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Spurlos verschwunden

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„Der Fall ist gelöst!“, schmetterte Klaus Gerret, als er zwei Wochen später ins Büro seiner Kollegen stürmte. Hauptkommissar Ohlendorf folgte ihm gemächlich. Sönke Lodering, der mit trübem Blick aus dem Fenster gestarrt hatte, zuckte zusammen. Gemächlich nahm er die Beine von der herausgezogenen Schublade.

„Na, willst du gar nicht wissen, was wir bei dem Verhör herausbekommen haben?“, drängte Klaus den grauhaarigen Kollegen.

„Der Kerl hatte eine Heuer auf irgendeinem Kahn, hat sich bei seinem Landgang zugesoffen und ist dann selbst ersoffen. Und dann hat ein guter Freund für ihn gelogen, weil er dacnte, er hätte die Abfahrt verpennt“, antwortete Sönke und nahm einen großen Schluck Tee aus seinem Pott.

Die Mundwinkel des jungen Kommissars sanken herab. „Aber woher weißt du das? Du warst doch gar nicht bei dem Verhör dabei?“

Verstört sah er von Sabine zu Hauptkommissar Ohlendorf, die sich angesichts der tiefen Bestürzung ein Grinsen nicht verkneifen konnten.

„Kind, ich habe einfach meinen Grips verwendet, statt hier so nervös rumzuhibbeln und unnütze Reden zu schwingen. Erfahrung macht’s, nicht den Hintern auf der Schulbank breit drücken und sich dann Titel an die Tür kleben!“ Die zufriedene Miene verschwand wieder im Teebecher.

„Besser seinen Kommissar auf der Fachhochschule ehrlich erwerben, als ihn als Gnadenbrot zum Vierzigsten zu bekommen!“

In seinem Ärger ignorierte Klaus den warnenden Blick, den Sabine ihm zuwarf. Mit einem Knall stellte Sönke den Becher auf seinen Schreibtisch, sodass der Tee bis über den Rand schwappte. Langsam erhob er sich und stemmte die Hände in die Hüften.

„Was die dort in der Verwaltung machen, ist mir schnurz. Ich bin und bleibe Kriminalobermeister, und ich bin stolz darauf!“

Bevor der sinnlose Streit ausuferte, machte Thomas Ohlendorf von seinem Chefposten Gebrauch, brachte Sönke mit einer Handbewegung zum Schweigen und schickte Klaus in sein Büro, um einen Entwurf des Abschlussberichts zu schreiben.

„Sönke, mach mal eine Liste zum Umfeld des erstochenen Typen aus Billstedt. Ich will alle, von der Oma bis zur Geliebten. Und du, Sabine, kommst mit zu mir. Wir gehen die Strategie für morgen mal durch. ,Der große Kalle’ ist ein harter Brocken!“ Sabine griff nach ihrem Notizblock, als ihr Telefon klingelte.

„LKA 41, Berner?“

Geduldig blieb Hauptkommissar Ohlendorf in der Tür stehen.

„Hören Sie, Frau Pless, Sie sind hier bei der Mordbereitschaft gelandet, das betrifft uns nicht. – Ja, das Kind ist schulpflichtig, und die Mutter macht sich strafbar, wenn sie das Kind nicht regelmäßig zur Schule bringt. Rufen Sie doch mal beim Jugendamt an. – Nein, dass die Mutter sich prostituiert, hat damit nichts zu tun. – Ja, da haben Sie schon recht, wir haben in unserer Abteilung auch eine Vermisstenstelle, doch das ist nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen. Wenn Sie das Kind als vermisst melden wollen, dann müssen Sie sich an das örtliche Revier wenden. Von wo rufen Sie an? – Dann ist die Dienststelle am Steindamm zuständig.“

Sabine Berner lauschte noch eine Weile der fernen Stimme, sagte Ja und Nein und legte dann mit einem Knall den Hörer auf.

„Es war der Dame ein Herzenswunsch, sich über die Polizei zu beschweren, die immer erst dann etwas tut, wenn schon was Schlimmes passiert ist. Muss das Kind erst ermordet werden, damit ihr euch dafür interessiert, hat sie mir an den Kopf geworfen.“

„Die Antwort darauf lautet: Ja“, grunzte Sönke und wischte mit seinem Taschentuch den verschütteten Tee von der Schreibunterlage. „Ist nicht umsonst die Mordbereitschaft hier, oder?“

Seit zwei Stunden schritt Peter von Borgo die laut dröhnende Hindenburgstraße entlang. Unter der Brücke hindurch, über die alle paar Minuten eine U-Bahn donnerte, dann zwischen den herbstlich gefärbten Bäumen zur Rechten und der belebten Straße zur Linken, vorbei am runden, zehnstöckigen Turm, in dem die Polizeigewerkschaft residierte, bis zu der großzügigen Einfahrt, die zum sternförmigen Polizeipräsidium und zur Polizeikaserne führte. Er strich noch ein Stück an den Zäunen der Kaserne entlang, bevor er umkehrte und den Rückweg antrat. Der eisige Nordwestwind, der an seinem schwarzen Mantel zerrte, störte ihn nicht. Er fieberte dem Augenblick entgegen, da sie über die Freitreppe herunterkommen würde, ihre Jacke eng um sich geschlungen, den Kopf gesenkt, um mit schnellem Schritt der U-Bahn entgegenzueilen. Er wusste, dass er sie nicht verpasst hatte. Ganz deutlich konnte er es spüren: Sie war irgendwo in diesem Gebäude.

Sollte er hineingehen und sie aufsuchen? Der Gedanke prickelte verlockend, doch da erschien die Ersehnte hinter den Scheiben der Schwingtür. Der Vampir wartete im Schatten eines ausladenden Ahornbaumes, bis die Kommissarin an ihm vorüber war, und folgte ihr dann langsam. Ganz dicht stieg er hinter ihr in die U-Bahn, sodass er sich für einen Moment an ihrem Duft berauschen konnte, dann setzte er sich auf die andere Seite des Ganges – so nah, dass er sie sehen und fühlen konnte, doch weit genug weg, dass sie nicht von seiner Aura gefangen genommen wurde.

Sabine Berner war tief in Gedanken. Das Verhör des alten Kiezganoven beschäftigte sie. Kalle hatte eine Villa an der Elbchaussee, ein Landhaus auf Sylt und eine bescheidene Zweihundert-Quadratmeter-Wohnung an der Alster. Es war nicht ganz klar, in welchen Kneipen, Videotheken oder Sexshops er überall seine Finger drin hatte, doch den Kiez und seine Spieler kannte er genau. Er war bei „König“ Willi Bartels ein und aus gegangen, zählte den „schönen Klaus“ und „Karate-Thommy“ zu seinen Freunden, doch die Zeit der deutschen Kiezgrößen war längst vorbei. Es waren die Kurden und Albaner und auch die Russen, die der Kripo Kopfschmerzen bereiteten, weil sie ihre Streitigkeiten nicht mit den Fäusten beilegten, sondern mit dem Messer oder einem Kugelhagel. Und doch kannten sich Leute wie Kalle noch immer aus, und manches Mal waren sie auch bereit, mit der Kripo einen Deal einzugehen – natürlich nur gegen die ausländische Mafia und wenn es sich wirklich für sie lohnte.

Fröstelnd wickelte sich Sabine ihren Schal um den Hals. Ihre Sinne waren plötzlich hellwach, der Kiez und Kalle vergessen. Irgendjemand beobachtete sie. Sie konnte es spüren. Unauffällig musterte die Kommissarin die Leute, die sich inzwischen dicht an dicht in dem Wagen drängten. Ihr Blick tastete über Gesichter und Gestalten und blieb dann an einem dunklen Haarschopf hängen. Glattes, schulterlanges Haar, im Nacken zusammengebunden. Er hatte das Gesicht abgewendet, doch es war ihr, als spiegelten sich rot glühende Augen in den schmutzigen Scheiben.

„Hauptbahnhof“, knarrte die Lautsprecherstimme. Hastig griff die Kommissarin nach ihrer Tasche und drängte sich hinaus auf den Bahnsteig. Ein paarmal sah sie sich noch um, als sie die Rolltreppe hinauffuhr und dann über den Bahnhofsplatz eilte, doch sie konnte den schwarzhaarigen Typen nirgends entdecken.

„Du spinnst!“, schalt sie sich selber.

In einigem Abstand folgte Peter von Borgo der Kommissarin durch den Steintorweg und die Bremer Reihe. Sie bog nicht in Richtung Alster ab, sondern folgte der Brennerstraße bis fast zu ihrem Ende. Sabine Berner strebte einem vom Zahn der Zeit angenagten Klinkerbau zu. Neben der Eingangstür wies ein Schild: Zentralambulanz für Betrunkene, Eingang im Hinterhof zu einem Nebengebäude des Krankenhauses St. Georg, die Kommissarin jedoch stemmte die quietschende Tür des Eckhauses auf und stieg die ausgetretene Linoleumtreppe zum „Ragazza“ hoch.

„Hallo, Frauke“, grüßte sie die Krankenschwester im weißen Kittel, die, in der einen Hand ein Bündel Einwegspritzen, in der anderen Verbandsmaterial, den Flur entlangkam. „Weißt du, wo Ingrid ist?“

Die Schwester sah auf ihre Armbanduhr. „Ingrid hat noch eine halbe Stunde Dienst im Konsumraum. Willst du so lange einen Tee trinken? Geh doch einfach in die Küche. Ich habe noch ein paar Klientinnen zu verarzten.“

Sabine Berner nickte. Sie warf einen Blick ins Café, in dem sich ein knappes Dutzend Frauen versammelt hatten. Die meisten waren jung, doch ihre Gesichter vom Leben auf der Straße gezeichnet. Eine Mitarbeiterin tauschte ihnen die gebrauchten Spritzen aus, im Nebenraum schliefen zwei Frauen auf den verblichenen Polstermöbeln.

„Ach, Frau Berner“, rief eine der Mitarbeiterinnen aus der Küche. „Trinken Sie einen Tee mit uns?“

Sabine hatte die zweite Tasse Rooibostee gerade geleert, als Ingrid Kynaß in die Küche trat. Zwei Jahre arbeitete die Sozialpädagogin nun schon für den Verein „Ragazza“, der drogenabhängigen Prostituierten nicht nur einen Treffpunkt und warmes Essen zur Verfügung stellte, sondern auch Beratung und ärztliche Hilfe anbot. Mit einem Lächeln nahm Ingrid Kynaß einen dampfenden Becher entgegen.

„Danke, das brauche ich jetzt.“ Sie schnitt eine Grimasse. „Nee, die Arbeit im Konsumraum gehört nicht zu meinen Favoriten.“ Sabine schwieg. Den Sinn eines Konsumraumes, in dem die Frauen unter Aufsicht einer Mitarbeiterin sich ihren Schuss setzen oder ihre Crackpfeife rauchen konnten, hatten sie schon ausführlich durchdiskutiert. Draußen auf dem Flur wurden Stimmen laut.

„Ich geh doch nicht zu den Polypen!“, rief eine Frau aufgebracht. Eine ruhige Stimme antwortete ihr. Dann wieder die aufgeregte Besucherin.

„Klar bin ich sicher. Wenn sie die Biege gemacht hätte, dann wäre ihr Zeug doch weg und würde da nicht so rumliegen, oder?“

Ingrid erhob sich und trat in den Gang hinaus, Sabine folgte ihr.

„Was ist denn hier los?“, wandte sie sich an die junge Frau in Jeans und Pulli.

„Ich hab das Tanja gerade schon gesagt. Ronja ist weg und die Kleine auch, schon seit vier Tagen. Da stimmt was nicht. Bestimmt hat der Holger, dieser Arsch, ihr eine über den Kopf gezogen.“

Ingrid Kynaß hob die Hände. „Langsam, Nadine, wer ist Ronja, und warum sollte der Holger – wer auch immer das ist – ihr eine über den Kopf gezogen haben?“

Die junge Frau räusperte sich genervt. „Ronja heißt eigentlich Edith Maas, doch das ist nicht gut fürs Geschäft. Sie schafft für den Holger an, in ’ner piekfeinen Modellwohnung. Ihre Kleine ist sechs und heißt Lilly. Die wohnt jetzt bei ihr, seit Ronjas Mutter im Heim ist. Und von beiden hab ich seit vier Tagen nicht ’nen Faden mehr gesehen. Ich war bei Ronja, wir wären ja verabredet. All ihr Zeug ist noch da.“ Nadine errötete leicht und zog dann geräuschvoll die Nase hoch. „Ich sag, der ist was passiert.“

„Ich habe ihr geraten, eine Vermisstenanzeige aufzugeben, doch Nadine will nicht zur Polizei gehen“, mischte sich Tanja ein, die erst seit Kurzem für „Ragazza“ arbeitete.

Die Kommissarin musterte die junge Frau. Sie war groß, mager, das Gesicht eingefallen und gelblich, das fettige braune Haar hing strähnig herunter. Sie trug einen schmutzigen Pullover, zerrissene Jeans und klobige Turnschuhe.

Lilly Maas, der Name klang bekannt in ihren Ohren. Sabine runzelte die Stirn. Richtig, der Anruf der Lehrerin, die sich beklagt hatte, dass das Kind schon wieder nicht zur Schule gekommen war.

Spätabends, als sich Sabine Berner unter ihre warme Decke kuschelte, dachte sie immer noch an das sechsjährige Mädchen und ihre Mutter, die Hure, die sich Ronja nannte. War ihnen wirklich etwas passiert? Oder waren sie aus ihrem alten Leben geflohen? Oder einfach nur ein paar Tage verreist? Die Gedanken entglitten ihr. Das Mädchen nahm immer mehr die Züge von Julia an. Das Kind lief durch einen dunklen Wald, Zweige peitschten in sein Gesicht, Panik verzerrte seine Züge. Immer wieder sah sich das Kind gehetzt um. Ein Mann huschte lautlos durch das Unterholz. Unerbittlich kam er näher. Sabine erkannte das weiße Gesicht und das schulterlange schwarze Haar. Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Sie versuchte zu laufen, wollte zu ihrer Tochter, doch etwas hielt ihre Beine fest. Ihre Lippen formten die Worte, doch kein Laut wollte über sie kommen. Das Kind schrie. Der Fremde hatte das Mädchen fast erreicht, als er plötzlich innehielt und sich Sabine zuwandte. Ganz langsam kam er näher, unaufhaltsam, Stück für Stück. Sie konnte das Feuer hinter seinen Augen lodern sehen und spürte den eiskalten Atem im Gesicht. Wie Fesseln legte er seine Arme um sie, Finsternis drohte sie zu verschlingen, ein heißer Schmerz durchzuckte ihre Glieder. Sabine wand sich und stöhnte, doch plötzlich merkte sie, dass sie in ihrem Bett lag, das Kissen fest an ihre Brust gedrückt. Die flehenden Schreie ihrer Tochter verklangen.

Sabine fühlte ihr Herz rasen. War sie wach? Hatte der Albtraum sie freigegeben? Nein, der Fremde war noch immer da. Sie konnte ihn fühlen. Er war ganz in ihrer Nähe. Wenn sie jetzt die Augen öffnete, dann würde sie ihn sehen, wie er auf ihrer Bettkante saß und sie aus brennenden Augen betrachtete. Kalte Finger legten sich auf ihre Stirn. Ihr Herz setzte einen Moment lang aus, um gleich darauf umso heftiger zu schlagen, doch dann sank sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Peter von Borgo erhob sich. Stunden hatte er an ihrem Bett zugebracht, nun wurde es Zeit, seine Gier zu stillen, ehe er in sein Versteck auf dem Teeboden im Block P der Speicherstadt zurückkehrte.

Bevor er die Wohnung verließ, schlüpfte er noch ins Bad. Er roch an ihrem weißen Frotteebademantel, öffnete die Fläschchen und Cremedosen und ließ den Duft um sich aufsteigen. Da fiel sein Blick auf den Wäschekorb. Mit spitzen Fingern hob er den Deckel, legte T-Shirts und Socken auf den Boden, eine graue Stoffhose, ausgeblichene Jeans, einen satinglänzenden BH, ein dunkelrotes Höschen mit Spitzeneinsatz, zwei schwarze, schmal geschnittene aus Baumwolle. Und dann fand er das, worauf er gehofft hatte: das dunkelblaue Satinnachthemd. Er versenkte sein Gesicht in dem glatten Stoff und sog ihren Geruch in sich auf. Eine Weile verharrte er so, dann stopfte er die Wäschestücke zurück in den Korb. Nur das Satinhemd behielt er, verbarg es unter seinem Mantel und verließ die Wohnung.

Den Tag über ruhte er in seiner schmalen Kiste hoch über dem Wandrahmsfleet, den Kopf in Sabines Nachtgewand gebettet. Der Geruch nach Tee, nach Kakao und Gewürzen wurde nun durchzogen von dem süßen Duft ihrer Haut, ihres Haares und ihres Blutes.

Den ganzen Tag gingen der Kommissarin die Bilder nicht mehr aus dem Kopf, und auch am Freitag ließen sie sich nicht vertreiben. Wo waren das kleine Mädchen und seine Mutter? Nur schwer konnte sie sich auf die Befragungen konzentrieren. Am Nachmittag klappte sie die Akte „Karl Eduard Meschke“ energisch zu.

„Wahrscheinlich sind die beiden längst wieder aufgetaucht, gesund und quietschvergnügt“, murmelte Sabine, während sie die neuesten Eintragungen der Vermisstendatei aufrief.

„Edith Maas, Künstlername Ronja“, erschien auf dem Bildschirm. „Alter: 26 Jahre, Größe ca. 175 cm, blaugraue Augen, schwarz gefärbtes, langes Haar.“

Sabine wechselte auf die nächste Seite.

„Lilly Maas, Alter: 6 Jahre, Größe ca. 110 cm, blaue Augen, langes, rotblondes Haar, gelockt, kleine Narbe neben dem linken Auge.“

Darunter stand die Telefonnummer des örtlichen Polizeikommissariats. Sabine Berner griff zum Hörer.

„Berner, LKA 41, hallo, können Sie mir Auskunft über zwei in Ihrem Bezirk vermisste Personen geben? Edith und Lilly Maas, ja, die Meldung wurde gestern Nachmittag gemacht. Danke, ich warte.“

„Richter“, meldete sich eine weibliche Stimme. Sabine Berner stutzte.

„Sandra?“, fragte sie zögernd. „Sabine Berner hier.“

„Hallo, Sabine, wie geht es dir? Was will das Morddezernat denn von uns kleinen Kripoleuten am Steindamm?“

„Ich wusste gar nicht, dass du zur Kripo gewechselt hast. Ach, das waren noch Zeiten, als wir zusammen auf Streife waren.“

„Ja, Frau Chefin, und es war dem Rickmer immer ein Dorn im Auge, zwei Frauen zusammen auf die Straße zu lassen. Aber du warst ja schon so reif und erfahren und ...“

„Wenn du jetzt alt sagst, dann kannst du was erleben“, entrüstete sich die Oberkommissarin.

Sandra Richter kicherte. „Nein, nein, die fünf Jährchen! –Doch du rufst sicher nicht an, um mit mir über alte Zeiten zu plaudern.“ Der Ton der frisch gebackenen Kommissarin wurde wieder ernst.

„Nein, da hast du recht. Mich interessiert der Vermisstenfall Edith und Lilly Maas. Hast du ihn aufgenommen?“

„Ja, eine Mitarbeiterin von ,Ragazza‘ war gestern bei mir. Außerdem habe ich auf der Straße mit einer Freundin dieser Ronja gesprochen. Ich konnte sie überreden, mich mit in die Wohnung zu nehmen.“

„Hast du Fotos von den Vermissten?“

„Ja, soll ich sie dir schicken?“

Sabine Berner überlegte. „Ich hab hier noch einiges auf dem Tisch. Was hältst du davon, mit mir nachher ins Gnosa zu gehen und die Sache in Ruhe durchzusprechen?“

„Meinst du die Schwulenkneipe in der Langen Reihe?“

„Ja, genau. Sagen wir um halb neun?“

„Ist gut, bis dann. Ich bringe alle Unterlagen mit.“

Der Vampir erwachte wie immer, sobald die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war und ihr letzter Strahl auf den Wipfeln der Bäume oben am Süllberg erlosch. Nachdem er einige Tage in seinem Versteck in der Speicherstadt zugebracht hatte, hatte es ihn letzte Nacht zu seiner Villa nach Blankenese zurückgezogen.

Langsam erhob er sich, stieg die Treppe vom Keller hoch und schritt dann durch die Halle hinüber in den Salon. Der Himmel war wie von rauchigem Glas, noch immer flammte über dem Fluss ein letzter Hauch von Purpur. Für einen Tag war der goldene Herbst zurückgekehrt, der Wind war eingeschlafen, und die Sonne hatte die erfrorenen Gemüter gewärmt.

Peter von Borgo drückte die großen Flügeltüren auf und ließ den Abendgesang einer Amsel herein. Eine kühle Brise strich von der Elbe empor, wo einsam ein Schlepper silberne Streifen durch das glatte Wasser zog.

Wie hatte er sich nach diesem Ausblick gesehnt. Nach einigen Tagen und Nächten in der Stadt zog es ihn immer wieder in die Stille seiner Villa zurück.

Der Vampir trat zurück ins Dämmerlicht des Zimmers und hob den Deckel des schwarz glänzenden Steinwayflügels. Der Hocker scharrte auf dem Parkett, als er ihn zurechtrückte und sich auf dem Lederpolster niederließ. Er streckte die schlanken Finger, legte sie auf die elfenbeinfarbenen Tasten „ und schloss dann die Augen. Ein paar Atemzüge lang regte er sich nicht, doch dann glitten die weißen Finger flink und schwerelos über die Tasten. Chopins Fantaisie-Impromptu schwang sich zur stuckverzierten Decke empor, schwebte durch die Flügeltüren hinaus in den verwilderten Park und ließ die Amsel den Schnabel zuklappen und lauschend den Kopf zur Seite neigen.

Eine von Chopins Etüden, noch ein wenig Dvor̆ák und Beethovens Mondscheinsonate, dann endlich lag die Nacht samtschwarz über den steilen Geesthängen von Blankenese. Peter von Borgo trat auf die Terrasse und schlenderte über moosbewachsene Sandsteinplatten hinweg. Unter den Ästen einer weit ausladenden Eiche blieb er stehen. Auf dem Weg jenseits der dichten Rhododendren hörte er gedämpfte Schritte. Peter von Borgo hielt inne, um zu lauschen. Es war der beschwingte Gang der Jugend, voller Ungeduld und freudiger Erwartung. Früher hatte die Mode nur den Burschen solch einen eiligen Schritt gestattet, doch seit die Frauen und Mädchen Hosen trugen, hatten sie eine nie gekannte Freiheit der Bewegung hinzugewonnen.

In den erdigen Geruch des feuchten Gartens mischte sich der Hauch der Süße von warmer junger Haut. Der Vampir schloss die Augen und sog den Duft genießerisch in sich ein. Ein junges Mädchen eilte dort hinter den Hecken den Weg zur Elbe hinab. Sollte er ihr folgen? Die Nasenflügel bebten. Hinter seiner Oberlippe schoben sich zwei spitze Zähne langsam nach vorn. Eigentlich vermied er es, zu nah an seinem Domizil auf Jagd zu gehen, doch der Hauch, der nun in der Nacht verwehte, hatte seine Gier entfacht.

Mit raschen Schritten erreichte er eine Lücke im dichten Gebüsch, schob sich hindurch und huschte dann lautlos den Weg entlang. Zu beiden Seiten ragten hohe Hecken auf. Der Abendwind wisperte in den Wipfeln der alten Bäume oben am Geesthang, doch sein Sinn spürte nach dem jungen Blut, das warm hinter rosiger Haut pochte. Das Mädchen war so schnell gelaufen, dass er den frischen Schweiß riechen konnte, der sich zuerst im Nacken unter dem langen Haar und dann an den Schläfen bildete.

Sie war ganz nah. Er witterte sie, noch ehe er um die Ecke bog. Noch unbemerkt, blieb Peter von Borgo stehen, um sie in ihrer ganzen Gestalt zu erfassen, wie sie dort auf der verwitterten Bank saß. Sie war wirklich sehr jung, kaum vierzehn Jahre alt. Das lange, rot gefärbte Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, um den Hals ein anliegendes Band verschlungener schwarzer Fäden. Ihre olivgrüne Jacke war offen und ließ den Blick auf das enge Oberteil frei, unter dem sich die Brüste wölbten. Zwischen dem Spitzenrand des Tops und dem breiten Gürtel ihrer Jeans glänzte ein blassrosa Stein in ihrem Bauchnabel, die Füße steckten in klobigen Turnschuhen. Langsam trat der Vampir näher. Nun kam der Moment, in dem sie ihn bemerken durfte.

Das Mädchen zuckte zusammen, als es plötzlich den hochgewachsenen Mann in Schwarz entdeckte, kaum zwei Schritte von ihr entfernt. Das Licht der Mondsichel enthüllte ein glattes weißes Gesicht und schwarzes Haar, im Nacken mit einem Band zusammengehalten. Peter von Borgo spürte die Feindseligkeit, die ihm entgegenbrandete, dennoch nickte er dem Mädchen auf der Bank zu, wünschte einen guten Abend und trat noch einen Schritt näher. Sie knurrte unwillig und verschränkte ablehnend die Arme vor der Brust.

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte er höflich.

„Nein, mein Freund kommt gleich“, lehnte sie trotzig ab, dennoch ließ er sich auf das raue Holz sinken.

„Ich werde mich gleich zurückziehen, sobald er erscheint“, versprach Peter von Borgo mit freundlicher Stimme, doch sie rutschte noch ein Stück weiter von ihm weg. Wieder witterte er ihren Schweiß, doch dieses Mal schwang in ihm leise Furcht, die auch in ihrer Stimme klang, als sie sagte:

„Er muss jeden Moment hier sein!“

Der Vampir rückte näher. „Aber ja, er kommt sicher gleich“, hauchte er und hob die Lider, die bisher mit den dichten, schwarzen Wimpern seinen Blick verdunkelt hatten. Das Mädchen schrie leise auf, als es in die tiefroten Augen starrte.

„Aber so etwas gibt es doch gar nicht“, stöhnte sie. Ihre Augen, die bei Tageslicht vielleicht grünlich schimmerten, waren nun geweitete schwarze Löcher aus Angst.

„Nein, nur in Büchern oder Filmen“, stimmte er ihr zu, rutschte noch ein Stück näher und legte seinen Arm um ihre Taille. Sie würde nicht schreien, ja, sich nicht einmal wehren. Ihre Angst verblasste, der Blick wurde trüb. Der Vampir bog ihren Kopf ein Stück nach hinten, sodass sie ihm die warm pulsierende Kehle bot, dann senkten sich seine spitzen Zähne in das junge Blut.

„Verfluchte Scheiße, was machen Sie da?“

Wenn Peter von Borgo eines hasste, dann in seinem Genuss gestört zu werden. Er ließ das Mädchen auf die Bank sinken und wandte sich dem jungen Mann zu, der, die Hände in die Hüften gestützt, ihn wütend anfunkelte.

„Verdammt, nimm deine dreckigen Finger von meiner Freundin!“ Er ballte die Fäuste, bereit, sich auf den Nebenbuhler zu stürzen.

Der Vampir erhob sich und trat zu ihm. Er wich dem Faustschlag aus und fing dann den Arm des Angreifers ab. Der junge Mann stöhnte vor Schmerz, als sich die schlanken Finger des Vampirs um sein Handgelenk schlossen. Rote Augen blitzten in der Dunkelheit.

„Du hast mich gestört! Außerdem mag ich den Tonfall nicht, in dem du mit mir sprichst.“

Er hatte die Stimme nicht erhoben, doch seinem Gegenüber brach der Angstschweiß aus allen Poren. Peter von Borgo zwang ihn in die Knie und sah nachdenklich auf ihn hinab. Ein schmales Gesicht mit Dreitagebart, eine muskulöse Brust unter dem verwaschenen T-Shirt. Er roch ein wenig nach Benzin, nach Bier, Matjes und Zwiebeln, doch auch nach kräftiger Männlichkeit. Peter von Borgo zog ihn mühelos hoch, schob den Kragen der Lederjacke beiseite und biss zu.

Beschwingt trat der Vampir den Rückweg an. Heute war ihm nicht nach lärmender, stinkender Großstadt in der unerträglichen Helligkeit tausender Neonlichter. Und Sabine? Nein, heute nicht. Die vielen Stunden, die er bewegungslos an ihrem Bett zugebracht hatte, zerrten an seinem Verstand. Heute sehnte er sich nach der Weite eines offenen Feldes, nach den Geräuschen und Gerüchen eines nächtlichen Waldes.

Peter von Borgo schob die Hayabusa aus der Garage. Das schmiedeeiserne Tor öffnete sich geräuschlos und schloss sich dann hinter ihm wieder. Er fuhr die Rissener Landstraße durch den Waldpark, die Mondsichel verbarg sich hinter Wolken, vielleicht würde es doch wieder regnen. Versteckte Villen hinter Gittertoren huschten im Lichtschein vorbei. Der Vampir beschleunigte die schwere Maschine. Der Fahrtwind blies ihm mit aller Macht ins Gesicht und zerrte an seinem Haar. Bald schon hatte er Rissen erreicht.

Langsam fuhr er den Klövensteenweg entlang. Hinter der Brücke stellte er die Maschine ab. Er verließ den Weg und lief durch den Wald. Der Himmel hatte sich nun völlig verdunkelt. Windböen rauschten in den gelb verfärbten Birkenwipfeln und trieben dichte Wolkentürme von Westen heran.

Der Rausch der Nacht weckte den Wolf in ihm. Sein Geheul stieg zu den windzerzausten Wipfeln empor. Der Vampir folgte der Spur eines Fuchses ins dichte Unterholz, überquerte eine Lichtung, auf der ihn zwei Rehe aus ängstlichen braunen Augen anstarrten. Es roch nach feuchtem Gras und moderndem Laub. Er witterte den Dachs tief unten in seinem Bau und die Mäuse, die flink in ihren Löchern verschwanden. Nach dem breiten Feldweg, den er überquerte, begann das Schnaakenmoor. Birken ragten aus der glänzenden Wasserfläche, totes Holz, ineinander verhakt, dämmerte seinem Zerfall entgegen. Frösche quakten und malten Kreise in den dunklen Spiegel. Die ersten Tropfen fielen, dann rauschte der Regen herab, sprang von Blatt zu Blatt und tropfte dann auf weichen Waldboden und ins moorige Wasser.

Peter von Borgo blieb stehen und sog die Nachtluft in sich ein. Der ganze Kosmos mit seinem Werden und Vergehen in einem einzigen Atemzug. Plötzlich stutzte er. Der Tod drang ihm in die Nase, ganz leicht, vermischt mit den gewohnten Gerüchen des Waldes, doch unverkennbar. Es war kein Fuchs, der hier, von den Würmern zerfressen, der Erde zurückgegeben wurde, und auch kein Reh oder Hase, da war sich der Vampir sicher. Dort, irgendwo in dieser grauen Wasserfläche, zwischen den schwarz-weißen Birkenstämmen, lag ein Mensch, und er war tot. Einige Augenblicke lang blieb Peter von Borgo am grasigen Ufer stehen, doch dann trieb ihn die Neugier vorwärts. Das Wasser ging ihm bis zu den Waden, manches Mal reichte es auch bis an die Knie. Der Grund unter seinen Füßen war schlammig und von einem Gewirr aus Ästen und Zweigen übersät. Langsam schritt er weiter. Die Kälte des Wassers spürte er nicht

Der Vampir duckte sich unter Zweigen hindurch und kletterte über modernde Stämme, immer dem Geruch des Todes folgend, der stärker und stärker wurde. Da endlich entdeckte er die Leiche. Sie sah aus, als würde sie über dem Wasser schweben, die Arme weit ausgebreitet, den Kopf in den Nacken gelegt, das lange Haar wie ein Fächer um sich ausgebreitet.

Peter von Borgo ließ sich auf einem aus dem Wasser ragenden Baumstumpf nieder, stützte das Kinn in die Hände und betrachtete die Tote nachdenklich. Sie lag auf zwei umgestürzten Birkenstämmen, die knapp über dem Wasser aufragten. Ihre Arme ruhten auf einem Gewirr aus dünnen Zweigen, das Haar und die durchsichtigen roten und schwarzen Tülltücher, die sie außer ihrer Wäsche trug, schienen sorgfältig um sie ausgebreitet. Ihre Augen waren geschlossen, das Gesicht makellos geschminkt. Es war kein Blut geflossen. Wie war sie gestorben? Peter von Borgo trat vorsichtig näher und verschob mit dem Zeigefinger den Tüllschal um ihren Hals. Erwürgt. Wie geschickt der Mörder die hässlichen Male mit dem Tuch kaschiert hatte! Der Vampir strich über ihre von Rouge geröteten Wangen, doch plötzlich erfasste ihn eine unbeschreibliche Wut. „Ronja, du warst mein! Wie habe ich mich bezähmt und meine Lust beschnitten, um dir dein Leben nicht gleich zu nehmen, und nun wirfst du es sinnlos an einen anderen weg! Du hast mich fortgeschickt, weil ich dich zu sehr schwäche, und nun? Was hast du nun davon? Jetzt fressen dich die Würmer, dein schöner Leib verfault, und dein süßes Blut verdirbt ungetrunken.“

Mit einem Seufzer ließ er sich wieder auf den Baumstumpf sinken und betrachtete die Tote noch einmal aufmerksam. Da huschte ein Lächeln über seine Lippen.

„Und doch darfst du noch einmal meinen Plänen dienen, schöne Ronja. Du wirst ein Werkzeug sein in meiner Hand. Was meinst du: Ob sich die Frau Kommissarin der Mordkommission für dich interessiert? Ich glaube, es wird Zeit, in die Ermittlungen der Kriminalpolizei ein wenig einzugreifen.“

Der Vampir zog sich in seine Villa zurück und ließ die Finger über die Tasten seines Flügels gleiten, bis der Morgen graute und die Sonne sich anschickte, zwischen den vom Wind zerrissenen Wolken zu erscheinen, doch sein Plan war immer noch nicht perfekt. So verbrachte Peter von Borgo eine weitere Nacht im Schnaakenmoor und sah nachdenklich auf die Leiche hinab, dann fuhr er zurück. An einer Telefonzelle am Bahnhof von Blankenese hielt er an. Langsam tippte er die Nummer von Sabine Berner. Es war vier Uhr morgens.

Achtmal klingelte das Telefon, die ersten beiden Male als störendes Geräusch in einem bedrückend erotischen Traum, die nächsten beiden im Moment verwirrten Erwachens, dann zweimal, während sie schwankte: War es ein übler Scherz, oder war etwas passiert? Konnte es Thomas sein? Aber sie hatten an diesem Wochenende doch gar keine Bereitschaft. Fluchend rappelte sich Sabine auf und tappte in den Flur.

„Berner.“ Als Erstes hörte sie zwei lange Atemzüge. „Hallo! Wer ist da?“, rief sie ungeduldig.

„Wenn ich einen alten Meister zitieren dürfte, dann würde ich sagen: Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft“, tönte eine dunkle Stimme aus dem Hörer.

Sabine gähnte herzhaft. „Ja und? Außerdem dachte ich, es wäre andersherum.“

Ein leises Lachen hüllte sie ein. „Gut pariert. Trotz Ihres Gähnens scheint Ihr Geist hellwach zu sein – wie man es von einer Oberkommissarin der Mordbereitschaft beim LKA ja auch erwarten kann.“

„Dann kommen Sie mal zur Sache, es ist Sonntag, ich habe keine Bereitschaft, und ich würde gerne noch einige Stunden schlafen.“ Ein Spinner, eindeutig – warum legte sie nicht einfach auf? Zumindest war er ein gebildeter Spinner. Und überhaupt, woher hatte er ihre Telefonnummer?

„Ich möchte Ihnen ein Rätsel aufgeben, über das Sie nachdenken sollten. Vielleicht werden Sie es lösen, vielleicht auch nicht.“

Sabine schob das Telefon in die Linke und griff nach einem Stift, obwohl sie sich über sich selbst wunderte, dass sie das merkwürdige Spiel nicht sofort beendete.

„Das Rätsel handelt vom Tod und vom Leben, von der Schönheit und vom Zerfall. Öffnen Sie Ihre Sinne, damit Ihnen nichts entgeht. Vieles am Lauf der Welt können wir ändern, doch eines bleibt: Am Ende steht unweigerlich der Tod.“

Sabine spürte, wie die Kälte an ihr heraufkroch.

Sönke Lodering kam am Montagmorgen mit einem Berg Akten unter dem Arm ins Büro und ließ sie mit einem Stöhnen auf den Tisch fallen.

„So’n Kram da“, knurrte er.

„Was ist denn das?“, fragte Sabine, die bleistiftkauend vor einem beschriebenen Blatt saß.

„Alles über Kalle und Kumpane!“, grunzte Sönke und nickte in eine unbestimmte Richtung. „Von drüben.“

Sabine legte den Kopf schief, um die Beschriftung zu erkennen.

LKA 7, organisierte Kriminalität stand auf den kleinen gelben Schildchen am Rand.

„Und was machst du?“, fragte Sönke und räkelte sich ausgiebig. „Ich dachte, du hilfst mir.“

Die Kommissarin zögerte, doch dann erzählte sie von dem nächtlichen Anruf.

„Und jetzt spielst du Rätselraten?“ Der Kriminalobermeister trat hinter sie und warf einen Blick auf das Blatt

„So’n Blödsinn!“, knurrte er. „Kindskram!“

Da steckte Björn Magnus den Kopf herein. „Kindskram gibt es hier? Ich dachte, ihr seid mit so wichtigen Dingen beschäftigt wie Mordfälle aufklären.“ Eine Pappschachtel in den Händen, kam der Fotograf ins Büro geschlendert.

„Sabine zieht es vor, Kinderrätsel zu lösen“, murmelte Sönke, warf dem Fotografen einen unfreundlichen Blick zu und zog sich dann mit dem obersten Aktenordner an seinen Schreibtisch zurück.

„Lass mich mal sehen“, bat Björn. „Ich liebe Rätsel.“

Bereitwillig schob Sabine ihm das Blatt hin und erzählte von dem nächtlichen Anruf.

„Irgendjemand ist tot“, murmelte Björn.

Sabine nickte. „Ja, eine Frau, so weit bin ich auch schon. Und ich würde sagen, sie liegt in einem Wald oder zumindest unter Bäumen.“ Ihr Finger tippte an den Rand einer Zeile. „Ihr schirmend Dach vom Herbst bemalt, vom Sturmeswind verweht.“

„Aber was soll denn das: ,Erstarrt in ihrer Schönheit schwebend, versilbert sie des Spiegels Glanz’?“

Sabine kaute auf ihrer Lippe. „Ich kann mir nicht denken, dass er von einem richtigen Spiegel spricht. Vielleicht von einer Wasserfläche, in der sie sich spiegelt. Ein See oder so etwas in der Art.“

„Und darüber fliegt sie wie ein Vögelein?“ Björn gab ihr das Papier zurück.

„Mit Susanna habe ich auch immer Rätsel gelöst“, murmelte er und hob die Schachtel wieder auf, seine Stimme klang übertrieben fröhlich. „Wo sind Uwe und Klaus? Ich habe hier die Fotos von der Billstedtleiche.“

„Lass sie hier. Die beiden grasen gerade das Umfeld des Typen ab. Die haben heute noch mindestens vier Befragungen.“

Die Kommissarin nahm die Schachtel und öffnete den Deckel. Sie warf einen flüchtigen Blick auf das heruntergekommene Reihenhaus, ein Fenster war mit einem Pfeil markiert, dann Aufnahmen von den Zimmern, in denen ein heilloses Durcheinander herrschte. Zwischen umgeworfenen Möbeln lagen schmutzige Kleidungsstücke und leere Bierdosen, im Bad dann Blut auf dem Boden und an den Wänden. Sorgfältig waren die Blutspritzer abgelichtet. Die Leiche selbst lag in der Badewanne, das Gesicht nach unten, die Beine angewinkelt. Sein T-Shirt hatte eine rostbraune Färbung angenommen. Zwei Stiche im Rücken konnte man auf dem Foto in seinem Rücken erkennen, doch die Kommissarin wusste, dass er noch mehr Messerstiche abbekommen hatte.

Fragend sah Sabine zu Björn hoch, der noch immer neben ihr stand, das Gesicht zu einer abwehrenden Grimasse verzogen.

„Nicht gerade schön“, sagte sie mit einem Blick auf die Bilder.

Der Fotograf nickte. „Kein Sinn für Ästhetik, nur stumpfsinnige, brutale Gewalt.“

Sabine zog die Stirn kraus. „Ich bezweifle, ob man bei einem Mord je von Ästhetik sprechen kann.“

Am Dienstag, kurz vor Mitternacht, klingelte das Telefon. Sabine hatte gerade ein ausgiebiges Bad mit einer Tafel Nussschokolade und den drei Tenören beendet. In ihren weißen Bademantel gehüllt, das nasse Haar zu einem Knoten gedreht, tappte sie in den Flur und griff nach dem Hörer.

„Haben Sie mein Rätsel gelöst?“, fragte eine tiefe, wohlklingende Stimme.

„Es geht um eine tote Frau, die vermutlich am Wasser und unter Bäumen Hegt, doch wie soll ich sie mit diesen ungenauen Angaben finden? Wer ist sie?“

„Ronja“, hauchte er ihr ins Ohr.

Sabine zuckte zurück. „Meinen Sie Edith Maas, die sich Ronja nennt? Was ist ihr zugestoßen? Wo ist das Kind?“

Er lachte leise. „Frau Kommissarin, Sie haben Ihre Hausaufgaben ja gemacht. Doch alles kann ich Ihnen nicht verraten.“

Wut stieg in Sabine auf. „Hören Sie, Mord ist kein Spaß, also ersparen Sie mir diesen Quatsch und sagen Sie mir, wo die Leiche ist – und vor allem, wo ich das Kind finden kann.“

„Haben Sie einen Stift zur Hand?“, fragte er, ohne auf ihr Drängen einzugehen. »Ja!“

„94 625 340.“ Eifrig schrieb Sabine mit.

„Und was soll das Ganze nun?“, rief sie in den Hörer, als er verstummte.

„Das werden Sie schon herausbekommen. Sie sind doch intelligent“, schnurrte er amüsiert.

„Was sollen diese Zahlen bedeuten?“, fragte sie noch einmal.

„Oh, verzeihen Sie, ich vergaß, Sie sind hier nicht aufgewachsen. Ihr Vater könnte Ihnen sicher behilflich sein, doch der alte Seemann ruht still in seinem tiefen Grab.“

„Was hat mein Vater damit zu tun?“, schrie sie, doch nur ein Tuten antwortete. Er hatte aufgelegt.

Sabine zitterte am ganzen Leib. Ihr war übel. Langsam ging sie in die Küche hinüber und brühte sich einen Pfefferminztee auf. In eine warme Decke gehüllt, saß sie kurz darauf im Wohnzimmer, trank Schluck für Schluck das heiße Gebräu und starrte auf die Zahlenreihe in ihrer Hand. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei, Musik drang aus einer Kneipe gedämpft zu ihr hoch. Vater, Zahlen, Seemann, dachte sie und lehnte ihre Wange an den noch warmen Becher. Plötzlich stellte sie ihn mit einem Knall auf den Tisch. Sie warf die Decke ab, lief ins Schlafzimmer und strich suchend mit dem Finger an den Buchreihen entlang. Endlich fand sie den alten Schulatlas. Hastig schlug sie ihn auf und blätterte, bis sie eine Karte fand, die Hamburg zeigte.

Ja, das war es! Hamburg lag bei ungefähr zehn Grad östlicher Länge und am dreiundfünfzigsten Breitengrad fünfunddreißig Minuten. Sie faltete eine Hamburgkarte auseinander und beugte sich tief über das Blatt. „Hier, irgendwo zwischen Pinneberg, Wedel und Rissen, muss sie liegen.“ Schaudernd schlug sie den Atlas zu.

Sollte sie Thomas anrufen und die Gruppe alarmieren? Sollte sie ein Einsatzkommando anfordern und Hundeführer herbeordern? Was, wenn sich der Kerl nur einen Spaß erlaubt hatte? Unschlüssig trat Sabine ans Fenster und sah in den nächtiichen Hof hinunter. Es war kurz nach eins.

Wenn ich jetzt anrufe, dann bekommen die Jungs von der 3. Mordbereitschaft den Fall, und wenn es sich als Pleite herausstellt, dann habe ich mir sicher nicht gerade Freunde geschaffen. Wenn ich aber bis acht warte, dann sind wir dran. Dann können wir ja einfach mal dort rausfahren und uns umsehen, überlegte die Kommissarin, obwohl ihr klar war, dass sie in diesem Gelände ohne Hunde und die Hundertschaften aus der Kaserne drüben keine Chance hatten, eine Leiche zu finden – wenn es denn eine gab.

Eine Weile sah sie noch in die Nacht hinaus. Bewegte sich dort drüben im Hof nicht etwas? Sie presste die Nase an die Scheibe, doch sie konnte nichts erkennen. Der Wind fuhr durch die bunt belaubten Bäume.

„Ach was, du bist überspannt. Geh ins Bett und schlaf erst mal drüber!“, befahl sie sich selbst und schlüpfte unter ihre Bettdecke.

Der Vampir verließ seinen Beobachtungsposten im Hof vor dem Haus für Kunst und Handwerk und trat, eine alte Weise pfeifend, auf die Lange Reihe hinaus.

Sabine schlief unruhig in dieser Nacht. Auf den Knien kroch sie durch dichte Wälder, watete durch Teiche und lief über üppig grüne Wiesen, immer den Geruch des Todes in der Nase. Sie hörte ein Kind greinen, doch sie konnte nicht feststellen, von woher das Weinen kam. Dann sah sie die Tote. Sie lag im Wasser, nein, sie schwebte über dem Wasser. Auf einem Baumstumpf saß das Mädchen und hielt einen blicklosen Kopf in seinem Schoß. Obwohl alles in ihr sie drängte, nur noch in wilder Panik davonzulaufen, trat die Kommissarin Schritt für Schritt näher. Da bewegte sich das wächserne Gesicht plötzlich und grinste sie an. Der Blick aus den flammend roten Augen traf Sabine bis ins Mark. Mit einem Schrei fuhr sie hoch.

Das erste kühle Grau des Morgens kroch ins Schlafzimmer. Gehetzt sah sich die junge Frau um, doch keine finsteren Gestalten mit roten Augen waren zu entdecken. Mit einem Seufzer ließ sich Sabine wieder in die Kissen sinken, bis die Erkennungsmelodie von Fun-Fun-Radio sie wieder hochschreckte. Ein ungemein gut gelaunter Moderator flötete, dass es nun sieben Uhr fünfzehn sei, und wünschte ihr mit Who wants to live forever von Queen einen guten Morgen.

Mit einem Fluch auf den Lippen sprang Sabine aus dem Bett, schlug auf den Radiowecker ein, sodass er mitten im Ton verstummte, und hastete dann ins Bad. Sie hielt die Zahnbürste schon in der Hand, doch dann kehrte sie noch einmal langsam in den Flur zurück. Da lag etwas auf ihrer Fußmatte, das dort gestern Abend sicher noch nicht gelegen hatte. Widerstrebend trat sie näher. Sie spürte eine plötzliche Übelkeit aufsteigen. Eine Weile starrte die Kommissarin das in feiner Schnörkelschrift beschriebene Blatt an, dann ließ sie sich langsam in die Hocke sinken. Ohne den Brief zu berühren, las sie die Nachricht.

Verehrte Sabine, sicher haben Sie mein kleines Zahlenrätsel inzwischen gelöst. So schwer war das ja nicht. Ich kann Ihnen noch verraten, dass Ronja in Hamburgs Schöße ruht.

Noch eines, bei meiner ersten Aufgabe ist Ihnen ein kleiner Fehler unterlaufen. Unter Bäumen ist wohl richtig, doch am Wasser muss ich verneinen. Auch im Wasser ist streng genommen nicht korrekt. Fast wäre ich geneigt zu sagen, über dem Wasser, doch das würde Sie wieder auf eine falsche Fährte locken. Vereinen Sie in Ihren Gedanken die wild wuchernde Natur und das geheimnisvoll trübe Wasser, das mit unschuldig glatter Miene den Unerfahrenen in den Tod lockt. Beeilen Sie sich, denn ihre Schönheit ist am Welken, und der Körper verfällt.

„Ein Moor“, flüsterte Sabine, „ein Moor!“ Eilig lief sie barfuß ins Arbeitszimmer, um den Hamburger Stadtatlas zu holen.

„Oh nein!“ Zwischen Pinneberg, Rissen und Wedel wimmelte es geradezu von Mooren. „Seemoor, Butterbargsmoor, Krabatmoor ...“

Die Kommissarin stöhnte auf, doch dann fiel ihr etwas ein. Sie nahm die Karte und warf sie neben die Nachricht auf den Boden. Noch einmal studierte sie sorgsam den Text.

„In Hamburgs Schöße ruht!“ Das war es. Pinneberg, Wedel und all die Moore mit den seltsamen Namen lagen außerhalb Hamburgs Grenzen und gehörten zu Schleswig-Holstein. Nur die kleine Ausstülpung nördlich von Sülldorf und Rissen war noch Hamburger Gebiet. Langsam strich ihr Finger über die Detailkarte. An der Grenze gab es einen Sandmoorweg, dann östlich der Kläranlage das Schnaakenmoor und ein Stück weiter nördlich das Grotenmoor. Knapp zwei Quadratkilometer, schätzte die Kommissarin.

„Das kriegen wir heute durch!“

Sabine Berner holte sich Handschuhe und packte den Brief vorsichtig in eine Plastiktüte, dann eilte sie ins Bad. Katzenwäsche musste heute genügen, das Frühstück fiel aus. Fünfzehn Minuten später saß sie im Auto in Richtung Präsidium und schreckte mit ihrem Anruf Hauptkommissar Thomas Ohlendorf von Kaffee und Franzbrötchen auf.

Der Duft des Blutes

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