Читать книгу Nebeltann - Ulrike Wolf - Страница 13
ОглавлениеHerrmann und Rudolf Teschendorf waren Zwillinge, obwohl sie äußerlich unterschiedlicher nicht hätten sein können. Rudolf, der Erstgeborene, war von robuster Natur. Als Kind war er nie krank gewesen, hatte keine Allergien und das Essen schmeckte ihm immer. Sein Bruder Herrmann hingegen war bei seiner Geburt schon so schwächlich gewesen, dass alle gedacht hatten, er würde es nicht schaffen. Körperlich war er seinem Bruder weit unterlegen und bis er in die Schule gekommen war, was aufgrund seiner Zartheit erst ein Jahr nach Rudolf der Fall gewesen war, hatte er ständig mit Erkältungen, Mittelohrentzündungen und Magen-Darm-Problemen zu kämpfen gehabt. Seine Entwicklung war etwas verzögert und er brauchte eine Brille, weil er leicht schielte. Er war klein und mager, da er auch nicht gut aß. Sein Geist hingegen war hellwach. Seine musische Begabung zeigte sich, indem er Gedichte las und auch selbst welche schrieb und er lernte Geige spielen. So hatten sich die Brüder perfekt ergänzt. Herrmann lieferte die Ideen für sämtlichen Unsinn und Rudolf führte sie aus. Auch später in der Schule war Rudolf Herrmanns Beschützer und selbst von den größeren Jungs wagte sich keiner an Herrmann heran, weil sie wussten, dass Rudolf seinen Bruder verteidigte. Meistens mit Gewalt, was ihm den Ruf eines Schlägers einbrachte. Dafür half ihm Herrmann bei den Hausaufgaben, die ihm leicht von der Hand gingen, während Rudolf damit immer Schwierigkeiten hatte. Nach der Schule begann Rudolf eine Lehre als Dachdecker, während sein Bruder auf die Wirtschaftsschule ging und eine Buchhalterlehre machte. Rudolf machte sich selbstständig und als er seinen Bruder fragte, ob er ihm nicht die Buchhaltung machen wolle, sagte dieser sofort zu. Der Betrieb lief gut, denn Rudolf lieferte saubere Arbeit ab. Schon bald musste er zwei Männer einstellen, weil er es allein nicht mehr schaffte. Auch als erwachsene Männer hätten die Brüder nicht unterschiedlicher sein können. Obwohl Herrmann noch einen enormen Wachstumsschub hatte, blieb er dünn, ja fast zierlich. Er hatte blondes Haar, dunkelblaue, wie Murmeln wirkende Augen, einen kleinen Mund und eine kleine Nase. Rudolf war fast einen Kopf größer als Herrmann, breitschultrig, energiegeladen und muskulös und mit seinen schwarzen Haaren und den dunkelbraunen Augen verdrehte er in seiner Jugend so mancher Frau den Kopf. Beide heirateten spät, aber während es bei Rudolf daran lag, dass ihm die Frauen reihenweise zu Füßen lagen und er sich nicht so schnell binden wollte, war es bei Herrmann etwas anders. Er wartete auf die große Liebe und er wollte nicht wie sein Bruder ständig durch fremde Betten hüpfen. Fast gleichzeitig lernten sie ihre Frauen kennen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Herrmanns Frau Teresa war eine bodenständige, kleine und verständnisvolle Frau, die für die Sorgen und Nöte anderer immer ein offenes Ohr hatte. Vom äußeren hätte sie auch zu Rudolf gepasst, da sie ebenso dunkles Haar und ebensolche Augen hatte wie er. Sie war Herrmanns Gegenstück, der in seiner Verträumtheit manchmal wie abwesend erschien. Im Gegenzug zu Teresa war Saskia, Rudolfs Frau, ebenso verträumt und sensibel wie Herrmann und sie hatte ebenso blonde Haare und blaue Augen wie er. Die Leute im Dorf rissen ihre Witze und meinten, die Brüder hätten sich jeweils die falsche Frau gesucht, aber dem war nicht so. Die zwei Paare ergänzten sich perfekt, so wie sich früher die Brüder ergänzt hatten. Beide wurden im selben Jahr Vater, beide bekamen ein Mädchen und seltsamerweise kam Herrmanns Tochter Andrea nach ihrem Vater und Rudolfs Tochter Beatrice sah ebenfalls ihrem Vater ähnlicher als der Mutter.