Читать книгу "Du sollst nicht töten" - Ursula Corbin - Страница 13
Zwei Versionen einer Tat
ОглавлениеDer Staatsanwalt bezichtigte Clifford des kaltblütig geplanten und ausgeführten Raubmords. Clifford dagegen behauptete, die Tat nicht geplant zu haben; sein Vergehen wäre laut Gesetz als Diebstahl mit Todesfolge und demnach als Totschlag einzustufen. Nun lag Cliffords letzte Chance darin, dass der Anwalt der ACLU das Gericht davon überzeugen konnte, den Fall nochmals aufzurollen.
Tatsächlich gelang diesem Anwalt das Kunststück, dass nicht nur die Hinrichtung aufgeschoben wurde, er erreichte auch eine Weisung des Obergerichtes an das Bezirksgericht, den Fall nochmals genau zu prüfen. Die Tatsache, dass die Jury ausschließlich aus weißen Bürgern zusammengesetzt gewesen war und der Pflichtanwalt seinen Klienten nur mangelhaft verteidigt hatte, warf Fragen auf und musste nochmals überprüft werden.
Acht Jahre sollte das Ganze dauern! Immer wieder wurden Anträge formuliert und Berufungen eingereicht. Der Fall wurde ständig weitergezogen – vom Bezirksgericht ans höhere Gericht des Staates Texas und von diesem ans überstaatliche Gericht weitergereicht. Leider scheiterten alle Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens. Es hieß jeweils, dass die Gründe für eine Wiederaufnahme nicht gewichtig genug seien und somit werde das Begehren abgelehnt.
Immer wieder gab es neue Hinrichtungsdaten, immer wieder wurden die Daten verschoben.
Im Oktober 1991 schrieb Clifford:
»You know dear Ursula, in a way, I feel like I have died several times! Each time these wardens come to pick up one of us to get him executed, I am going that way with him – in my mind! It kills me to say goodbye and to know exactly what they are going to do with him and that he will never return! It harshly reminds me that it is only a question of time until it is going to be my turn! Do you have any idea how this feels?
I have told you that up to this day, I was able to survive several execution dates! I can assure you, that this has been hell! Can anybody out there possibly figure how it is, to get ready for your own execution, over and over again? Each time to get an official letter with a new date, to prepare mentally, write good-bye letters to the people you love, feel hopeless, alone and frightened – and praying to God for strength in these last days … And then, the count down of the remaining days, the hours and finally – the minutes! At the end of it all you just want it to be over with as quickly as possible! And suddenly – after all of what you went through – there is a phonecall from some office and you are told, that there is a stay of execution! A stay of 30 or 60 days ! Whatever – it is only a stay! I can honestly tell you that they have killed me several times up to now!«
»Weißt du, liebe Ursula, auf eine gewisse Art bin ich schon oft gestorben. Jedes Mal, wenn die Wärter einen Mitgefangenen zu seiner Hinrichtung abholen, dann mach ich im Geiste alles mit ihm durch! Es macht mich fertig, mich von ihm zu verabschieden und genau zu wissen, was sie jetzt mit ihm machen werden und dass er nie mehr zurückkehren wird. Es wird mir dann brutal bewusst, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis auch ich an der Reihe bin! Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlt? Ich hab dir ja erzählt, dass ich schon einige Hinrichtungsdaten überlebt habe. Ich kann dir versichern, da geht man durch die Hölle! Kann sich irgendein Mensch da draußen überhaupt vorstellen, wie das ist, sich immer wieder auf die eigene Hinrichtung vorzubereiten? Wieder einen Brief mit einem neuen Hinrichtungsdatum zu bekommen, sich erneut geistig darauf einzustellen, sich schriftlich von seinen Angehörigen und Freunden zu verabschieden und jedes Mal von Neuem mit dem Leben abzuschließen! Man hat keine Hoffnung mehr, ist alleine, hat Angst – und kann nur noch zu Gott beten, dass er einem Kraft für diesen letzten Tag geben möge! Und dann kommt die Zeit, in der man die Tage und Stunden zählt und schließlich die Minuten – und irgendwann will man nur noch, dass es jetzt schnell geht und alles vorbei ist! Aber dann – nach all dem, was du durchgemacht hast in diesen letzten Tagen – kommt plötzlich ein Anruf aus irgendeinem Büro, und man teilt dir mit, dass die Hinrichtung aufgeschoben wurde! Ein Aufschub von 30 Tagen oder 60 – was immer – es ist ja nur ein Aufschub! Ich kann dir sagen, ich bin schon etliche Male gestorben!«
Manchmal kam die Nachricht über den Aufschub erst kurz vor der Hinrichtung. Clifford hatte die letzte Mahlzeit bereits gegessen, das letzte Telefonat beendet, das Gespräch mit dem Pfarrer geführt und ein Medikament zur Beruhigung eingenommen. Bei ihm war es sogar so, dass er an einem dieser Termine schon auf dem Bett festgeschnallt lag, um im nächsten Moment die Giftspritze verabreicht zu bekommen, doch dann kam der Anruf, dass der Gouverneur angerufen habe … Später habe ich von seinem ehemaligen Pflichtanwalt erfahren, dass der Bescheid über den Aufschub schon Stunden vorher im Büro der Gefängnisleitung eingetroffen war!
In den letzten drei Wochen seines Lebens schrieben wir uns fast täglich. Ich wusste langsam nicht mehr, was ich ihm mehr wünschte: Ein erneuter Aufschub würde bedeuten, dass er nochmals alles durchleben müsste. Alle Berufungsmöglichkeiten waren ausgeschöpft und alle Gnadengesuche abgelehnt worden, wozu sollte ein weiterer Aufschub noch gut sein? Die Hinrichtung schien unausweichlich, war es da nicht besser, sie endlich zu vollziehen?
Das Thema Tod und was nachher kommen werde, war in diesen letzten Briefen sehr wichtig. Clifford betonte darin, er sei bereit zu sterben, durch die Konvertierung zum Islam habe er seinen Weg in Allah gefunden. Angst verspüre er keine mehr, denn er habe seinen Frieden gefunden.
Bevor Clifford nach Texas gezogen war, hatte er im Norden der USA, in Illinois, gelebt. Er war damals verheiratet, hatte einen kleinen Sohn und ein gut gehendes kleines Unternehmen, das darauf spezialisiert war, alte Häuser zu renovieren. Er war auch aktiv in einer religiösen Gemeinschaft und führte ein ganz normales Leben. Bis seine Ehe in die Brüche ging. Die Situation wurde für ihn unerträglich, und er wollte nur noch weg. Als ihm ein Kollege erzählte, dass es leicht sei, in Texas einen Job zu finden, ließ er alles stehen und liegen und machte sich auf nach Texas. Somit verlor er auch jeglichen Kontakt zu seiner Exfrau und seinem Sohn.
Seine Eltern waren beide verstorben, und mit seinen Geschwistern hatte er schon lange keinen Kontakt mehr. Es war ganz einfach niemand mehr da von seiner Familie, denen er etwas bedeutete.
Etwa zwei Wochen vor der Hinrichtung besuchte ich Clifford noch ein letztes Mal. Wie immer flog ich nach Houston, mietete am Flughafen ein kleines Auto und fuhr auf dem Highway 45 etwa eine Stunde Richtung Norden. Kurz nach der Ausfahrt Huntsville steht das Motel 6. Es ist eine billige, aber saubere Unterkunft. Die Tage verbrachte ich im Gefängnis, und mehr als ein sauberes Bett und eine gute Dusche brauchte ich nicht. Frühmorgens fuhr ich jeweils hinaus aufs Land. Die Straße nach Ellis One führte an großen Farmen mit Rindern vorbei und entlang endloser Felder. Die letzten Kilometer waren bewaldet, und man musste sehr aufpassen, die Einfahrt zu Ellis One nicht zu verpassen. Dies war das Gefängnis, in dem mehrere Hundert Männer einsaßen, die schwere Verbrechen begangen hatten. Sie waren alle entweder zum Tode verurteilt worden oder hatten lebenslange Haftstrafen ohne Bewährungsmöglichkeit abzusitzen.
Wenn man mit dem Auto bei Ellis One ankam, musste man etwa 200 Meter vor der Einfahrt stehen bleiben. Von einem Turm wurde an einer Leine ein Korb heruntergelassen, in den man seinen Pass legen musste, woraufhin der Korb wieder hinaufgezogen wurde. Welch altmodische Einrichtung in diesem hoch technologischen Land! Wurde der Pass wieder im Korb heruntergelassen, hieß dies, man dürfe nun hineinfahren und den Wagen vor dem Gefängnis auf einem großen Parkplatz abstellen. Als Nächstes betrat man eine kleine Baracke, in der die obligate Leibesvisitation durchgeführt wurde. Oft war dafür eine blonde, sehr kühle Frau zuständig; wir nannten sie den »Eisengel«. Sie entschied, ob man anständig genug angezogen sei, und sie durchsuchte jede Person ganz genau. Erst wenn sie zufrieden war, durfte man durch das erste verschlossene Tor gehen. Kaum befand man sich auf dem schmalen Asphaltstreifen zwischen den Zäunen, wurde hinter einem das Tor wieder geschlossen und das nächste geöffnet. Drei elektrische Zäune musste ich auf diese Weise passieren, bis ich das eigentliche Gefängnisgebäude betreten konnte. Dort musste ich mich am Schalter anstellen, meinen Pass abgeben und warten. Nach rund 15 Minuten erhielt ich eine Nummer und musste mich auf den entsprechend nummerierten Stuhl setzen. Bis der Gefangene gebracht wurde, verging nochmals mindestens eine halbe Stunde, dann konnten wir durch eine Scheibe und ein Eisengitter über einen Telefonhörer miteinander sprechen.
Clifford und ich blendeten die Möglichkeit aus, dass dies unser letzter Besuch sein könnte. Ich schaute ihn durch das Gitter genau an. Ein gut aussehender Mann, groß, kräftig und gesund. Er hatte eine schöne, tiefe Stimme, ein sympathisches Lachen und er konnte wunderbar zuhören. Wenn er über gewisse Themen wie Religion oder Politik sprach, war er ein leidenschaftlicher Redner, dem man einfach zuhören musste; unmöglich, mir vorzustellen, dass er in Kürze nicht mehr leben würde. Dass man diesen Mann, dieses Menschenleben, mit einer Giftspritze auslöschen würde. Es war unerträglich. Ich musste mich zwingen, an etwas anderes zu denken.
Wir sprachen über sein Leben und was alles hätte möglich sein können, wenn diese verhängnisvolle Nacht nie geschehen wäre. Wäre er nur in Illinois geblieben, zusammen mit seiner damaligen Ehefrau und dem kleinen Sohn hatte er doch ein gutes und sorgenfreies Leben gehabt. Die Scheidung von ihr hatte alles in seinem Leben durcheinandergebracht. Er hätte sicher gut für seinen kleinen Sohn gesorgt. Die Frage, wo sein Sohn wohl jetzt sein möge und wie es ihm wohl gehe, beschäftigte ihn sehr. Das Schlimmste für ihn war, dass er seinen Sohn seit seinem Umzug nie mehr gesehen hatte, er musste inzwischen ein erwachsener Mann sein.
Bei einem Rundgang auf dem Hof in Ellis One hatte er einen sehr interessanten Mitgefangenen kennengelernt. Dieser war ein glühender Anhänger von Louis Farrakhan und Mitglied in dessen Gruppe »Nation of Islam«. Aufgrund der Erzählungen des Mitgefangenen begann Clifford sich intensiv mit dem Islam zu beschäftigen. Seine Schlussfolgerung: Der Islam ist die richtige Religion für ihn und für alle Menschen. Diese Erkentnis schrieb Clifford dem Imam, der wöchentlich in Ellis One vorbeischaute, und teilte ihm mit, dass er übertreten wolle. Nach der Konvertierung gehörte er mit Leib und Seele zum Islam und hieß nicht mehr Clifford (das sei ja sicherlich nur ein Name eines weißen Sklavenhalters), sondern nannte sich Abdullah. Er bat mich, ihn ab sofort nur noch mit Abdullah anzusprechen, und sagte, er wünsche sich so sehr, dass ich mich auch mit dieser Religion befasse. Auch ich würde dann begreifen, dass das Christentum leider nur ein Irrglaube sei. Er werde mir sofort einen Koran zuschicken. Meine Einwände, dass ich viele Jahre in arabischen Ländern gelebt habe und diese Religion recht gut kenne und ich zufrieden sei mit meinem Glauben und auf keinen Fall konvertieren würde, ließ er überhaupt nicht gelten. Nach meiner Rückreise lag ein dicker Koran in meinem Briefkasten und jeder Brief von ihm handelte fast nur noch vom Islam.
Ab und zu sprachen wir über Mary, seine zweite Frau. Er bat mich, mit ihr in Kontakt zu bleiben, denn es war ihm bewusst, wie schwierig sein Tod für sie werden würde.
Lange redeten wir auch über den Tod und seine bevorstehende Hinrichtung. Diesmal werde es passieren, meinte er, er glaube nicht mehr an einen Aufschub. Ich versuchte noch, ihm zu sagen, dass dies ja schon so viele Male geschehen sei, doch er blieb dabei, er glaubte nicht mehr an einen Aufschub.
Als die Wärterin ankündigte, die Besuchszeit sei in fünf Minuten abgelaufen, konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Er versuchte mich zu beruhigen, aber auch ihm liefen Tränen über die Wangen. Schließlich erschienen zwei Wärter, und ich musste den Raum verlassen. Ich winkte ihm noch ein letztes Mal zu, und er nickte und lächelte – zurückwinken konnte er nicht, da seine Hände auf dem Rücken in Handschellen gelegt waren.
Bis am späteren Nachmittag des 15. Dezember 1993 wussten wir alle nicht, ob dies das definitive Datum war. Oder ob es doch nochmals einen Aufschub geben würde?
Die Stunden vergingen ätzend langsam, und ich begleitete ihn im Geist auf seinem letzten Gang. Um ein Uhr morgens unserer Zeit rief schließlich seine Frau an. Clifford war tot, gestorben durch eine Giftspritze; es war sein neunter Hinrichtungstermin gewesen.
Das erste Mal traf ich mich mit Mariam alias Mary in Huntsville, Texas. Eine rothaarige, sommersprossige Frau, etwa 40 Jahre alt. Sie trug ein Kopftuch und erzählte mir gleich, dass sie eigentlich Mary heiße, aber nun den moslemischen Namen Mariam angenommen habe und auch so angesprochen werden wolle. An diesem Treffen tauschten wir ein paar Nettigkeiten aus und schrieben uns später auch hin und wieder ein paar Sätze, doch ich spürte kein Bedürfnis, sie näher kennenzulernen.
Mariam war Engländerin und hatte ihr ganzes Leben in England verbracht. Sie war dort verheiratet und hatte zwei kleine Mädchen von sechs und acht Jahren. Im Teilzeitpensum arbeitete sie dort als Krankenschwester, ihr Mann in einem Büro. Durch eine Organisation bekam sie die Adresse von Clifford und fing an, ihm zu schreiben. Sie schrieben sich immer öfter, und es dauerte nicht lang, bis sie das Gefühl von Verliebtheit empfand. Sie hatte ein paar Fotos von ihm bekommen – er war ein gut aussehender Mann, sie war angetan davon, dass er sehr gut zuhören und schreiben konnte. Auch wenn er nur die Highschool absolviert hatte, war er doch an vielem interessiert. Zudem hatte er alle Zeit der Welt, ihr jeden Tag zu schreiben, und Mary genoss diese Aufmerksamkeit sehr. Sie konnte ihm sogar ihre Eheprobleme anvertrauen, und er half ihr, damit irgendwie zurechtzukommen.
Bald einmal erzählte er ihr dann auch vom Islam, und sie nahm alles dankbar auf. Sie besorgte sich einen Koran, begann ihn zu lesen, und in ihren Briefen besprachen sie jedes einzelne Kapitel. Schließlich fand sie, dass sie eigentlich nie eine richtig gläubige Christin gewesen sei und der Islam ihr viel mehr bieten könne.
Ihr irischer Ehemann war entsetzt, als sie ihm eines Tages erklärte, sie trete aus der katholischen Kirche aus. Zudem teilte sie ihm kurz darauf mit, sie habe sich entschieden, aus diesem eintönigen Leben auszubrechen, und sie gedenke, in Kürze nach Amerika zu ziehen. Mary gestand ihm, sich in einen Amerikaner verliebt zu haben und dass sie mit ihm ein neues Leben beginnen wolle. Sie erzählte ihm jedoch nicht, dass dieser Mann in der Todeszelle saß. Nach tagelangem heftigem Streit, vor allem um die Frage, was mit den beiden Mädchen passieren solle, verließ Mary ihren Mann und ihre Kinder und zog nach Texas.
In einem Spital in Houston fand sie rasch eine Anstellung als Krankenschwester und mietete nicht weit entfernt vom Gefängnis eine kleine Wohnung. Kaum richtig angekommen, konvertierte sie sehr zum Gefallen von Abdullah (alias Clifford) zum Islam, nannte sich von da an Mariam und trug immer ein Kopftuch und einen Gebetsteppich mit sich. Zwei Wochen später heirateten die beiden, eine rein amtliche Sache: Sie musste in einem Gemeindebüro die Papiere unterschreiben, und er anschließend dasselbe Papier in seiner Zelle. Kein Treffen, kein besonderer Besuch, keine Umarmung – nur ein amtliches Papier.
Eine Mutter verlässt ihre Kinder wegen eines Mannes, der zum Tode verurteilt ist, den sie nur durch ein Glasfenster sehen und mit dem sie nur per Telefonhörer kommunizieren kann. Sie heiratet einen Mann, mit dem sie nie einen Abend allein verbracht hat und den sie nicht einmal nach der zivilen Trauung in die Arme nehmen durfte. Das ist schwer zu verstehen, geschweige denn nachzuvollziehen.
Mariam fühlte sich unendlich tief verbunden mit diesem Mann, und der Islam schweißte sie zusammen. Sie glaubte daran, dass Allah ihre Gebete erhören und dass Abdullahs Strafe vielleicht doch noch in lebenslängliche Haft umgewandelt würde. Ihre Hoffnung ging so weit, dass er bei guter Führung nach Verbüßung seiner Strafe wieder freikommen und sie eines fernen Tages mit ihm zusammen noch die restlichen Jahre verbringen könne. Sie schmiedete bereits Pläne, wo und wie sie dann mit ihm leben werde.
Nach der Hinrichtung von Abdullah war Mariam am Boden zerstört. Sie wollte auf keinen Fall länger in Texas bleiben, sondern so schnell wie möglich zurück nach England. In der Zwischenzeit hatte ihr ehemaliger Mann die Scheidung durchgezogen und erreicht, dass Mariam ihre Kinder nicht mehr sehen durfte. Alles Bitten half nichts, der Ehemann wollte nichts mehr von ihr wissen, und Mariam musste in einer anderen Stadt ihr Leben noch einmal von vorne beginnen.
Danach habe ich nie mehr etwas von ihr gehört.
Im Laufe der vielen Jahre, in denen ich mit Gefangenen korrespondierte, habe ich etliche Frauen kennengelernt, die sich in ihre Brieffreunde im Gefängnis verliebt und sie manchmal auch geheiratet haben. Immer wieder habe ich in Gesprächen mit ihnen versucht herauszufinden, wie es so weit kommen kann. Es muss ihnen doch klar gewesen sein, dass diese Männer nie mehr freikommen – im Gegenteil, dass sie irgendwann hingerichtet würden. Es gibt nicht die geringste Chance auf ein gemeinsames Leben, darauf, eine Familie zu gründen …
Da ist auf der einen Seite ein Mann, der verurteilt ist und der weiß, dass seine Zeit begrenzt ist. Er ist womöglich seit Jahren in eine winzige Zelle eingesperrt, völlig isoliert von der Welt, und wünscht sich nichts mehr, als mit einem Menschen über seine Ängste, sein Leben, seine Tat, seine bevorstehende Hinrichtung, seine Gedanken über den Tod, über Gott – über alles, was ihn zutiefst beschäftigt – zu sprechen. Wer auch immer ihm schreibt, er ist einfach nur froh, endlich jemanden gefunden zu haben, dem er sich anvertrauen kann. Dieser Mann hat den ganzen langen Tag Zeit, um auf seine Brieffreundin einzugehen und ihr zu schreiben. Er hört sich ihre Sorgen an, gibt Ratschläge, vermittelt ihr das Gefühl, dass sie gebraucht wird. Oft hat er recht schnell das Gefühl, dass er sie liebe. Sie ist ja meist der einzige Mensch, der noch an seinem Leben teilnimmt.
Auf der anderen Seite eine sozial denkende Frau. Sie möchte etwas Gutes tun, möchte mit ihren Briefen etwas Menschlichkeit in ein verpfuschtes Leben bringen. Vielleicht ist sie auch einsam, vielleicht hat sie schlechte Erfahrungen in ihrem Leben gemacht. Auch sie ist froh, endlich jemanden zu haben, dem sie alles anvertrauen kann. Auch ihr bedeutet diese Brieffreundschaft immer mehr und wird zu einem wichtigen Teil in ihrem Leben. Je mehr sie sich verbunden und verstanden fühlt, desto leichter kommen auch bei ihr Gefühle auf.
Oft wird dann verdrängt, dass dieser Mann kein unbeschriebenes Blatt ist und dass er nun wegen eines Mordes zum Tode verurteilt wurde. Die Frau beginnt alles erdenklich Gute auf ihn zu projizieren – all das, was sie sich von einem Mann erträumt. Auf einmal sieht sie in ihm den idealen Mann, der Einzige, der sie versteht, der einfühlsam ist und sie bedingungslos liebt, so wie sie ist. Sie will gar nicht mehr daran denken, dass sie niemals die Gelegenheit haben wird, mit ihm zusammen zu sein. Sie versinkt in ihrer Fantasiewelt, was für beide ja auch schön sein kann: raus aus der brutalen Wirklichkeit, hinein in eine Welt voller Möglichkeiten.
Solange nur die beiden involviert sind in einer solchen Beziehung, ist das auch in Ordnung. Beide haben nichts zu verlieren, und es geht auch nur sie beide etwas an. Problematisch wird es dann, wenn, wie im Falle von Mary, ein Ehemann oder Kinder betroffen sind und Familien oder Beziehungen daran zerbrechen.
Aus eigener Erfahrung kann ich nur sagen, es ist oft eine äußerst schwierige Gratwanderung: Zu geben – und doch nicht zu viel –, zu nehmen – und doch immer Grenzen aufzuzeigen!