagert wurde. Unter den Tee- und Kakaogeruch mischte sich ein Hauch exotischer Gewürze, denn eine weitere Treppe tiefer stapelten sich Säcke mit Chilipfeffer und Nelken, Sternanis und Cascararinde, sudanesischen Sennesschoten und sündhaft teurem Safran. Im dritten Stock lagerte ein Posten Rohseide. Die untersten beiden Böden des Speichers P am Wandrahmsfleet beherbergten die gewebten Kunstwerke eines türkischen Teppichimporteurs.
Zwei Mäuse tippelten über die Bohlen, doch die hochgewachsene Gestalt in der offenen Kiste rührte sich nicht. Noch einige Augenblicke genoss Peter von Borgo die Sinfonie der Gerüche, die in dieser sich rasant ändernden Großstadt über Jahrzehnte hinweg so tröstlich gleich geblieben waren.
Wie an jedem Abend spürte der Vampir nagenden Hunger und überlegte gerade, wo er seinen nächtlichen Beutezug beginnen sollte, als ungewohnte Geräusche sein Ohr streiften. Horchend setzte er sich auf. Stimmen wehten von der anderen Seite des Fleets zu ihm herüber. Es waren nicht die normalen Laute der Quartiersleute oder der späten Touristen. Er hörte schrille Rufe, hektische Worte und harsche Anweisungen, dann die Sirenen der Wasserschutzpolizei. Kurz darauf polterte ein heulender Streifenwagen über das Kopfsteinpflaster. Eine Megafonstimme befahl den Menschen zurückzutreten, um die Arbeit der Polizei nicht zu behindern.
Neugierig geworden, erhob sich Peter von Borgo, klopfte sich den Staub aus seiner schwarzen Hose und schlüpfte dann durch ein loses Brett in den Teespeicher hinüber. Er trat an die große, rundbogige Ladeluke und sah hinüber zum Brooksfleet Irgendetwas ging dort drüben am Pickhuben vor sich, doch er konnte von seinem Platz, sechs Stockwerke über dem trüben Wasser des Wandrahmsfleets, nicht erkennen, was die Menschen dort unten so in Aufruhr versetzte. Der Vampir trat vom Fenster zurück, eilte leichtfüßig die Treppe hinunter und umrundete dann das kleine Fleet.
Zwei rasch aufgestellte Lichtmasten tauchten das schmutzige Eibwasser des Brooksfleets mit seinen verwitterten Kaimauern in gleißende Helligkeit. Uniformierte in beigen Hosen und schwarzen Lederjacken hatten die Straße auf beiden Seiten mit einem rot-weißen Plastikband abgesperrt und hielten knapp zwei Dutzend Neugierige zurück. Einige hatten Fotoapparate oder Mikrofone in den Händen. An der hinteren Absperrung erkannte Peter von Borgo einen Reporter der Hamburger Morgenpost, der versuchte, sich zwischen der Hauswand und einem Streifenwagen hindurchzuschieben, doch ein Polizist mit silbernem Stern auf den Schulterklappen schickte ihn zurück.
„Wie soll ich ihn untersuchen, wenn ihr ihn nicht aus dem Wasser holt!“, ereiferte sich ein Mann in grauer Flanellhose, weißem Polohemd und blauem Leinensakko.
Ein untersetzter Polizist im Blau der Hafenpolizei hob beschwichtigend die Hand. „Er ist tot, da gibt es keinen Zweifel. So eilig ist das also nicht. Warten wir lieber, bis die Kripo da ist.“ Der Arzt knurrte unwillig und trat dann an die Kaimauer, um einen Blick hinunter auf das graubraune Wasser und seine tote Fracht zu werfen.
Peter von Borgo duckte sich unter der Absperrung hindurch. Er wusste, dass er unentdeckt bleiben würde, solange er nicht bemerkt werden wollte. Der Vampir schritt auf die Pickhubenbrücke zu, blieb aber stehen, bevor der helle Lichtkegel ihn erfasste, und beugte sich über das Geländer. Ein Stück weiter vorn schaukelte eine leere Schute auf dem Wasser. In dem durchhängenden Tau, mit dem der Kahn am Fuß des Speicherbaus befestigt war, hatte sich ein menschlicher Körper verfangen. Die Nasenflügel des Vampirs blähten sich. Fünf oder sechs Tage war er sicher schon tot, und so lange hatte der Körper auch im Eibwasser gelegen. Zwei Fahrzeuge näherten sich der Absperrung.
„Endlich!“, murmelte ein Uniformierter in seiner Nähe. „Die Kripo ist da!“
Vier Männer und eine Frau schlüpften unter dem Band hindurch und traten zu dem Polizeikommissar, der den Einsatz bisher geleitet hatte. In kurzen Worten schilderte er den Vorfall und deutete dann auf den Schiffer in blauen Latzhosen, der rauchend an der roten Backsteinmauer des Speicherhauses lehnte.
„Er hat die Leiche entdeckt und uns um“, er sah in sein Notizbuch, „zwanzig Uhr neunzehn über den Notruf verständigt.“
Hauptkommissar Thomas Ohlendorf, Chef der 4. Mordbereitschaft der LKA-Direktion 41, nickte. Schweigend sah er einige Augenblicke auf die Leiche hinab, die noch immer mit dem Gesicht nach unten im kalten Wasser schaukelte.
„Sabine, Sönke, fahrt ihr mal mit den Wasserschutzleuten mit und nehmt unseren Klienten in Augenschein.“
Oberkommissarin Sabine Berner strich sich eine dunkelblonde Haarsträhne aus dem Gesicht. „Willst du die Spurensicherung hier haben?“
Thomas Ohlendorf wickelte einen Kaugummi aus und schob ihn zwischen die Zähne. „Was willst du hier noch sichern? Wer weiß, von wo der angedümpelt gekommen ist.“
Die junge Frau zuckte die Schultern und wandte sich zum Gehen.
„Und schaff mir den Magnus her. Er soll von hier ein paar Bilder machen und dann mit euch aufs Boot gehen. Ihr könnt die Leiche dort vorne an der Treppe raufschaffen, damit unser Herr Doktor was zu tun bekommt.“
Die Kommissarin nickte. Wo war der Fotograf? Irgendwo hatte Sabine die schlaksige Gestalt von Björn Magnus doch schon gesehen. Ihr Blick schweifte über die Menschen, die sich am Pickhuben versammelt hatten, als sie plötzlich mit jemandem zusammenprallte.
„Oh, Entschuldigung, ich habe Sie gar nicht gesehen“, sagte sie und sah den großen, schwarzhaarigen Mann, der so unerwartet in ihrem Weg stand, verwirrt an. Sie kannte ihn nicht, doch nach einem abschätzenden Blick war sich die Kommissarin sicher, dass er hier nichts zu suchen hatte.
„Bitte gehen Sie hinter die Absperrung zurück“, sagte sie, und ihr Tonfall war nicht mehr ganz so freundlich. „Sie behindern die Arbeit der Polizei.“
Doch statt ihrer Anweisung zu folgen, trat der Mann noch ein wenig näher. Er reckte den Kopf nach vorn und schloss die Augen. Sein Brustkorb spannte sich, als er tief die Luft einsog. Ein verzücktes Lächeln huschte über die bleichen Lippen.
Peter von Borgo war verwirrt. In den letzten dreihundertfünfzig Jahren war es ihm niemals passiert, dass er so unerwartet mit einem Menschen zusammengestoßen war. Was war es, das seine sonst so wachsamen Sinne trübte und seine vorsichtige Zurückhaltung mühelos durchdrang? Langsam, fast widerstrebend entwich die eingeatmete Luft aus seinen Lungen. Es war ihr Geruch, ihr wundervoller Duft, der ihn plötzlich um so viele Jahre zurückversetzte.
Wien 1649. Ein prächtiger Ball. Glitzernde Lüster spendeten Kerzenglanz, Paare schwebten über den Marmorboden: Herren in seidenen Kniehosen und Damen in ausladenden Röcken. Die Schwüle der späten Sommernacht drang durch die weit geöffneten Flügeltüren. Der junge Vampir, ganz in Schwarz und Silber, das schwarze Haar mit einer einfachen Silberspange im Nacken zusammengebunden, saß draußen auf der steinernen Balustrade, als sie aus dem Ballsaal trat, erhitzt vom Tanz und beschwingt vom Champagner. Peter von Borgo sah noch ihre gepuderten Locken, kunstvoll aufgesteckt, eine weiße Rose keck über dem Ohr befestigt, das süße Gesicht mit den tiefblauen Augen, der rot geschminkte Schmollmund. Sie trug ein Kleid aus glänzend weißem Atlas, mit silberner Klöppelspitze besetzt, über einem ovalen Reifrock. Mit ihrem Fächer aus bemalter Schwanenhaut suchte sie die erhitzten Schläfen zu kühlen. Innerhalb weniger Augenblicke war er von diesem Geschöpf bezaubert. Wer könnte je solch einem Duft widerstehen? Ein aufreizendes Lächeln auf den Lippen, nahm Antonia die Einladung des fremden Kavaliers an, zwischen den hohen Hecken zu den Springbrunnen zu spazieren. Mit einer galanten Verbeugung bot der Vampir ihr den Arm und führte sie die weit geschwungene Treppe hinunter. Er ahnte das junge, pulsierende Blut unter ihrer warmen Haut, und dieser Geruch, dieser unglaublich verführerische Duft, raubte ihm den Verstand. Noch hatte er nicht gelernt sich zu zügeln. War es doch erst wenige Monate her, dass er von spitzen Zähnen seines Lebens beraubt worden war, um als Untoter ruhelos und in Ewigkeit auf der Erde zu wandeln.
Die Springbrunnen sollte sie nicht mehr sehen. Schon hinter den ersten blütenschweren Büschen zog er sie an sich und saugte sie in wilder Gier bis zum letzten Blutstropfen aus. Der Herzschlag verklang. Da lag sie, bleich und tot in seinen Armen, der wundervolle Duft verwehte und verschwand unwiederbringlich in der Sommernacht.
Der Vampir konnte seine Opfer, von deren Blut er seit damals getrunken hatte, nicht zählen, doch solch eine Lust hatte er nicht wieder erlebt. Der Augenblick auf dem Holländischen Brook in der Hamburger Speicherstadt wurde zur Ewigkeit. Dreieinhalb Jahrhunderte lang hatte keine Sterbliche sein Gemüt in Unruhe versetzt – und nun das: eine Kommissarin der Hamburger Kripo in Jeans und Pulli, ungeschminkt mit ungekämmtem dunkelblondem Haar. Und doch ließ ihr Duft die Erinnerung an Antonias Blut in ihm wieder lebendig werden.
„Sabine, kommst du?“, drang Sönkes Stimme in ihr Bewusstsein. Es hörte sich an, als riefe der Kriminalobermeister nicht zum ersten Mal. Die Kommissarin winkte ihm zu.
„Ja, ich komme, ich muss nur noch ...“ Sie wandte sich wieder dem merkwürdigen Fremden zu, doch er war verschwunden. Wo konnte er so schnell hingegangen sein? Suchend drehte sie sich im Kreis, bis Sönke Lodering an ihre Seite trat.
„Was wird das? Ein Regentanz?“
„Da war ein Mann, der nicht hierher gehörte, und ich sagte ihm, er solle verschwinden, und nun ist er plötzlich weg.“
„Na, denn is ja alles in Butter.“
„Aber ich habe ihn nicht weggehen sehen. Es ist, als habe er sich in Luft aufgelöst.“ Fassungslos schüttelte Sabine den Kopf.
„Wie hat er denn ausgesehen?“
„Ich weiß es nicht mehr.“ Die Kommissarin schnitt eine hilflose Grimasse.
Sönke hob die grauen Augenbrauen und sah seine Kollegin fragend an. „Biste heute ’n büschen tüdelig?“
Sie nickte. „Ja, kann sein. Jens hat angerufen. Seine Mutter fährt sechs Wochen zur Kur, und er fliegt mit seiner Neuen in die Karibik.“ Sabine verdrehte die Augen.
„Dachte, da bist du drüber weg?“, brummte Sönke und dirigierte sie in Richtung Polizeiboot, auf dem die Uniformierten und der Polizeifotograf schon ungeduldig warteten.
„Ja, schon, doch das heißt, ich werde nächste Woche Julia samt Leila bei mir haben. – Nicht, dass ich mich nicht freue, wenn ich die Kleine sehe, doch ich habe keinen Urlaub mehr, und nun auch noch das.“ Sie deutete in Richtung Kai, wo der Tote im Wasser lag. „Das gibt doch sicher wieder Überstunden. Und wohin dann mit einer lebhaften Fünfjährigen und einem noch lebhafteren Setter?“
Sönke knurrte etwas Undeutliches und kletterte in das Schlauchboot.
„Nu mach mal vorwärts, mien Jung“, forderte er den jungen Uniformierten auf, der sich mit dem Außenborder abmühte. „Ich will bis zehn den Heimathafen sehen.“
Sabine grinste den Fotografen an. „Ja, sonst kriegt er nichts Warmes mehr zu essen“, verriet sie ihm. „Seine Frau hat da ganz strenge Prinzipien.“
„Sabbelbüdel“, brummte Sönke unwirsch.
Von der Brücke aus beobachtete Peter von Borgo das Schlauchboot, wie es an die Schute heranfuhr und an ihr festmachte. Blitzlichter flammten ein Dutzend Mal auf. Dann machten sich die Uniformierten daran, den Toten zu bergen und zu der breiten Landungstreppe, drüben hinter der Neuen Wegsbrücken, zu bringen. Für den Toten interessierte sich der Vampir nicht mehr. Er beobachtete die Kommissarin, wie sie ihr Diktiergerät aus der Jackentasche zog und leise Worte hineinsprach, sich bückte, um die Gesichtszüge des Toten zu betrachten, den zwei Uniformierte nun auf den Rücken gedreht hatten, wie sie tief in Gedanken eine Haarsträhne hinters Ohr schob, wie sie sich dem schon ergrauten Beamten neben sich zuneigte, um zu hören, was er ihr zu sagen hatte. Noch immer prickelte ihr Geruch in seiner Nase, und es drängte ihn, sie zu packen und an sich zu reißen, seine Zähne tief in ihren Hals zu tauchen, um den herrlichen Geschmack ihres Blutes zu kosten.
Nein! Die schlanken Finger umklammerten das Brückengeländer. Nun würde es sich zeigen, ob er seine Lektion gelernt hatte. Dieses Mal würde er sich zügeln. Dieses Mal würde er überlegt vorgehen und geduldig warten, bis die Zeit gekommen war, im höchsten Genuss zu schwelgen. Doch vorher würde er sie erkunden, würde jeden ihrer Schritte überwachen, bis er ihre Gedanken und Gefühle besser kannte als sie selbst. Ein Lächeln huschte über seine Lippen. Endlich ein Spiel, das es zu spielen lohnte. Endlich eine freudige Erregung in der stumpfsinnigen Langeweile seines ewigen Daseins.
Tief in Gedanken strich der Vampir durch die Nacht, griff wahllos nach einsamen Spaziergängern, um seinen Durst zu stillen, und ließ die Geschwächten dann achtlos am Straßenrand liegen, wo sie bis zum Morgen in einem Dämmerschlaf vergessen konnten. Als der Vampir im Morgengrauen sein Versteck hoch oben in der Speicherstadt wieder aufsuchte, lag noch immer ein seliges Lächeln auf seinen kalten Lippen.
„Moin“, grüßte Sabine Berner munter, warf ihre Tasche neben dem Schreibtisch auf den Boden und schälte sich aus ihrer regennassen Jacke.
„Hm“, lautete die Antwort ihres Kollegen, doch immerhin hob er die Hand und streckte zur Begrüßung zwei Finger aus. Das war für Sönke Lodering am frühen Morgen vor elf Uhr schon fast eine Liebeserklärung. Der Kriminalobermeister saß vor seinem Computerbildschirm, die Beine auf den Papierkorb gelegt, in den Händen einen dampfenden blau glasierten Becher. Die Kommissarin beugte sich vor und schnüffelte geräuschvoll.
„Ah, die Spezialmischung!“
„Hm“, brummte Sönke noch einmal und schlürfte das dunkelbraune Gebräu: echte Friesenmischung mit Kandis und Milch – nur aufgewölkt, auf keinen Fall umgerührt – und heute noch mit einem winzigen Schuss Rum. Schließlich war das Wetter umgeschlagen. Nach den milden, spätsommerlichen Tagen war heute Nacht ganz plötzlich der Nordwestwind erwacht und hatte kalte Regenschauer von der Küste her über Hamburg gejagt.
„Was machst du?“, startete Sabine einen weiteren Versuch, den Kollegen aus seiner Einsilbigkeit zu reißen.
„Vermisstenkartei“, gab Sönke zur Antwort, fügte dann aber überraschend ausführlich hinzu: „Hab unseren nassen Kunden aber noch nicht entdeckt.“
Sabine Berner trat hinter ihn und ließ den Blick über die Personenbeschreibungen wandern. Eigentlich waren die Kripoleute der einzelnen Hamburger Polizeireviere für Vermisstensachen zuständig. Über neunzig Prozent der vermissten Personen tauchten sowieso innerhalb der ersten zwei Tage wieder auf. Wenn nicht, wurde vor Ort eine Vermisstenanzeige aufgenommen und der Fall untersucht. Gleichzeitig ging eine Meldung an das LKA hinaus. Nach einer Weile wurden die Daten dann in die bundesweite Vermisstenkartei aufgenommen.
Sönke Lodering blätterte erst die Hamburger Einträge durch, dann die aus Schleswig-Holstein, aus Niedersachsen und Bremen.
„Passt alles nicht“, bestätigte Sabine Berner. „Entweder ein Zugereister oder einer, den niemand vermisst.“ Sönke nickte.
Da wurde die Tür heftig aufgestoßen, sodass sie krachend gegen den Aktenschrank schlug. Ein strahlendes Lächeln auf den Lippen, in der linken Hand eine Thermoskanne, in der rechten zwei Tassen, stürmte Klaus Gerret ins Büro.
„Moin“, schmetterte der junge Kommissar. „Alle Mann an die Pumpen! Wenn das so weiterregnet und -stürmt, dann bekommen die Leute unten an der Elbe heute noch nasse Füße in ihrer guten Stube.“
Mit einem Knall stellte er die Tassen auf den Schreibtisch. „Möchte wer ’nen Kaffee?“ Klaus strich sich das widerspenstige rotblonde Haar aus der Stirn und sah fragend von Sabine zu Sönke.
Der ergraute Kollege verdrehte gequält die Augen. Langsam schüttelte er den Kopf und brummte leise: „Quiddje!“
„Das ist nicht wahr!“, protestierte Klaus Gerret. „Ich bin in Hamburg geboren.“
„Wandsbek“, korrigierte Sönke.
„Mein Vater war echter Schiffsbauer!“
„Und deine Mutter ist aus Hessen! Nee, nee, wer schon so viel dumm Tuch am frühen Morgen snackt, der kann nur ein Quiddje sein.“ Sabine unterdrückte ein Grinsen und hielt Klaus ihre leere Tasse unter die Nase, um dem schon gewohnten Gezänk der beiden ein Ende zu bereiten.
„So sehr Quiddje wie ich kannst du gar nicht sein“, lachte sie und goss sich viel Milch in ihren Kaffee. „In Schwaben geboren und in Schwaben aufgewachsen.“
„Ja, das ist allerdings kaum zu übertreffen“, spöttelte Klaus und zwinkerte ihr fröhlich zu. „Doch um dienstlich zu werden, unser verehrter Herr Doktor bummelt heute Morgen Überstunden ab, und dann hat er als Erstes noch die Zugleiche auf dem Tisch. Seine Assistentin ist aber zuversichtlich, dass er unseren Froschmann nach seinem Vieruhrtee drannehmen kann.“
Sabine Berner nickte. „Gut, dann haben wir den Bericht morgen.“
„Vielleicht kann er ihn ja auch noch heute Abend durchfaxen“, meinte Klaus und warf sich das dritte Stück Zucker in seine Tasse.
„Ja, äh, aber ich wollte um vier gehen.“ Sabine sah ihre Kollegen entschuldigend an. „Ich muss noch einkaufen und ein wenig putzen ...“
„... damit dein Ex nicht rückwärts aus deiner Bude wieder rausfällt“, ergänzte Klaus, schnappte sich den Ordner mit den Spesenvordrucken und entfloh in das Büro nebenan, das er mit Uwe Mestern teilte, bevor Sabine ihm etwas an den Kopf werfen konnte.
Da das eine Opfer entkommen war, funkelte die Kommissarin das andere böse an. „Was hast du ihm erzählt?“
Sönke Lodering hob träge die Schultern. „Ich? Nichts! Sei nicht so gnatzig. Ich kann da nix für. Musst nicht gleich ’ne Karpfenschnut ziehen.“ Er wandte sich wieder seinem Tee mit Rum und dem Computer zu.
Es war nach sechs, als Sabine Berner, die dünne Jacke eng um sich gewickelt, den Kopf eingezogen, im kalten Nieselregen die breite Freitreppe des neuen Polizeipräsidiums hinuntereilte. Sie ließ den stattlichen sternförmigen Bau hinter sich und lief die Hindenburgstraße entlang zur U-Bahn-Haltestelle Alsterdorf. Ein wenig außer Atem ließ sie sich auf eine mit schwarzen Hieroglyphen verschmierte Bank sinken. Der Regen rann in feinen Fäden an den schmutzigen Scheiben herab.
Die Ul näherte sich der Altstadt, um sie dann langsam zu umkreisen: erst St. Pauli, dann hinunter zu den Landungsbrücken, wo eine Horde verregneter Rheinländer in den Zug drängte, die fröhlich und lautstark von ihrer Rundfahrt durch den Hafen schwärmten.
Da setzte sich ein Mann neben die Kommissarin. Er war groß, doch leicht untersetzt, fettiges Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und sich mindestens fünf Tage lang nicht rasiert. Seine Fingerkuppen waren gelblich vom vielen Rauchen.
Sabine rückte ein Stück näher zum Fenster und las die Überschriften der Hamburger Morgenpost, die eine Frau gegenüber aufgeschlagen hatte. „Mord in der Speicherstadt“ schrien die fetten Buchstaben. Sabine betrachtete das Foto von dem Toten und versuchte dann, den Artikel zu entziffern.
„Und, sind Sie mit Ihren Ermittlungen schon weitergekommen, Frau Berner?“, fragte plötzlich ihr Sitznachbar und beugte sich ein wenig näher zu ihr.
„Kennen wir uns?“, fragte Sabine so kalt wie möglich und warf dem aufdringlichen Kerl einen abweisenden Blick zu.
Er lachte leise. „Ich kenne Sie, denn es ist mein Beruf, alles zu wissen. Sie kennen mich noch nicht, haben aber vermutlich schon etwas von mir gelesen.“
„Ja und?“ Sabine zog eine Augenbraue hoch, doch ihr Banknachbar war für solche Signale nicht empfänglich.
„Ich bin freier Journalist“, berichtete er mit Stolz in der Stimme, „Frank Löffler ist mein Name.“ Er drückte Sabine eine Visitenkarte in die Hand. „Was halten Sie von einem Interview bei einem gemütlichen Essen? Ich lade Sie ein. Es kann doch nur in Ihrem Interesse sein, dass korrekt über die Arbeit der Kripo geschrieben wird.“
„Vergessen Sie es. Über laufende Verfahren sollte gar nicht berichtet werden.“ Mit einem Blick auf die Zeitung gegenüber fügte sie hinzu: „Und man sollte einen Todesfall erst dann Mord nennen, wenn auch erwiesen ist, dass es ein Mord war!“
„Ach“, stürzte sich Frank Löffler gleich auf ihre Worte. „Dann wissen Sie schon mehr über den Toten in der Speicherstadt? Woran ist er gestorben? Wer ist er? Handelt es sich um einen Milieumord?“
„Kein Kommentar! Sie verschwenden Ihre Zeit.“
Der Zug ratterte durch die Innenstadt, Haltestelle Rathaus, dann Mönckebergstraße. Plötzlich hielt der Reporter eine Kamera in der Hand.
„Darf ich ein Foto von Ihnen machen?“
„Nein!“, stieß Sabine ärgerlich hervor, doch da blitzte es schon zweimal hell auf. Die Frau ihr gegenüber ließ ihre Zeitung sinken und sah Sabine neugierig an.
Frank Löffler erhob sich und nickte ihr zum Abschied zu. „Vielen Dank für Ihre Hilfe“, spottete er und sprang dann leichtfüßig aus dem Wagen.
„So ein Idiot“, murmelte Sabine und vertiefte sich wieder in den Artikel, bis der Zug am Hauptbahnhof hielt.
Sabine schritt über den Bahnhofsplatz, am Biberhaus vorbei, in Richtung St. Georg. In einem kleinen Supermarkt erstand sie Fruchtzwerge, Schokoladeneis, Hundefutter und eine Großpackung Spaghetti, dann eilte sie zum Bäcker. Mit drei Tüten beladen, hastete die Kommissarin die Lange Reihe entlang. Ein Schaufenster zur Linken ließ sie innehalten. Sollte sie sich ein paar der unglaublich süßen Gebäckteile leisten?
„Ach was, die Nervennahrung kann ich sicher gebrauchen!“, murmelte sie und betrat das Persische Haus.
Maßhalten ist nicht deine Stärke, erklang die erzieherische Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf, als sie sich abmühte, die mit „Schnoopkrom“ – wie Sönke sagen würde – prall gefüllte Papiertüte bei ihren anderen Einkäufen zu verstauen.
„Tschüss dann, und einen schönen Abend“, rief sie der Verkäuferin zu, doch die hatte sich bereits dem schwarz gekleideten Mann zugewandt, der sich hinter Sabine in die Reihe gestellt hatte. Dass der Mann mit dem schulterlangen schwarzen Haar, ohne etwas zu kaufen, hinter ihr den Laden wieder verließ, bemerkte sie nicht.
Sabine Berner strebte einem weiß verputzten Haus aus der Gründerzeit zu. In der zurückgesetzten Eingangstür, zwischen dem kleinen Restaurant O’Porte und dem Kleiderladen für Krankenhausangestellte, zögerte sie.
Ich muss Jens wenigstens einen Wein anbieten, dachte sie, drehte sich um und sah unvermittelt in das blasse, glatt rasierte Gesicht eines Fremden. Sie sah schwarze Augenbrauen und lange, dunkle Wimpern auf blasser Haut, doch noch ehe sie sich von ihrem Schreck erholt hatte und ihn bitten konnte, sie vorbeizulassen, war er verschwunden, einfach weg, wie vom Erdboden verschluckt. Stirnrunzelnd überquerte die Kommissarin die Straße, ohne auf das wütende Hupen eines leicht verbeulten Golfs mit verdunkelter Heckscheibe zu achten.
„Ich habe ihn schon einmal gesehen“, murmelte die Kommissarin vor sich hin, als sie das Weindepot schräg gegenüber betrat. „Es ist noch nicht lange her, ich weiß es, und doch will mir nicht einfallen, wann und wo.“ Grübelnd zog sie die Stirn in Falten, während sie einen Picpoul de Pinet, eine Flasche Chianti und zwei Flaschen Prosecco in den Korb packte.
Die Speicherstadt!, durchfuhr es sie plötzlich, als sie der zierlichen Kassiererin einen Hunderter in die Hand drückte. Konnte das der merkwürdige Kerl vom Pickhuben gewesen sein? Warum konnte sie sich nur nicht mehr an sein Gesicht erinnern?
Ein Schatten strich am Schaufenster vorbei. Sabine spürte, wie es kalt in ihrem Nacken prickelte. Rasch trat sie einen Schritt vor und starrte auf die belebte Straße hinaus. Das Licht der Leuchtreklamen und Straßenlaternen schien auf nass glänzende Autos. Passanten schoben sich über den Gehweg, manche mit eiligem Schritt auf dem Heimweg, andere, unter bunten Regenschirmen, langsam an den Schaufenstern entlangbummelnd, doch kein finsterer Typ war zu sehen.
„Signora, Sie bekommen noch Geld zurück!“
„Ach ja, danke.“
Ein wenig verwirrt trat Sabine auf die Straße hinaus. Sie ließ den Blick noch einmal nach rechts und nach links schweifen, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken.
Frau Kommissarin, Sie sind zu misstrauisch, rügte sie ihren kriminalistischen Instinkt. Wahrscheinlich bin ich einfach überlastet!
Mit diesem Gedanken überquerte sie die Lange Reihe, schloss die Haustür auf und schleppte dann ihre Tüten zwei Treppen hoch. Sie sah nicht, wie der bleiche, schwarzhaarige Mann nur wenige Augenblicke später aus dem düsteren Durchgang trat, der in den Hinterhof und zu den Häusern an der Koppel führte. Reglos stand er einige Minuten vor der geschlossenen Haustür. Der Regen rann ihm über das Gesicht und tropfte in seinen Kragen, doch er stand nur da, die Augen geschlossen, und sog ihren Duft ein, bis der Regen auch den letzten Hauch davon weggespült hatte.
Peter von Borgo strich durch die nass glänzenden Straßen von St. Georg. Vor den warm erleuchteten Kneipen mit den Regenbogenfähnchen trafen sich junge Männer, umarmten sich herzlich zur Begrüßung oder küssten sich zärtlich auf den Mund. In der Bremer Reihe und am Steindamm suchten die Frauen ihre Stammplätze am Straßenrand oder an den Eingängen zu den zahlreichen Stundenhotels auf. Vorn am Steindamm standen junge, schlanke Frauen aus Polen und den ehemaligen Sowjetprovinzen, in der Bremer Reihe eine Handvoll deutscher Frauen in knallbunten Anoraks, kurzen Röcken oder Hosen und Stiefeln. Den meisten stand das harte Leben deutlich ins Gesicht geschrieben. Weiter unten, in der Brennerstraße, boten sich Mädchen aus Lateinamerika an. Der Hansaplatz gehörte den Junkies und Crackfrauen, die, je nach Zustand, für zehn Euro – den Preis eines Cracksteines – zu so manchem bereit waren.
Mit großen Schritten überquerte der Vampir den baumumgrenzten Platz mit dem Hansabrunnen. Im Windschatten des aufragenden Standbildes der Hammonia drängten sich drei Frauen zusammen. Gierig sogen sie den berauschenden Rauch aus den winzigen Pfeifen in ihre Lungen. Peter von Borgo runzelte angewidert die Stirn. Diesen Fehler würde er nicht noch einmal machen. Er konnte es riechen. In ihrem Blut kreisten die Reste eines Cocktails aus Heroin und Kokain, ihre Lungen waren angefüllt vom Rauch der Cracksteine. Die Drogen verliehen dem Blut nicht nur einen unangenehmen Geschmack, sie würden den Vampir in einen gefährlichen Rausch reißen, wenn er von ihm trank. Peter von Borgo bleckte die Zähne. Einmal war er so unvorsichtig gewesen, einen Junkie auszusaugen. Er hatte es bitter bereut. Nein, diesen Fehler würde er nicht noch einmal begehen.
Der Vampir beobachtete einen Freier, der zu einer Frau in Jeans und Regenjacke trat. Sie verhandelten hart. Immer wieder redete er auf sie ein, doch sie schüttelte den Kopf. Dann zog er einen Zwanziger raus und drückte den Schein in ihre Hand. Noch immer zögerte sie, doch dann folgte sie dem Mittfünfziger zu seinem BMW. Das gelbliche Licht der Straßenlaterne huschte über ein müdes Gesicht mit dick kajalumrandeten Augen.
Nein, ihm stand heute der Sinn nicht nach einem schnellen Mahl in einem schmutzigen Hinterhof, nicht nach ranzigem Schweiß und billigem Duftwasser. Er begehrte etwas ganz anderes. Mit einem Seufzer wischte er die Erinnerung an ihren unwiderstehlichen Duft beiseite und versuchte das Bild der blonden Kommissarin aus seinem Kopf zu verbannen. Der Tag war noch nicht gekommen. Und doch huschte die Ahnung von weichen Laken und seidigen Gewändern durch seinen Sinn, von fließendem Stoff, der weiche, weiße Haut mehr enthüllt denn bedeckt, von feinen bläulichen Bahnen, in denen der köstlich rote Saft pulsierend fließt.
„Sabine, du wirst mein sein“, flüsterte er. Der Schmerz in seiner Kehle breitete sich aus und erfasste bald den ganzen Körper, dass es ihn wie vor Kälte schüttelte. Er musste sich ablenken.
„Ronja“, lag ihm da plötzlich ein Name auf den Lippen. Ja, vielleicht konnte ihr süßes Blut auf seinen Lippen den Drang der Sehnsucht ein wenig lindern.
Die Ärmel ihres Sweatshirts hochgeschoben, den Staubsauger in der Hand, fegte Sabine Berner durch die Wohnung. Die dröhnende Stimme von Meat Loaf übertönte das Klingeln an der Tür. Als sie schwungvoll mit dem Sauger in den Flur einbog, schwang die Wohnungstür auf und ließ zuerst einen wild kläffenden Setter herein, dann ein blondes Mädchen mit wirrem, langem Haar und einen in weißem Hemd und dunkelgrauem Anzug korrekt gekleideten Herrn mit einem Koffer in der einen und einem bunten Kinderrucksack in der anderen Hand. Sabine brachte den Staubsauger zum Schweigen, sank in die Knie, schlang einen Arm um ihre Tochter und versuchte mit dem anderen, den Setter davon abzuhalten, ihr mit der Zunge über das Gesicht zu fahren. Auf dem Treppenabsatz draußen stand verlegen ein junger Mann in verwaschenem Trainingsanzug mit einem Schlüsselbund in der Hand.
„Sorry, Sabine, ich habe aufgeschlossen, weil du nichts gehört hast und ich dachte, das geht in Ordnung. Ich wollte gerade noch ’ne Runde joggen gehn, weil mir die nächste Szene noch nicht so gefällt, und da dachte ich, mir kommt ein guter Gedanke, wenn ich mich bewege.“
Sabine hob eine Hand, um die Rechtfertigungen ihres Nachbarn zu beenden. „Ist gut, Lars, ich danke dir.“
„Da nicht für“, rief er, winkte und rannte dann die Treppe hinunter.
„Was ist das denn für ein komischer Vogel?“, fragte Jens Thorne mit erhobener Stimme, um das Gewinsel des Hundes zu übertönen, der nun enge Kreise um Sabine und Julia zog.
„Platz, Leila, Platz!“ Sabine schob die Wohnungstür zu. „Das war Lars Hansen von nebenan, und er ist Schriftsteller. Immer wenn ihm nichts mehr einfällt, dann geht er joggen. Aber sonst ist er ganz normal“, fügte sie hinzu, während sie den Staubsauger in den Schrank am Ende des Flurs presste.
Jens Thorne, der Hamburger Staranwalt, ließ seinen Blick vom eilig zusammengebundenen Pferdeschwanz über das ungeschminkte Gesicht seiner Exfrau, das ausgeblichene graue Sweatshirt und die Jeans bis hinunter zu den dicken Wollsocken wandern. Seine Augenbrauen näherten sich einander, und eine steile Falte erschien auf seiner Stirn. Von unten erklang ein Saxofon, dann jazzige Klavierklänge.
„Musiker!“, erklärte Sabine und schob Exmann und Kind ins Wohnzimmer. Jens Thorne ließ sich in den abgewetzten Sessel fallen.
„Dass du immer noch hier wohnst!“ Seine Stimme hatte einen nörgelnden Klang angenommen. Sabine seufzte, setzte sich aufs Sofa und nahm Julia in die Arme, die sich gähnend an die Mutter kuschelte. Sabine wusste genau, was nun kommen würde, und richtig: „Ich finde das unmöglich, dass du in St. Georg wohnst. Zwischen all dem Gesindel: Nutten, Zuhälter, Schwule und Drogenabhängige.“
Es lag ihr auf der Zunge, dass sie Schwule nicht zu Gesindel zählte und es außerdem in St. Georg klare Grenzen gab. Hier in der Langen Reihe fand man Kneipen, Cafés und Weinlokale, Künstler und Studenten, doch keine Junkies oder Zuhälter.
„Du musst auch mal an mich denken. Was glaubst du, was das für einen Eindruck macht, wenn meine Geschäftsfreunde erfahren, dass meine geschiedene Frau in St. Georg wohnt“, fuhr Jens ungehalten fort.
„Dann erzähle deinen feinen Geschäftsfreunden doch einfach, dass ich in der Nähe der Alster wohne. Das hört sich doch gleich viel vornehmer an“, schlug Sabine vor, erntete aber nur einen vorwurfsvollen Blick.
„Nicht genug, dass du dich beruflich in diesem Milieu herumtreibst.“
„Ja, da sind deine Klienten natürlich viel besser. Sie tragen Anzüge und haben nur ein paar Urkunden gefälscht und ein bisschen betrogen und Steuern hinterzogen und so’n Kram, nicht wahr, Herr Anwalt?“ Sie funkelten sich wütend an.
„Mama, ich habe Hunger!“, brachte sich Julia den Streithähnen wieder ins Gedächtnis.
Sabine lächelte ihre Tochter an. „Dann gehen wir am besten gleich in die Küche und kochen zusammen Spaghetti.“
Das schien auch nach Leilas Geschmack zu sein, die hektisch mit dem Schwanz zu wedeln begann, nur Jens verzog das Gesicht.
„Ich dachte, wir gehen essen. Was hältst du davon, zum Anleger Teufelsbrück hinunterzufahren und im Hotel Jacob schön zu speisen?“
Sabine schüttelte energisch den Kopf. „Das wird für Julia viel zu spät. Du musst ja keine Tomatensauce essen. Ich mache dir eine Sahnesauce mit Steinpilzen, es ist Prosecco und Chianti da, außerdem war ich im Persischen Haus.“
Mit einem Glas Prosecco in der Hand und der Aussicht auf persische Süßigkeiten zum Nachtisch ergab sich Jens Thorne in sein Schicksal, während Sabine in der Küche mit den Töpfen klapperte.