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Ronja

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Peter von Borgo parkte sein schweres Motorrad unter einer ausladenden Linde. Mit einer ungeduldigen Bewegung strich er sich das nasse Haar aus dem Gesicht und schritt dann an den gepflegten Vorgärten entlang. Hinter spät blühenden Rosen und Buchsbäumen ragten weiß verputzte Häuser aus der Gründerzeit auf, die Fenster und Türen mal rundbogig, mal rechteckig, gerahmt von Säulenreliefen, beschirmt von überkragenden Gesimsen. Vor den schmiedeeisernen Toren waren weiße Schilder angebracht, die Hinweise auf die Arztpraxen oder Anwaltskanzleien gaben, die sich hinter den dichten Gardinen verbargen.

Peter von Borgo strebte einem beigefarbenen Klinkerbau zu, der schlicht und hässlich eine Lücke zwischen den alten Stadthäusern füllte. Die Haustür sprang schon nach dem ersten kurzen Klingelzeichen auf, und er trat ein. Der Vampir roch die alte Bewohnerin im Erdgeschoss, die wieder hinter ihrer Wohnungstür stand und neugierig durch den Spion lugte. Seine Nasenflügel blähten sich. Klosterfrau Melissengeist, Pfefferminztee und Niveacreme mischten sich mit dem Geruch des Haushaltsreinigers, mit dem die graugrüne Steintreppe gewischt worden war.

Zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte der schlanke Mann mit der auffällig blassen Haut in den zweiten Stock, schob die angelehnte Wohnungstür auf und verließ damit die spießige Wohlanständigkeit des Hohenfelder Mehrfamilienhauses.

Die in die Decke eingelassenen Halogenstrahler waren gedimmt, sodass rötliches Licht den Flur nur schwach erleuchtete. Die Wände waren mit rotem und schwarzem Tüll dekoriert, aus dem hinteren Zimmer erklang leise Musik. Peter von Borgo schloss die Augen und sog den Duft von frischer Weiblichkeit und leicht herbem Parfüm in sich ein. Das Klicken hoher, dünner Absätze unterbrach brutal den Geigenklang von Elgars Salut d’amour.

„Hallo, Chérie, schön, dass du kommst.“

Sie legte ein tiefes Timbre in ihre Stimme, wie immer, wenn sie im Dienst war. Mit wogenden Hüften kam Edith Maas, die sich bei ihren Kunden Ronja nannte, auf den Besucher zu.

Peter von Borgo warf die nasse Lederjacke achtlos unter die schmiedeeiserne Garderobe und küsste dann die ihm dargebotene geschminkte Wange.

„Liebste Ronja, du bist perfekt wie immer.“

Wohlgefällig ließ er den Blick über die nahtlos sonnenstudiogebräunte Haut wandern, die nur von einem schwarzen Spitzen-BH, einem Tangahöschen und halterlosen schwarzen Strümpfen unterbrochen wurde.

„Und du bist wieder kalt wie ein Frosch, aber ich werde dich schon aufwärmen. Hast du Durst? Kann ich dir etwas anbieten?“

Seine Mundwinkel zuckten. „Ja, das kannst du allerdings!“

„Du hast Glück, mich so kurzfristig zu bekommen. Der Kunde, der eigentlich für die ganze Nacht reserviert hatte, musste absagen.“

Sie tänzelte vor ihm den Gang entlang auf die Geigenklänge zu. Peter von Borgo folgte ihr nach, doch plötzlich stutzte er. Ein neuer Geruch berührte seinen Sinn: zarte, unschuldige Kinderhaut. Der Vampir blieb stehen. Da bewegte sich die Türklinke zu seiner Linken, die Tür öffnete sich einen Spalt, und ein pausbäckiges Kindergesicht, gerahmt von rötlich blonden Locken, spähte auf den Gang.

„Mama, ich hab noch Durst!“

Ronja erstarrte, drehte sich um und stürmte zurück. Das Mädchen zwängte sich durch den Spalt und sah mit großen Augen zu Peter von Borgo hoch, einen verwaschenen Plüschhasen an die Brust gedrückt.

„Aber Maus, wir haben doch ausgemacht, dass du in deinem Bett bleibst. Du hast doch deine Trinkflasche im Zimmer!“

Ronja ließ sich auf die Knie sinken. Ihre Stimme war nun frei von erotischen Schwingungen. Sie war nur noch Edith Maas und Mutter eines Mädchens, das nicht schlafen wollte.

„Ich will aber Apfelsaft und kein Wasser!“

Die kleine Unterlippe wölbte sich nach vorn, ein herausfordernder Blick unter den blonden Wimpern wanderte zu dem großen, schwarzhaarigen Mann hoch.

„Gut, gut, ich hole ihn dir und dann marsch ins Bett!“

„Und wenn ich dann noch mal aufs Klo muss?“

Peter von Borgo runzelte die Stirn. Er hatte in den letzten Jahrhunderten schon viele leichte Mädchen in ihren Apartments aufgesucht, doch so etwas war ihm noch nicht passiert.

„Dann geh jetzt gleich aufs Klo, und ich bring dir den Saft. – Peter, bitte geh schon mal vor, du kennst dich doch aus.“

Sie schob den Freier ins Wohnzimmer, das sie sich als Arbeitszimmer hergerichtet hatte, und schloss die Tür hinter ihm. Er hörte ihre Absätze in die Küche klappern und zurück, dann kam sie, warf mit einer ungeduldigen Geste ihr schwarz gefärbtes Haar zurück und suchte nach ihrem verführerischen Geschäftslächeln.

Peter von Borgo flegelte auf dem roten Satinüberwurf des Bettes, das zentral den Raum beherrschte. An den vier Ecken standen Kerzenleuchter, an den Wänden und der Decke waren Spiegel angebracht.

Geschickt öffnete Ronja eine Champagnerflasche, die ihn nachher zweihundert Euro kosten würde, obwohl er keinen Schluck davon trank. Dafür stürzte sie ein Glas davon in einem Zug herunter.

„Es ist erstaunlich, dass es immer wieder Dinge gibt, von denen ich nichts weiß. Lebt die Kleine jetzt hier bei dir?“, fragte er träge und nahm Ronja das leere Glas aus der Hand.

Die Frau ließ sich neben ihm auf das Bett sinken. „Zurzeit ja, meine Mutter musste ins Pflegeheim, und ich weiß noch nicht, wo ich sie sonst unterbringen kann.“

Peter von Borgo küsste ihren Nacken. Ronja schauderte.

„Dazu kommt, dass sie seit September in die Schule geht und ich mit ihr nun jeden Morgen in aller Frühe auf der Matte stehen muss.“ Sie seufzte, doch dann fiel ihr ein, dass sie mit einem Kunden sprach, und so setzte sie ihr Lächeln wieder auf.

„Doch das soll nicht deine Sorge sein. Du bist schließlich hier, um dich verwöhnen zu lassen“, schnurrte sie und machte sich an seiner Jeans zu schaffen, doch er schob ihre Hände weg und drückte Ronja in die kühlen Tücher.

„Psst, sei ganz ruhig, schließ die Augen.“

Mit flinken Fingern wischte sich Peter von Borgo die dunklen Kontaktlinsen aus den Augen. Endlich sah er sie in ihrer ganzen Schönheit: die bläulich pulsierenden Adern unter der jungen Haut, die feinen, weißen Härchen, die sich unter seinem Atem aufstellten, die langen, schlanken Glieder. Ein hübscher Knabe war sicherlich auch nicht zu verachten, und zur Not musste es keine straffe Haut sein, unter der das Blut floss, doch wenn er die Wahl hatte, bevorzugte er Frauen, jung, schlank und von biegsamer Schönheit.

Mit den Fingerspitzen fuhr der Vampir ihren Hals entlang, über die spitzenverhüllten Brüste, die leicht erhabenen Rippenbögen, über den in zahllosen Stunden im Fitnessstudio wieder gestrafften Bauch. In heißen Wellen stieg die Lust in ihm hoch. Er fühlte das Ziehen hinter seiner Oberlippe, als sich die spitzen Eckzähne hervorschoben. Ronja richtete sich halb auf und starrte in die rot glühenden Augen.

„Schsch“, hauchte er und legte den Finger auf die Lippen. „Komm, sieh mich an, sieh mir in die Augen.“

Er umschloss ihre Wangen mit beiden Händen und starrte so lange in ihre blaugrauen Augen, bis ihr Blick sich eintrübte. Dann ließ er ihren Oberkörper in den roten Satin zurücksinken. Noch einen Augenblick kniete er über ihr und genoss das unbändige Gefühl der Vorfreude, doch dann konnte er sich nicht länger zurückhalten. Er grub seine Zähne in ihre zarte Haut, dort wo am Halsansatz bläulich warm eine Ader zuckte, bis ihr Blut ihm warm und köstlich in die Kehle sprudelte.

Die Gier war noch lange nicht gestillt, als er von ihr abließ und sich mit einem Seufzer neben ihr auf das Bett sinken ließ. Sabines Geruch schwebte noch immer in seinem Geist, doch der brennende Schmerz hatte nachgelassen.

Der Vampir würde Ronja nicht töten, obwohl es ihn danach gelüstete, ihr auch noch den letzten Tropfen Blut zu rauben. Die Zeiten hatten sich geändert. In dieser Welt nahm man nicht einmal mehr den Tod einer Hure gleichmütig zur Kenntnis. Man ging der Todesursache auf den Grund und hetzte den Mörder. So hatte der Vampir mühsam gelernt, vorsichtig zu sein und seine Triebe zu disziplinieren – auch wenn es ihm immer noch schwerfiel.

Peter von Borgo leckte Ronja einen letzten hervorquellenden Blutstropfen vom Hals, küsste ihre bleichen Lippen und verließ dann die Wohnung.

St. Georg lag in tiefem Schlaf. Nur ab und zu zischte ein Fahrzeug über die noch nassen Straßen. Vorn am Steindamm schwankten ein paar betrunkene Nachtschwärmer an den Eroticshops und Sexkinos vorbei, doch hier in der Langen Reihe war Ruhe eingekehrt. Peter von Borgo schob die Haustür auf und schritt langsam die Treppe hoch. Vor der Wohnungstür mit der Aufschrift Berner blieb er stehen.

Sollte er hineingehen? Sollte er einen Blick auf ihre schlafende Gestalt werfen? Würde er sich beherrschen können? Er sog noch einmal prüfend die Luft ein. Ein Hund! Die Augenbrauen hoben sich ein wenig. Nun, das würde kein Hindernis sein. Nur wenige Augenblicke später knackte das Türschloss.

Leila hob den Kopf, schnupperte und winselte leise. Sie verließ ihren Platz am Fußende des Kinderbetts und tappte in den Flur. Geräuschlos öffnete sich die Haustür, rot glühende Augen glänzten in der Finsternis. Wieder winselte der Hund. Seine Nackenhaare sträubten sich. Das war kein lieber Mensch, dem sie um die Beine streichen wollte, auch kein Böser, den sie verbellen sollte, und auch kein Tier. Was war es, das da langsam auf sie zukam? Leise, süße Töne schwebten durch die Nacht. Die Ohren der Hündin zuckten. Sanft schob sich eine Hand in ihren Nacken und glättete das gesträubte Fell. Leila legte sich nieder, schob die Schnauze unter die Pfoten und schloss die Augen.

Peter von Borgo schritt ins Wohnzimmer, dessen Fenster, von warm gelben Vorhängen gerahmt, zur Straße hinauszeigten. Auf der niederen Anrichte hinter dem Esstisch standen ein Hochzeitsfoto und ein halbes Dutzend Bilder eines langsam heranwachsenden blonden Mädchens, erst als Baby auf dem Wickeltisch, dann mit krummen Beinen und Sonnenhut auf dem Kopf am Strand, dick vermummt auf einem Schlitten und in einem weißen Sommerkleid vor blühenden Rosen.

In der Küche roch es nach Tomaten und Pilzen, dunklem roten Wein und Kaffee. Die Spülmaschine blinkte, Weingläser standen umgedreht zum Abtropfen auf einem karierten Geschirrtuch.

Im Arbeitszimmer lag das Kind, das er auf den Fotos im Wohnzimmer gesehen hatte, auf einem aufgeklappten Sofa. Das blonde Haar ergoss sich über das mit Enten übersäte Kopfkissen, die Augen waren geschlossen, der rechte Daumen steckte zwischen den rosigen Lippen. Peter von Borgo betrachtete die zusammengekauerte Gestalt eine Weile, dann wandte er sich den Gegenständen auf dem Schreibtisch zu: wieder Fotos, an der Wand dahinter Postkarten, die mit Stecknadeln befestigt waren. Ein angefangener Brief lag auf der Schreibunterlage. Sein Blick huschte über die sich leicht nach rechts neigenden Buchstaben.

Hinter ihm regte sich das Kind, doch er las den Brief erst zu Ende, bevor er sich zu dem Mädchen umwandte. Julia hatte sich halb aufgerichtet und starrte im trüben Licht der kleinen Nachtlampe den schwarz gekleideten Fremden an. Der Vampir ließ sich auf das Bett sinken und legte seinen Zeigefinger an die Lippen. Die roten Augen senkten sich in die weit aufgerissenen blauen Augen des Mädchens. Er legte seinen Arm um den duftenden Kinderkörper und zog ihn an seine Brust.

„Schlaf, schlaf“, hauchte er. Die Augenlider flatterten und sanken herab, der blonde Kopf kuschelte sich in seine Armbeuge. Da, unter der weißen Haut, floss das junge Blut. Der betörende Kinderduft stieg ihm in die Nase. Wie klein und zart, wie weich und warm. Sein Zeigefinger strich über den ihm dargebotenen Hals.

Ein winziger Schluck nur, ein wenig probieren, drängte eine Stimme in ihm.

Im Schlafzimmer raschelte ein Federbett, der Hund winselte, nackte Füße tappten über den Flur. Sabines ungekämmter Haarschopf erschien in der Türöffnung. Schlaftrunken musterte sie das schlummernde Kind, trat dann ans Bett, strich Julia über das Haar und zog die Decke bis ans Kinn. Einige Augenblicke sah sie auf ihre Tochter hinunter, fröstelnd die Arme um den Leib geschlungen.

„Es ist kalt hier“, murmelte sie und trat ans Fenster, um die Heizung höher zu drehen. Die dunkle Gestalt, die in der Ecke bei der Tür mit den Schatten verschmolz, bemerkte sie nicht. Sie streichelte noch einmal das schlafende Kind und schritt dann durch den dunklen Gang ins Badezimmer. Der Vampir hörte das Wasser rauschen. Regungslos wartete er, bis in der Wohnung wieder Ruhe eingekehrt war.

Erfüllt von freudiger Erregung, trat er ins dunkle Schlafzimmer. Er wischte ein paar achdos auf einen Stuhl geworfene Kleidungsstücke auf den Boden, schob den Stuhl vor das Bett und setzte sich, die Arme über der Rückenlehne verschränkt, das Kinn aufgestützt, um sie in Ruhe zu betrachten.

Sabine lag auf dem Rücken, den nackten Arm über dem Kopf abgewinkelt, ihre Atemzüge gingen regelmäßig. Das Deckbett ließ die mit dunkelblau glänzendem Satin bedeckten Schultern erahnen. Die oberen beiden Knöpfe des hemdartigen Nachtgewandes waren geöffnet, der Kragen verrutscht. Wie köstlich pulsierten ihre Adern, wie berauschend stieg ihm ihr Duft in die Nase. Warum warten? Welche Freude lag im Verzicht? Schrie nicht alles in ihm nach der Erfüllung? Sie seufzte im Schlaf und zog sich fröstelnd die Decke über die Schultern.

Widerstrebend erhob sich der Vampir. Draußen eilten die ersten Menschen ihren Arbeitsplätzen zu. Immer mehr Scheinwerfer suchten sich ihren Weg durch die zögerlich erwachende Stadt. Noch einmal nahm er ihren Geruch in sich auf, dann eilte er hinaus und machte sich auf den Weg nach Blankenese. Es drängte ihn, sich die frische Kühle des Morgens um den Kopf wehen zu lassen, er sehnte sich nach dem weiten Blick über die Elbe, wenn das Schwarz der Nacht langsam verblasst und die Nebel über dem Wasser sich röten. Er würde ihren Duft in seiner Erinnerung mit sich nehmen und in seinem prächtigen Gemach im Keller seiner Villa, hoch oben auf dem Geestrücken, den Tag über in Gedanken bei Sabine weilen.

„Lass dir doch helfen, mein Schatz, wir müssen gehen!“, versuchte Sabine Berner ihre Tochter anzutreiben, die den fünften Versuch startete, den Reißverschluss ihres Anoraks zuzubekommen, doch Julia wehrte trotzig ab. Da klingelte es stürmisch an der Tür. Leila kläffte erfreut, als Sabine ein wenig genervt die Tür aufriss.

„Moin!“

Draußen stand ihr Nachbar, ungekämmt mit Dreitagebart und rot geränderten Augen, und streckte ihr freudestrahlend einen Stapel Papier entgegen.

„Ich habe die ganze Nacht gearbeitet. Ich war ja so was von kreativ! Ganze zwei Kapitel habe ich geschafft!“

„Das ist toll, Lars“, sagte Sabine, während sie in ihre Jacke schlüpfte und versuchte, ein wenig Begeisterung in ihre Stimme zu mischen.

„Du musst schon fort?“, fragte Lars bestürzt und sah die Nachbarin mit einem ähnlichen Blick an, wie ihn Leila einzusetzen pflegte, wenn sie Kekse erbetteln wollte. „Ich dachte, wir könnten bei einer Tasse Kaffee die Szenen in Ruhe besprechen.“

„Nee, Lars, das geht wirklich nicht, ich muss Julia zu einer Freundin bringen und dann ins Büro.“ Sie schob Julia in ihrem offenen Anorak zur Tür.

„Wann kommst du denn zurück? Können wir uns heute Abend zusammensetzen? Soll ich dir das Manuskript schon mal mitgeben, damit du es vorab durchlesen kannst?“

„Du, dazu habe ich heute wirklich keine Zeit.“ Plötzlich kam ihr eine Idee. „Aber weißt du was, wenn du heute wieder joggen gehst, dann nimm doch Leila mit.“ Sie drückte ihm die Hundeleine in die Hand. „Ich hole sie heute Abend wieder ab, und dann können wir über dein Manuskript reden, ja?“

Sabine hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, nahm Julia bei der Hand und eilte mit ihr die Treppe hinunter. Etwas verdattert stand Lars Hansen auf dem Treppenabsatz, in der einen Hand den eng bedruckten Stapel Papier, in der anderen die Hundeleine, an deren Ende Leila kauerte und ihn erwartungsvoll ansah.

Sie schwebte im Nichts zwischen grauen Nebelschwaden und samtschwarzer Finsternis. Sie fiel immer tiefer, doch kein Luftzug streifte ihre Haut. Die Stille verschmolz mit Raum und Zeit. Sich einfach aufgeben und vergessen. Doch etwas zog an ihr und wollte sie aus dem sanften Nichts zerren, eine eindringliche Stimme näherte sich ihrem Ohr.

Als Erstes fühlte Ronja ihren ausgetrockneten Hals. Die Augen fest zusammengepresst, tastete sie nach ihrem Glas. Warmer, abgestandener Champagner! Bäh. Eine kleine Hand zerrte an ihrem Arm. Die Worte explodierten in ihrem bleigefüllten Kopf.

„Mama! Wach endlich auf! Ich will Kaba und Fruchtzwerge und Cornflakes!“

Der gleißende Lichtstrahl, der durch das halb geöffnete Augenlid drang, brannte wie glühender Stahl. Ein warmer, weicher Kinderkörper warf sich auf ihre Brust.

„Guten Morgen, mein Schatz“, krächzte Ronja und drückte das Mädchen an sich. Das zweite Blinzeln in das sonnendurchflutete Zimmer tat schon weniger weh.

„Kaba! Cornflakes! Fruchtzwerge!“, fasste Lilly ihre Wünsche noch einmal nachdrücklich zusammen.

„Ja, Liebes, gleich, wie spät ist es denn?“

Wie zur Antwort trug der Wind das Mittagsgeläut von der St-Gertrud-Kirche herüber. Ronja fuhr hoch.

„Was, schon zwölf? So ein Mist! Das mit der Schule ist heute gelaufen.“

Sie stolperte über eine Anzahl von Playmobilmännchen, die Lilly in den frühen Morgenstunden mit viel Liebe zwischen Bett und Tür aufgestellt hatte. Fluchend hielt sich Ronja die schmerzende Zehe und lehnte sich gegen die Flurwand, bis der Schwindel in ihrem Kopf verflog. Dann humpelte sie ins Bad. Lilly folgte in ihrem Kielwasser.

„Au Scheiße, seh ich mies aus“, entfuhr es ihr, als ihr Blick auf das bleiche, zerknitterte Gesicht im Spiegel fiel.

„Au Scheiße, au Scheiße“, sang Lilly, war feinen Stoffhasen hoch und versuchte, ihn wieder aufzufangen. Das erste Mal landete er in der Badewanne, das zweite Mal auf dem Boden, das dritte Mal in der Kloschüssel.

„Hör auf damit!“, fuhr Ronja die Kleine an und entriss ihr den triefenden Hasen. „Scheiße sagt man nicht – du nicht. Das dürfen nur die Großen.“

Sie schwankte in die Küche, rührte Kaba an und füllte Cornflakes in eine Schüssel. Lilly plärrte, weil sie den Hasen wiederhaben wollte und außerdem nicht die doofe grüne Schüssel, sondern die mit der Mickymaus. Das Geschrei übertönte das Rasseln eines Schlüsselbundes, das Klappen der Wohnungstür und die Schritte im Flur. Ganz plötzlich stand er mitten in der Küche und zog beim Anblick der Familienszene verächtlich die Oberlippe hoch.

„Was geht hier denn für ein Mist ab?“, fragte der Mann und ließ den Blick von Lilly im geblümten Nachthemd zu Ronja in schwarzer Wäsche und Strümpfen wandern. „Mann, siehst du scheiße aus!“

Ronjas Augen blitzten. Sie boxte den Riesen mit dem was- ‘ serstoffblonden Bürstenschnitt in seinen tätowierten Oberarm.

„Sprich nicht so vor dem Kind. Das heißt guten Morgen, wenn man wo einfach so reinplatzt!“

Holger Laabs ließ seine von einem knappen Shirt kaum bedeckten Muskeln spielen und zeigte beim Grinsen eine Zahnlücke, die nach der Schlägerei von letzter Woche noch nicht wieder gefüllt war.

„Oh, die Diva hat schlechte Laune.“ Er klatschte ihr auf die unbedeckte Hinterbacke. „Eigentlich wollte ich mit dir eine kleine Nummer abziehen, doch so wie du aussiehst, lass ich das lieber.“

„Verschwinde!“, knurrte sie, trat nach seinem Schienbein und kippte dann Milch und Zucker in die Mickymaus-Schüssel.

„Du hast dich nicht zufällig mit Crack zugequalmt?“, fragte er, und ein drohender Unterton schwang in seiner Stimme. „Dann müsste ich dir nachdrücklich zeigen, dass ich das nicht dulde!“

Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu und schob sich dann an ihm vorbei, um sich ein T-Shirt aus dem Schlafzimmer zu holen. Holger folgte ihr und packte sie hart am Oberarm.

„Lass mich los, du Wichser“, zischte Ronja. „Ich nehme keine Drogen, das weißt du genau.“

Er ließ sich auf die grün gemusterte Tagesdecke ihres Bettes fallen und zuckte die Schultern. „Und warum siehst du dann wie ausgekotzt aus?“

Ronja schlüpfte in eine Jeans und ein verwaschenes weißes T-Shirt, das ihr knapp bis zum Bauchnabel reichte. Zögernd hielt sie inne.

„Ich weiß nicht“, sagte sie langsam. „Das muss mit dem komischen Kerl zusammenhängen, der immer auf seinem schweren Motorrad herkommt. Er bezahlt jedes Mal für die ganze Nacht, doch ich kann mich hinterher an nichts mehr erinnern und fühle mich tagelang so schlapp und schwach.“

„Also doch Drogen“, knurrte der Hüne und kratzte sich ungeniert im Schritt. „Der kommt mir nicht mehr ins Haus, hörst du? Ich will nicht, dass du wie Nadine auf dem Hansaplatz landest.“

Ronja nickte. „Will ich ja auch nicht“, seufzte sie und dachte an ihre Freundin, die sich des Nachts in den Straßen von St. Georg herumtrieb, um sich die nächsten Cracksteine zu verdienen. Kaum mehr als zehn Euro verlangte sie für ihre Dienste und musste dennoch froh sein, wenn sie ein oder zwei Freier pro Nacht fand.

„Dabei hatte die Rasse“, schimpfte Holger vor sich hin. „Mit der hätte man echt was verdienen können, aber das blöde Stück kann seine Finger nicht vom Stoff lassen.“ Plötzlich stutzte er. „Wenn wir schon beim Verdienen sind ...“

Ronja grunzte ungnädig, holte jedoch ein Bündel Hunderter aus ihrer Schublade und drückte sie Holger in die Hand.

„Da, und nun beweg deinen Arsch hier raus, ich will duschen.“ Überraschend widerstandslos ließ er sich zur Tür schieben, doch dort drehte er sich noch einmal um.

„Ich hab da ein kleines Paket, das ein paar Tage bei dir bleiben sollte. Du lässt die Finger davon, klar?“

„Klar! Geh jetzt endlich.“

„Und sieh zu, dass das Balg hier verschwindet!“

„Ach, fick dich doch ins Knie“, knurrte sie und schlug die Tür hinter ihm zu.

„Thomas, ich brauche dringend bis Ende der Woche frei. Kann ich nicht ein paar Überstunden abfeiern? Ich kann mein Kind nicht immer bei irgendeiner Freundin parken.“

Der Hauptkommissar brummte leise und blätterte anscheinend ungerührt in seiner Akte. Plötzlich hob er den Kopf und sah Sabine an.

„Wem bist du denn auf die Füße getreten?“, fragte er streng, griff in seine Schublade, holte die Hamburger Morgenpost hervor und warf sie auf den Schreibtisch. Schweigend sah Sabine in ihr keineswegs freundliches Gesicht und überflog den Artikel mit dem Kürzel FL.

„Wenn ich den erwische, dann mache ich Hackfleisch aus ihm“, schimpfte sie aufgebracht.

„Geh ihm lieber aus dem Weg. Ich habe es nicht so gern, wenn meine Teammitglieder zu Medienstars mutieren.“ Thomas Ohlendorf warf die Zeitung in den Papierkorb, und damit war das Thema für ihn erledigt.

„Sind die Fotos von der Fleetleiche schon da?“, fragte der Hauptkommissar. „Und wo ist der Sektionsbericht?“

Sabine legte einen braunen Umschlag auf den Schreibtisch. „Ertrunken, keine Gewalteinwirkung sichtbar, vermutlich um die 1,2 Promille. Die Fotos sind noch nicht da.“

Thomas Ohlendorf brummte, zog die Blätter aus dem Umschlag und überflog den Bericht. „Bring mir noch die Fotos und dann raus mit dir. Wir sehen uns Montag.“

Sabine atmete erleichtert aus. „Danke, wie kann ich das wiedergutmachen?“

Die Mundwinkel des Hauptkommissars zuckten. „Einen Abend im Blauen Peter 4, bis die Pupillen stillstehen.“

Sabine kicherte. „Was wird denn deine Frau dazu sagen?“

„Nichts, Hauptsache, ich rauche nicht wieder.“ Mit einem gequälten Blick zur Decke wickelte er einen Kaugummi aus und steckte ihn in den Mund. „Und jetzt schaff mir die Fotos her.“

Die Kommissarin salutierte lächelnd und eilte dann davon, um Björn Magnus aufzusuchen.

Sabine Berner klopfte an die Tür, doch nichts rührte sich. Im Büro war er nicht. Da das rote Licht nicht brannte, ging sie ins Labor hinüber. Der Polizeifotograf stand mit dem Rücken zu ihr an einem Tisch, vor sich eine große Schachtel, in der er hektisch etwas verstaute, als er die Tür klappen hörte. Polternd fiel eine Flasche um. Mit fahrigen Bewegungen schob er die Schachtel in den Schrank und wandte sich dann Sabine zu.

„Störe ich?“, fragte sie.

„Aber nein, wieso denn?“ Er zwang sich zu einem Lächeln und trat dann mit unsicheren Schritten auf sie zu. Eine Alkoholfahne, die sicher nicht von einem Schuss Rum im Tee herrührte, traf die Kommissarin, doch sie sagte nichts.

„Ich brauche die Fotos von der Wasserleiche aus dem Brooksfleet.“

Einige Augenblicke starrte Björn sie nur an, doch dann nickte er. „Ja, klar, die sind fertig. Geh doch schon mal ins Büro rüber, ich bringe sie dir gleich.“

Verwirrt trat Sabine Berner den Rückzug an. Sie musste nicht lange warten. Björn Magnus folgte ihr in das angrenzende Zimmer und drückte ihr die Mappe mit den Fotos in die Hand.

„Sonst noch was?“ Er trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Sabine ließ sich auf die Kante des Schreibtisches sinken und musterte das eingefallene, bleiche Gesicht des Fotografen.

„Das kannst nur du beantworten. Björn, was ist mit dir los? Irgendetwas ist doch passiert. So kenne ich dich gar nicht.“

Der Fotograf hob abwehrend die Hände, doch Sabine rührte sich nicht von der Stelle. Abwartend verschränkte sie die Arme vor der Brust. Björn wich ihrem Blick aus, trat ans Fenster und sah hinaus.

„Sie ist weg“, sagte er unsicher. „Maria ist weg.“ Sabine wartete geduldig. „Sie ist mit Susanna nach Italien gefahren, zurück zu ihrer Mutter, und dort wird sie wohl auch bleiben.“

Sabine erhob sich langsam und trat neben ihn. „Italien ist ihre Heimat. Hast du dir überlegt, ihr zu folgen?“

Ein schiefes Lächeln verzog seine Lippen. „Das will sie nicht. Sie hat mich verlassen. – Irgendetwas muss ich wohl falsch gemacht haben.“

Sabine drückte ihm sanft die Hand. „Das ist am Anfang richtig schwer, ich weiß, doch die Flasche ist nicht der richtige Trost, glaube mir. Das macht alles nur noch schlimmer. Wenn du jemanden zum Reden brauchst, dann ruf mich an, ja?“

Björn nickte und wandte den Kopf ab. Seufzend kehrte Sabine in ihr Büro zurück.

Die Nacht senkte sich herab. Der Vampir erhob sich von seinem Lager im Keller seiner Blankeneser Villa. Sein Mund war ausgetrocknet, seine Kehle schrie nach frischem Blut. Der Jagdeifer blitzte in seinen roten Augen. Mit schnellen Schritten eilte er durch den Baurs Park den bewaldeten Geesthang hinunter.

Unten angekommen, schwang er sich über das herrliche schmiedeeiserne Geländer, das noch aus Zeiten stammte, als Damen in weit ausladenden, langen Kleidern unter ihren Sonnenschirmen hier am Elbufer entlangpromenierten.

Der Vampir eilte lautlos am Ufer des breiten Stroms entlang. Für einen gewöhnlichen Menschen war es ein strammer Fußmarsch von zwei Stunden bis zu den Landungsbrücken vor St. Pauli, für Peter von Borgo, der, wenn er es wollte, die Gestalt eines kräftigen grauen Wolfes annehmen konnte, bedeutete diese Entfernung nichts. Heute jedoch traf er schon nach kurzer Zeit auf zwei wohlgenährte Opfer, die seine erste Gier stillten, und so genoss er die Muße, langsam am tintenschwarzen Wasser entlangzuschlendern, das leise glucksend an das befestigte Ufer schlug. Hier konnte er sich fast der Illusion hingeben, die Zeit würde nur langsam vergehen. Nur der Autolärm, der von der Eibchaussee an sein empfindliches Ohr drang, strafte diese Gedanken Lügen. Fast hörte es sich an wie der ferne Kanonendonner 1813, als die Russen kamen und die Franzosen die Stadt besetzt hielten. Seine Gedanken wanderten weit in die Ferne zurück. Ja, das waren aufregende Zeiten gewesen.

Schon vor Weihnachten besetzten die Franzosen die Kirchen, um sie zu Pferdeställen zu machen. Nur den Michael ließen sie in Ruhe. Vor den anrückenden Russen hatten sie schon beträchtliche Angst, die feschen Franzmänner. Sie brannten die Gartenhäuser am Dammtor nieder und drohten jedem, der auf den Wall gehe, fünfzig Stockhiebe an. Die Bewohner des Hamburger Bergs mussten ihre Häuser verlassen, und auch drüben in Hamm wurden die Häuser samt Schule und Pfarrhaus niedergebrannt, um den Russen die Deckung zu nehmen.

Unaufhaltsam rückten sie näher. Um der drohenden Belagerung standhalten zu können, musste jeder Hamburger genug Vorräte an Lebensmitteln und Brennholz vorweisen können. Wehe den Armen und Bedürftigen! Zu Tausenden trieben die Franzosen die Menschen aus den Gängevierteln am Weihnachtsabend zur Petrikirche und dann durch das Millerntor zur Stadt hinaus. Der Vampir sah den Menschenstrom wieder vor sich, viele barfuß und in ihrer dünnen Nachtbekleidung. Männer und Frauen, Alte und Kinder wankten, dem eisigen Nordwind trotzend, durch die schwelenden Trümmer der Vorstadt Altona entgegen. In dieser Nacht fielen die beiden Mädchen, die unter den Zähnen des Vampirs ihr junges Leben aushauchten, nicht ins Gewicht. Mehr als tausend der Vertriebenen starben in dieser und in den nächsten Nächten an Kälte und Hunger.

Tief in Gedanken schlenderte Peter von Borgo weiter. Männerstimmen drangen plötzlich an sein Ohr. Lauschend blieb er stehen.

„Nein, das war so nicht abgemacht!“, schimpfte der eine leise. „Ich habe keine Lust, eines Morgens mit einer Klinge in meiner Brust aufzuwachen oder von Kugeln durchsiebt zu werden!“

„Verdammt, du hast mir die Fotos versprochen. Schließlich zahle ich gut.“

„Hm.“

Interessiert trat Peter von Borgo näher. Die schwarzen Abgründe der menschlichen Seele waren ein interessantes Studienobjekt, und vielleicht würden die Männer noch eine geeignete Nachspeise abgeben.

„Ich lege noch einen Tausender drauf’, sagte der Zweite schmeichelnd. Der Vampir roch den scharfen Schweiß, den alkoholgeschwängerten Atem und das feuchte Leder seiner Jacke. Darunter mischte sich ein Hauch herben Parfums und die Ahnung des Dufts einer Frau, die ihm nicht unbekannt war. Die Silhouette des Mannes hob sich vom klaren Nachthimmel ab. Er war groß und leicht untersetzt, strähniges Haar fiel ihm bis auf die Schulter.

„Nein, der Boss kann zwei und zwei zusammenzählen. Er käme schnell darauf, dass nur ich Gelegenheit gehabt hätte, die Bilder zu machen“, wehrte der Kleinere ab, der nach starken, filterlosen Zigaretten und Bier roch.

„Gut, dann sagst du mir nur, wann und wo, und ich mache die Fotos selber“, schimpfte der andere. „Feige Memme!“

Sein Gegenüber ballte die Fäuste, doch er schlug nicht zu. „Es ist dir hoffentlich klar, dass ich dafür nur die Hälfte zahlen kann. Aber vielleicht hast du das nächste Mal mit den Karten mehr Glück“, fügte der Mann mit der Lederjacke spöttisch hinzu.

Der andere knirschte mit den Zähnen. „Gut, aber merke dir, ich bestimme, wann du welche Informationen bekommst. Ich werde mich schon bei dir melden. Also komm nie wieder zu mir, kapiert?“

„Ja, ja, reg dich ab.“

Die Männer verabschiedeten sich und gingen in verschiedene Richtungen davon. Peter von Borgo wollte dem einen gerade nachgehen, als er den beschwingten Schritt einer jungen Frau vernahm. Das war natürlich viel besser! Mit einem Lächeln auf den Lippen eilte der Vampir dem Geräusch entgegen.

Der Duft des Blutes

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