Читать книгу Nebeltann - Ulrike Wolf - Страница 9

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Im Altenheim „Letzte Ruh“ saß Irmtraud Teschendorf, eine sehr gepflegte vierundachtzigjährige Dame mit weißem Haar, vor dem Fenster und sah hinaus in den wunderschönen parkähnlichen Garten. Es war früher Nachmittag und sie fühlte sich etwas unruhig und einsam. Also zog sie den Mantel über das dunkelblaue Kleid, das sie am liebsten trug, schlüpfte in die Stiefel und klopfte am Nebenzimmer bei Herrn Ambrosius, um ihn zu einem Spaziergang zu überreden. Als auf ihr Klopfen niemand reagierte, öffnete sie vorsichtig die Tür. Herr Ambrosius saß in seinem Sessel, ein Buch auf dem Schoß, und sah sie mit seltsam leerem Blick an.

„Herr Ambrosius, geht es Ihnen gut?“, fragte Irmtraud. Als keine Antwort kam, ging sie näher an ihn heran und berührte ihn am Arm. Ihre Vorahnung bestätigte sich. Mein Gott, er war ja schon ganz kalt! Sie öffnete das Fenster, dann ging sie, um eine Schwester zu holen. Ihren Spaziergang unternahm sie allein, vom Tod ließ sie sich davon nicht abbringen. Jeden Monat starb doch hier jemand! Aber wieder einmal wurde ihr die Endlichkeit auch ihres eigenen Lebens bewusst. Und zum vielleicht tausendsten Mal dachte sie, dass sie endlich mit Herrmann reden musste…

*

„Bitte, nimm ihn! Ich kann ihn nicht behalten. Du musst mir helfen. Wenn der Alte kommt und ihn sieht, nimmt er ihn mir weg!“

„Was redest du denn da? Ich kann doch nicht dein Kind nehmen, wie stellst du dir das vor? Was soll ich denn mit ihm machen? Er stirbt mir doch unter den Händen weg, so wie er aussieht!“ Der Blick des Mädchens wanderte zu ihrer Leibesmitte.

„Mach mit ihm, was du willst, aber um Himmels Willen hilf mir! Du wirst doch selbst bald Mutter!“

Noch nie hatte Irmtraud jemanden gesehen, der so verzweifelt war. Aber sie konnte doch nicht einfach das Kind nehmen, nach Hause gehen und sagen: Da bin ich wieder und ich hab noch jemanden mitgebracht. Angstvoll blickte die junge Frau zu ihr auf.

„Wen meinst du mit dem 'Alten'?”, fragte Irmtraud das Mädchen.

„Den Reinfichtnerbauern vom Tannenhof, bei dem ich in Diensten bin.“

„Aber er wird sehen, dass du das Kind zur Welt gebracht hast und wird wissen wollen, wo es ist.“

„Ich weiß, aber ich werde sagen, dass es tot zur Welt kam. Dafür brauche ich noch einmal deine Hilfe.“ Der Säugling gab ein leises Wimmern von sich. Irmtraud hatte sich schon entschieden. Sie zog ihren Unterrock aus und wickelte den Jungen darin ein. Er hatte die Augen geöffnet und sah sie an, als würde er direkt in ihr Inneres sehen.

Wahrscheinlich stirbt er mir unterwegs sowieso, dachte sie.

Kurz darauf verabschiedete sie sich von dem Mädchen. Keine Minute zu früh, denn kaum war sie gegangen, kam der Reinfichtner den Weg hoch.

*

Irmtraud saß auf einer Bank im Garten. Über 62 Jahre war das alles her, aber sie konnte nie mit jemandem darüber reden. Zwar hatte das Mädchen ihr den Jungen damals förmlich aufgedrängt, aber trotzdem meldete sich das schlechte Gewissen immer wieder. Zumal auch sie von den Geschichten gehört hatte, die damals oben im „Tannenhof“ vor sich gehen sollten. Aber ob da was Wahres dran war? Schon längst hätte sie reden müssen oder versuchen müssen, das Mädchen zu finden. Bereits 1949 war sie mit ihrem Mann und den zwei Kindern zu den Schwiegereltern nach Berchtesgaden gezogen, das schon fast an der österreichischen Grenze lag. Immer mit der Angst, dass sie irgendwann zur Rechenschaft gezogen werden würde. Aber das Mädchen hatte sie doch angefleht, das Kind zu nehmen, was hätte sie denn tun sollen? Mit diesem Argument hatte sie sich immer wieder selbst beruhigt. Trotzdem war im Hinterkopf immer ein Zweifel geblieben und die leise Angst, dass eines Tages das Mädchen vor der Tür stehen und ihren Sohn verlangen würde. Ihren Sohn, der entgegen allen Erwartungen überlebt hatte…

Nebeltann

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