Читать книгу Nachtschwester - Ein Norwegen-Krimi - Unni Lindell - Страница 10
ОглавлениеDie Abteilung Arbeitete wie besessen, um Informationen über den Mord und das Verschwinden des Mädchens zusammenzutragen. Es waren viele Hinweise von Leuten eingetroffen, die Kathrine Bjerke gesehen haben wollten. Die Kollegen aus Follo gingen diesen Hinweisen nach. Abteilungsleiterin Ingeborg Myklebust betrachtete die kleine Versammlung, sie waren zu zwölft. Sie hatte Cato Isaksen ein wenig feierlich gebeten, im Fall Brenda Moen die Fahndungsleitung zu übernehmen. Ihre Art ging ihm auf die Nerven, sie stellte es dar wie eine Ehre, für die er dankbar sein sollte. Sie hatte ihre rosa Jacke ausgezogen und über einen Stuhl gehängt. Unter dem Pullover zeichneten sich ihre Brüste deutlich ab. Cato Isaksen konnte sich nicht von dem Gedanken losreißen, dass die eine Brust nicht echt war. Er fragte sich, wie sie wohl ohne Kleider aussehen mochte.
Randi Johansen versetzte ihm einen Rippenstoß.
«Denk an Georg», sagte sie. «Daran sollte ich dich doch erinnern.»
Cato Isaksen nickte ihr dankbar zu und schaute auf die Uhr. In einer Dreiviertelstunde musste er den Kleinen im Kindergarten abholen. Wenn er das nicht schaffte, würde wieder die Hölle losbrechen. Die Kindergartenleitung würde Sigrid anrufen, und die würde versuchen, ihn per Handy zu erreichen. Hamza, Sigrids neuer Mann, würde sich einmischen und ihm erklären, wie ein guter Vater sich zu verhalten habe. Und diesen ganzen Blödsinn könnte Cato Isaksen nicht ertragen. Bente hatte an diesem Tag frei und wollte eine Freundin besuchen, ihr wollte er das also nicht zumuten. Sie hatte ihm schon sehr oft geholfen, wenn es um Georg ging. Aber er konnte doch wie in der vergangenen Woche den Jungen von einem Taxi abholen lassen.
Ingeborg Myklebust musterte ihn, während sie sprach. Sie kannte Cato Isaksens abwesende Miene. Sie wollte gerade um irgendeinen Kommentar bitten, als er aufsprang. Er entschuldigte sich damit, dass er telefonieren müsse. Dann lief er auf den Gang hinaus, rief in der Rezeption an und bat eine der Damen dort unten, Georgs Transport in die Wege zu leiten.
Als er ins Besprechungszimmer zurückkehrte, fing er sich einen irritierten Blick von Ingeborg Myklebust ein. Asle Tengs beugte sich über den Tisch.
«Wir haben noch einmal mit dem jungen Paar aus dem Nachbarhaus gesprochen», sagte er. «Und zwei Autofahrer haben sich gemeldet, nur fährt keiner einen dunklen BMW.»
«Die ältere Dame, die kurz vor oder nach dem Mord in der Gegend gesehen worden ist, hat die sich gemeldet?» Randi Johansen bückte sich und kratzte sich am Knöchel.
«Zwei Frauen haben angerufen.» Asle Tengs wühlte in seinen Papieren. «Aber keine passt zu der Beschreibung der Person, die kurz nach dem Mord gesehen worden ist. Und keine der beiden hat Schüsse gehört, sagen sie. Sie können auch nicht genau sagen, wann sie am Tatort vorüber gegangen sind, sie meinen aber, dass es zu dem Zeitpunkt war, als die Schüsse gefallen sind. Die Nachbarn konnten die Frau eigentlich auch nicht gut beschreiben. Die Skater meinen, sie habe einen dunklen Mantel getragen. Die Nachbarn meinen, es könnte auch ein Mann gewesen sein.»
Cato Isaksen legte sein Handy auf den Tisch. Er wartete auf Sigrids Anruf. Wenn er bisher seinen Sohn von einem Taxi hatte abholen lassen, hatte die Kindergartenleitung immer bei Sigrid angerufen und ihre Zustimmung eingeholt. Cato Isaksen hatte sich darüber beklagt, hatte der Kindergartenleitung die Leviten gelesen und erklärt, wenn er den Jungen holen müsse, sei es seine Sache, auf welche Weise das passiere.
Der jüngste Sohn war jedes zweite Wochenende und jeden Mittwoch oder Donnerstag bei ihm. Es war typisch, dass er gerade an diesem Wochenende an der Reihe war. Wo sie doch den neuen Mordfall hatten, hätte es keinen unpassenderen Zeitpunkt geben können.
«Und diese Skater können wirklich nichts mit der Sache zu tun haben?» Ingeborg Myklebust schaute schräg zu Roger Høibakk hinüber, der soeben einen Kamm durch seine Haare zog.
«Nein», sagte der und setzte sich gerade. «Cato und ich haben mit ihnen gesprochen. Sie sind vierzehn und fünfzehn Jahre alt. Drei Jungs. Eine Streife hat sie gegen halb zwölf an der Straßenbahnhaltestelle am John-Colletts-Platz aufgelesen. Sie sagen, sie hätten die Schüsse gehört, aber sie waren so weit weg, dass sie sie nicht als Schüsse erkannt haben. Ich glaube, wir sollten uns nicht zu sehr in diese Jungs verbeißen.»
«Als wir mit ihnen gesprochen haben, schienen sie schreckliche Angst zu haben», sagte Cato Isaksen. «Die richtige Sorte Angst, wenn man das so sagen kann. Ein schlechtes Gewissen hatten sie jedenfalls nicht.»
Randi Johansen stützte ihr Kinn in die Hände.
«Der Sohn der Verstorbenen sagt, seine Mutter sei nie so spät ausgegangen. Er sagt außerdem, dass sie zu so einer Art Damenclub gehörte, der sich mit der Königsfamilie beschäftigt. Die Damen trafen sich immer um achtzehn Uhr, in der Regel war sie also längst vor zehn zu Hause. Und am fraglichen Abend gab es kein Clubtreffen», fügte er hinzu. «Dass sie um kurz vor elf von zu Hause fort gegangen ist, stimmt nicht. Genauso hat er das gesagt. ‹Das stimmt nicht.› Sie ging nur sehr selten mit ihren Freundinnen ins Theater oder ins Kino, so spät passierte das aber nie.»
Ein Dienstanwärter kam herein und legte Cato Isaksen einen Zettel hin. Der hatte darum gebeten, den Ford Transit genauer unter die Lupe zu nehmen, mit dem Kenneth Hansens Freunde gekommen waren. Der Wagen war auf Birger Lofthus in Drøbak registriert, wurde aber vom Sohn Lars gefahren, einem Freund von Kenneth Hansen. Die Versicherung natürlich, dachte Cato Isaksen. Deshalb war der Wagen auf den Vater eingetragen. Er dachte an seinen eigenen Ältesten, Gard, der sich so wünschte, dass sein altes Auto auf den Vater registriert würde, um die Versicherung zu sparen. Aber das ging natürlich nicht, als Polizist konnte Cato Isaksen sich solche Tricks nicht leisten. Er hatte deshalb angeboten, seinem Sohn bei den Kosten zu helfen.
«Was ist eigentlich mit diesem Alf Boris Moen?» Preben Ulriksen beugte sich über den Tisch. «Roger, du hast gesagt, er sei irgendwie eigen.»
Randi Johansen nahm ihm die Antwort ab.
«Der Sohn ist einfach fertig, scheint aber in Ordnung zu sein. Ich habe mich heute Morgen länger mit ihm unterhalten. Er hat, seit er neunzehn oder zwanzig war, in der Wohnung über der seiner Mutter gewohnt. Er ist Junggeselle, hat keinerlei Vorstrafen. Arbeitet im Verteidigungsministerium. Alle, mit denen ich gesprochen habe, bezeichnen ihn als eine Seele von Mensch, ein wenig langweilig, ein Bürokrat eben, sonst aber in Ordnung.»
«Klingt verdächtig», Roger Høibakk grinste.
«Find ich auch», sagte Preben Ulriksen.
«Man erschießt aber nicht seine eigene Mutter hundert Meter von seinem Haus entfernt», sagte Randi Johansen und versuchte sich einen Breifleck von der Hose zu wischen.
«Vielleicht ist eben gerade das passiert. Vielleicht ist er um die Ecke gebogen, nachdem die Schüsse gefallen waren. Es wäre für ihn kein Problem gewesen, nach Hause zu laufen und so zu tun, als habe er den ganzen Abend dort verbracht. Du hast doch gesagt, dass er eine Fahne hatte?» Cato Isaksen nicke zu Roger Høibakk hinüber, und der schaute ihn abwesend an.
«Ich weiß nicht, ob das Alkohol war», sagte er. «Es könnte auch etwas anderes gewesen sein.»
«Einen Tag vorher gab es in Majorstua einen Handtaschenraub.» Thorsen zog ein Blatt Papier aus einem Ordner. «Alte Dame, vierundachtzig, von einem jungen Mann auf einem Fahrrad bestohlen. Die Ermittlungen werden natürlich eingestellt, wenn wir nichts finden, was diesen Fall interessant macht.»
Eine der Rezeptionsdamen rief jetzt bei Cato Isaksen an und sagte, sein Sohn sei eingetroffen. Sitze unten in der Rezeption und warte auf ihn. Cato Isaksen erhob sich und lief zur Tür.
Der Fünfjährige war schmutzig und verrotzt und nass.
«Ich hab Wasser in den Stiefeln, Papa», sagte er. «Können wir heute richtig Polizeiauto fahren?»
Cato Isaksen nickte der Rezeptionsdame kurz zu und legte dem Jungen den Arm um die Schultern.
«Nicht heute», sagte er.
«Ich zieh meine Stiefel aus», sagte Georg und streifte die blauen Cherrox mit Augen und Zähnen an der Spitze ab.
Cato Isaksen bückte sich und las sie auf. Die feuchten Kinderfuße hatten auf dem Fußboden kleine Spuren hinterlassen.
Als sie wieder nach oben kamen, war die Besprechung zu Ende gegangen. Alle machten sich wieder an ihre Arbeit. Ingeborg Myklebust war zum Glück nicht zu sehen. Er konnte ihre spitzen Bemerkungen, die immer fielen, wenn er sich um seinen Sohn kümmern musste, nicht mehr ausstehen. In vieler Hinsicht war seine Chefin eine umgekehrte Feministin. Sie ärgerte sich maßlos, wenn ein Kollege sich um seine Kinder kümmern musste. Für sie gab es nur die Arbeit, die kam vor allem anderen.
«Ich muss nur noch schnell was erledigen», sagte Cato Isaksen zu seinem Sohn, der seine Mütze abgezogen hatte. Seine Haare waren struppig und schweißnass. Ein Schmutzstreifen zog sich von seinem Ohr über die Wange bis zur Mitte des Halses.
Cato Isaksen suchte die Vernehmung der Zeugin heraus, die in der Nacht an Kathrine Bjerke vorbei gefahren war. Die Frau, die in Drøbak wohnte und ein kleines Kind hatte, war am 20. Februar um kurz nach Mitternacht auf den Tunneleingang zugefahren. Sie hatte ihren Mann von der Arbeit im Rainbow Hotel in Rjukan abholen wollen.
Während Georg alle Schubladen in den drei Aktenschränken öffnete und schloss, vertiefte der Fahnder sich in das Vernehmungsprotokoll.
Vernehmung von Heidi Greaker, * 06. 05. 1975
Ein Mädchen stand an der Bushaltestelle vor der Einfahrt zum Tunnel. (Zusatzauskunft: Oslofjordtunnel, Drøbakufer.) Das Mädchen, bei dem es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Kathrine Bjerke, von nun an KB genannt, handelte, stützte sich auf zwei Krücken und hatte einen Fuß auf den anderen gestellt. Sie trug einen schwarzen Snowjogger, von der modernen Sorte mit dicker, schwerer Sohle. Der andere Fuß war eingegipst. Die Scheinwerfer fingen ihr Bild ein und leuchteten die junge Frau einige Sekunden lang an. Sie trug einen beigen Dufflecoat und hatte halblange blonde Haare. (Stimmt mit den Auskünften der Mutter überein.) Sie hatte ein ernstes Gesicht. Die Zeugin, von nun an HG, schätzt sie auf zwölf oder dreizehn, sie kann natürlich aber auch bereits vierzehn sein. Sie hatte deutliche Ähnlichkeit mit der vermissten Kathrine Bjerke. Die Zeugin HG sagt: Obwohl ich sie nur einige Sekunden lang gesehen habe, erinnere ich mich so gut daran, weil das Bild so beunruhigend wirkte. Junge Mädchen sollten nachts nicht allein unterwegs sein Jedenfalls nicht so junge Mädchen. HG sagt, sie habe selber eine kleine Tochter, deshalb sei ihr das Mädchen so aufgefallen.
Die Straße führt an der Bushaltestelle vorbei und dann auf den Verteilerkreis. Es war kurz nach Mitternacht, am Dienstag, den 20. Februar. HG sagt, es muss unter Null gewesen sein, denn die Straße war mit Reif bedeckt und ziemlich glatt. In der Luft hing ein leichter Nieselregen, sagt HG, deshalb musste sie die Nebelscheinwerfer einschalten.
Die Tür öffnete sich. Roger Høibakk kam herein.
«Ich fahre jetzt nach Hause», sagte er. «Ich weiß schon gar nicht mehr, wann ich zuletzt geschlafen habe.»
Cato Isaksen faltete das Protokoll zusammen und heftete es wieder in den Ordner. Dann nahm er das kleine Tonband heraus, auf dem die Vernehmung zu hören war, und legte es ins Tonbandgerät ein. Georg knallte so hart mit den Schubladen, dass es seinem Vater in den Ohren wehtat. «Lass das», rief Cato Isaksen seinem Sohn zu, und der schaute ihn verdutzt an.
Roger Høibakk ging zu dem Jungen hinüber und fuhr ihm durch die Haare.
«Gut, dass Ellen heiratet», sagte er. «Dann produziert dein viriler Vater nicht noch mehr Gesellen wie dich.»
«Jetzt hör aber auf», sagte Cato Isaksen kurz.
«O Scheiße», sagte Roger Høibakk grinsend. «Du denkst doch nur ans Vögeln.» Ein Lächeln verbreitete sich über sein müdes Gesicht.
Cato Isaksen winkte mit dämlicher Miene ab. Dann lachte er kurz. Er konnte nicht dagegen an, obwohl es ihn maßlos ärgerte, dass Roger die Sache mit ihm und Ellen durchschaut hatte.
Roger verließ das Zimmer. Cato Isaksen drückte auf den Startknopf des Tonbandgerätes. Einige Sekunden später hallte Heidi Greakers Stimme durch den Raum:
Wenn ich nachts Auto fahre, sehe ich ab und zu Dinge, die sich mir für einige Sekunden einprägen. Ich fahre in der Dunkelheit vorüber und registriere vielleicht einen Menschen, der die Straße entlanggeht, und bin für einen Moment erfüllt von dem Fremden, von dem Zeitpunkt, der Bewegung und dem Ort. Und dann vergesse ich das alles wieder.
Warum ist Ihnen das Mädchen aufgefallen, und warum der Zeitpunkt?
Da kam einfach alles zusammen.
Machte sie einen ängstlichen Eindruck?
Ich glaube, nicht. Es war eher, dass es so spät und so dunkel war, und dass sie so jung aussah. Und dann waren da noch die Krücken.
Cato Isaksen drückte auf den Aus-Knopf. Georg sagte, er habe Hunger, der Vater versprach, unterwegs etwas zu kaufen. Richtig essen würden sie später alle zusammen, wenn Bente vom Besuch bei ihrer Freundin zurückgekehrt wäre.