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2.Pablo
ОглавлениеEine fatale Entscheidung
Inhaftierung: Mai 1992
Haftanstalt: bis 1999 Ellis One, ab dann
Polunsky Unit, Livingston, Texas, USA
Er war der liebenswürdigste und sanfteste Gefangene, den ich je gekannt habe. Über 20 Jahre habe ich ihm geschrieben und nach Hunderten von Briefen und den vielen Besuchen bei ihm bestand zwischen uns eine wahre und tiefe Freundschaft. Für mich war es schwer zu verstehen, warum dieser freundliche Mann im Todestrakt gelandet war und dort nun seit so vielen Jahren auf seine Hinrichtung wartete.
Aber – auch er war schuldig und bezahlte für eine Tat, die niemals hätte geschehen dürfen! Dass er seine Tat zutiefst bereute und alles gegeben hätte, die Zeit zurückzudrehen und alles ungeschehen zu machen, das spielte keine Rolle mehr. Nur hoffte er darauf, dass sein Anwalt es eventuell doch noch schaffen würde, die Todesstrafe, die gegen ihn verhängt worden war, in eine lebenslängliche Strafe umzuwandeln.
Pablo durchlief zunächst ein für Amerika typisches Migrantenschicksal. Seine Eltern waren sehr arm und lebten im Norden von Mexiko. Von Nachbarn erfuhren sie, man suche in den USA ständig Arbeitskräfte für die Landwirtschaft und man könne dort etwas verdienen. So machte sich die Familie mit ihren drei Kindern Isabel, Eliana und Pablito auf den Weg. Die Reise war Ende der 1960er-Jahre überhaupt nicht schwierig, denn die Grenze wurde noch kaum überwacht. Im Süden der USA warteten riesige Farmen auf die dringend benötigten und hoch willkommenen Arbeitskräfte für die Ernten, denn es war nahezu unmöglich, Amerikaner für diese harte und schlecht bezahlte Arbeit zu finden. Die Familie erreichte Texas und konnte für den Anfang bei Verwandten unterkommen. Sehr schnell fanden sie Arbeit auf einer der gigantischen Baumwollplantagen. Man stellte keine Fragen nach Aufenthaltsgenehmigungen oder sonstigen Papieren, und natürlich bezahlte man diesen Menschen nicht einmal das gesetzliche Minimum eines Stundenlohns. Die Farmer wussten genau, dass sich die Arbeiter wegen ihres illegalen Status nicht wehren konnten.
Die Mexikaner arbeiteten hart und waren froh, etwas zu verdienen. Alle mussten mit anpacken, auch die Kinder. Da blieb keine Zeit und kaum Möglichkeiten für die Schule – jede Hand wurde gebraucht. Pablo erzählte mir in seinen Briefen oft, dass er schon als kleiner Bub von frühmorgens bis spätabends in der brütenden Sonne arbeiten musste. »Das Schlimmste war aber nicht die brütende Hitze, sondern die Stacheln an den Baumwollkapseln, die wir pflücken mussten. Jeden Abend waren unsere Hände zerstochen und bluteten.« Pablo und seine älteren Geschwister wünschten sich nichts mehr, als eines Tages nicht mehr auf den Feldern arbeiten zu müssen und vielleicht doch einmal in eine Schule gehen zu können.
Die Familie entschied sich schnell, in Texas zu bleiben. Trotz der harten Arbeit ging es ihnen dort besser als in Mexiko, und dank den Löhnen aller Familienmitglieder konnten sie sich eine Unterkunft mieten und hatten genug zu essen. Mit der Zeit fanden sie sogar eine bessere Arbeit auf den Feldern von Gemüseanbauern.
Obwohl sie sich illegal im Land aufhielten, durften die Eltern die Kinder für die Schule anmelden – damit sie wenigstens eine rudimentäre Bildung erhielten. Pablo war schon fast ein Teenager, als er Lesen und Schreiben lernte, und er war ein sehr guter Schüler! Eine Highschool durfte er dann aber nicht mehr besuchen, dies ist in den USA keine Pflicht, und so endete Pablos Schulzeit schon nach wenigen Jahren. Er war jetzt ein kräftiger junger Mann, und seine Eltern erwarteten, dass er einen Job finden und zum gemeinsamen Haushalt beitragen würde.
Ständig auf der Suche nach Arbeit, packte er mal hier, mal dort an – überall, wo es gerade etwas zu verdienen gab. Ein Tagelöhner und Gelegenheitsarbeiter, das war eigentlich nicht das Leben, das sich Pablo erträumt hatte. Er war clever und fleißig, ohne weitere Bildung würde er nie aus dieser Umgebung rauskommen, das war ihm durchaus bewusst. Doch von seinem kleinen, unregelmäßigen Einkommen blieb nichts übrig für weitere Schulen, und zu Hause erwartete man von ihm finanzielle Unterstützung.
Pablo liebte die Fiestas, die Frauen und immer mehr auch den Alkohol. Er war beliebt, hatte viele Freunde und ging gerne und oft in die Bars von San Antonio. An diesen Abenden wurde viel getanzt, gefeiert und getrunken. Häufig kam der damals knapp 17-Jährige nachts betrunken nach Hause, was zu heftigen Streitereien mit den Eltern führte. So jung wie er war, hatte er doch schon etliche Frauengeschichten hinter sich, und sein Leben wurde mangels Perspektiven immer unsteter. Bis zu dem Tag, als er Wendy an einem Fest kennenlernte. Hals über Kopf verliebte er sich in die weiße Amerikanerin, dies war die Frau, mit der er eine Familie aufbauen und bis ans Lebensende zusammen sein wollte. Auch sie war verliebt, und so heirateten die beiden recht überstürzt. Pablo zog von zu Hause aus und fand Platz in Wendys kleiner Wohnung.
Durch diese Heirat konnte Pablo nun auch seinen Aufenthalt in den USA legalisieren, und er beschaffte sich die amerikanische Staatsbürgerschaft. Wendy ermunterte ihn, doch noch die Highschool zu absolvieren, und Pablo versuchte tatsächlich, neben seinen verschiedenen Hilfsjobs zur Schule zu gehen. Ob er die Highschool je abgeschlossen hat, weiß ich nicht – ich hab ihn nie danach gefragt, und er hat es mir von sich aus nie erzählt. Ich hab mich nur immer wieder gewundert, wie fehlerfrei seine Briefe waren.
Eigentlich hätte das Leben des jungen Paares gut verlaufen können, wenn Pablo nur nicht so viel getrunken hätte. Die beiden bekamen kurz nacheinander zwei Kinder, und Pablo vergötterte seine Familie – Tochter Cindy und Sohn Pablito waren sein Ein und Alles. Mit Wendy hingegen lief es nicht so gut, sie stritten immer öfter wegen Geld und wegen seines übermäßigen Alkoholkonsums. Ein paar Mal versuchte er, mithilfe der Organsiation AA – Alcoholics Anonymous – vom Alkohol loszukommen, allerdings hielt er nie lange durch. Für Wendy und die kleinen Kinder wurde die Situation unhaltbar. Nach einem besonders schlimmen Vorfall entschloss sie sich deshalb, zusammen mit ihren beiden Kindern zu ihrem neuen Freund zu ziehen.
An diesem Abend, an dem Pablos Leben völlig aus den Fugen geriet, hatte er nach der Arbeit noch ein Lokal besucht und schon einiges getrunken. Erst ziemlich spät machte er sich auf den Heimweg zu ihrer Wohnung in einem Block in einem Houstoner Arbeiterquartier. Pablo stieg die Treppen bis ins oberste Stockwerk hoch und schloss die Wohnungstüre auf, wo Wendy bereits wütend auf ihn wartete. Er hatte versprochen, gleich nach der Arbeit nach Hause zu kommen, um auf die Kinder aufzupassen. Sie war verabredet, und nun war es viel zu spät geworden! Pablo hatte keine Lust, sich ihre Vorwürfe anzuhören, er suchte nach Bier im Kühlschrank, konnte aber keines finden. Ohne ein Wort machte er sich nochmals auf den Weg, um Nachschub zu besorgen.
Das war für Wendy zu viel. Kaum hatte Pablo die Wohnung verlassen, packte sie so schnell sie konnte ein paar Sachen von sich und den Kindern zusammen und wollte gerade gehen, da stand Pablo bereits wieder in der Tür. Es gab einen heftigen Streit, und Wendy schrie, dass sie endgültig genug habe von seiner Sauferei und ihn verlasse. Die Kinder nehme sie mit, er solle sie alle von jetzt an einfach in Ruhe lassen. Sie versuchte sich mit den vollgepackten Taschen und den Kindern an ihm vorbeizudrängen, aber er hielt sie fest und ließ sie nicht durch. Pablo tobte, er werde es niemals zulassen, dass sie Cindy und Pablito mitnehme, und er sie umbringen werde, wenn sie es wagen sollte. Als Pablo merkte, dass seine Drohungen nichts bewirkten, ließ er plötzlich von Wendy ab und stürmte aus der Wohnung die Treppe hinunter zu seinem Auto. Im Handschuhfach seines Wagens schnappte er sich seinen Revolver und rannte zurück in die Wohnung. Wendy befürchtete inzwischen Schlimmes und flüchtete mit den beiden Kindern zur Nachbarin. Diese war schon öfter Zeugin schlimmer Auseinandersetzungen zwischen den beiden geworden; sie ließ die drei in ihre Wohnung und verriegelte die Tür.
Als Pablo zurückkam, war die gemeinsame Wohnung leer. Er hatte niemanden aus dem Wohnblock gehen sehen, also musste Wendy noch irgendwo da drin sein. Pablo wusste, dass die Nachbarin eine gute Freundin seiner Frau war, und war sich sicher, dass sich Wendy dort versteckte. Nachdem ihm auf sein Klingeln und Gepolter niemand aufmachte, trat er die Tür ein. Wendy und die Nachbarin standen in der Nähe der Tür – Pablo trat zurück auf den Flur und schoss, die Nachbarin wurde schwer verletzt, Wendy starb auf der Stelle.
Inzwischen war die Polizei eingetroffen, die Nachbarin hatte sie gerufen, kurz nachdem sie die drei bei sich aufgenommen hatte. Als die schwer bewaffneten Polizisten ins Treppenhaus stürmten, fanden sie Pablo mit der Waffe vor. Er richtete sie gegen sich selbst und schrie, er werde sich sofort erschießen, wenn die Polizisten näher kommen würden. Man versuchte ihm gut zuzureden, aber erst einem Psychologen gelang es, Pablo davon zu überzeugen, an seine Kinder zu denken und sich nichts anzutun. Er solle doch bitte die Waffe fallen lassen und sich ergeben – alles andere werde sich sonst zu einer enormen Tragödie für alle Zurückgebliebenen auswachsen. Nach langem Hin und Her ergab sich Pablo und gestand die Tat sofort.
Dass Wendy tot war, begriff Pablo erst, als er in der Zelle wieder nüchtern wurde. Seine größte Sorge war, was nun mit seinen beiden Kindern geschehen würde – sein eigenes Leben war nicht mehr wichtig. Er wusste genau, dass er nie mehr lebend aus dem Gefängnis rauskommen würde, um noch für die Kinder da zu sein. Durch seine unkontrollierbare Wut hatte er alles verloren, was er geliebt hatte.
Da Pablo nie genug Geld verdient hatte, um etwas für den Notfall auf die Seite legen zu können, bekam er vom Gericht einen Pflichtverteidiger zugeteilt. Dieser hätte versuchen können, auf Mord im Affekt zu plädieren – tat er aber nicht. Anscheinend gab es damals in Texas ein Gesetz, das Mord im Affekt als Tatbestand nur zuließ, wenn die Tat in der eigenen Wohnung oder im öffentlichen Raum passiert war. Da Wendy in der Wohnung der Nachbarin lag, als sie tot zusammenbrach, sah die Gesetzeslage anders aus. Die Tat wurde als vorsätzlicher Mord eingestuft. Hätte Wendy draußen im Flur gelegen – an einem öffentlichen Ort –, hätte Pablo für Mord im Affekt wahrscheinlich eine lebenslange Haftstrafe erhalten. Doch Pablo war alles egal, er wollte ohnehin nicht mehr leben. Die Verkündung des Todesurteils brachte ihn nicht im Geringsten aus der Fassung.
Die ersten Jahre nach seiner Verurteilung verbrachte Pablo im Todestrakt von Ellis One. Und langsam fand er sich mit dem Leben dort ab; er erwies sich als vorbildlicher Gefangener, war stets höflich den Wärtern gegenüber und schloss Freundschaften mit anderen Gefangenen, die, wie er, zum Tode verurteilt waren.
Doch seine Kinder fehlten ihm mehr als alles andere, und die Schuld, für den Tod ihrer Mutter verantwortlich zu sein, lastete schwer auf ihm. Cindy und Pablito lebten nun bei Verwandten, und diese hatten entschieden, dass es besser für die Kinder sei, jeglichen Kontakt zum Vater zu unterbinden. Die Briefe, die Pablo immer wieder an seine Kinder schrieb, blieben unbeantwortet.
Ursula und Pablo
Pablo war der erste Gefangene, der nach dem Interview bei Radio Huntsville mit mir Kontakt aufnahm. Seine berührenden Zeilen erreichten mich jedoch kurz nach der Hinrichtung von Clifford, und so fand ich erst nach etlichen Wochen die Kraft zu antworten. Ich bat ihn um Verständnis, dass ich jetzt wirklich nicht bereit für eine neue Brieffreundschaft sei. Zudem wolle ich auch gar nicht mehr mit jemandem aus dem Todestrakt korrespondieren, weil die Erfahrung, die ich erst vor Kurzem gemacht hätte, viel zu schmerzhaft gewesen sei. Und so gab ich ihm eine Adresse von einer Organisation, an die er sich wenden konnte, um eine Brieffreundin zu finden.
Aber Pablo ließ nicht locker. Er habe alles Verständnis der Welt, und es tue ihm leid, dass ich im Moment so leide. Sein Brief war einfühlsam und schön, und ich legte ihn auf die Seite für den Fall, dass ich doch eines Tages wieder jemandem schreiben wollte. Nach ein paar Monaten fühlte ich mich wieder bereit und begann Pablo zu schreiben. Pablo erzählte mir viel aus seinem Leben – von seiner Kindheit auf den Feldern, seinen Träumen, die er nie verwirklichen konnte, von seiner Familie und von seinen beiden Kindern, die er unendlich vermisste. Auch die Gedanken über seine Tat teilte er mir mit, über Gott, seinen Glauben und den Tod. Er beteuerte immer wieder, dass er alles dafür geben würde, seine Tat ungeschehen zu machen – dass er doch seine Wendy und die Kinder über alles geliebt habe.
Die Frage, ob Gott ihm vergeben werde, wenn er tot sei, und ob so etwas wie die Hölle auch wirklich existiere auf der anderen Seite, beschäftigte ihn sehr. Ich besorgte Bücher für ihn, die vom Sterben und dem Leben danach handelten, Bücher über das Christentum, die Reinkarnation, den Buddhismus und solche über Spiritualität. Pablo war auf der Suche nach Antworten, und ich versuchte, ihm so gut wie möglich dabei zu helfen.
In meinen Briefen berichtete ich von meinem alltäglichen Leben, von meinen vielen beruflichen Reisen in ferne Länder, meiner Familie, meinen Hobbys und Interessen. Wir diskutierten intensiv und lange über die amerikanische Politik, den Rassismus, den Kapitalismus und die soziale Ungerechtigkeit in den USA.
Es interessierte ihn brennend, wie das Leben in Europa und der Schweiz funktioniert, er wollte unsere Politik, unsere Mentalität, unsere Lebensweise und unsere Traditionen kennenlernen, denn er war nie in seinem Leben gereist, nie aus Texas herausgekommen.
Pablo war ziemlich klein und rundlich, nicht besonders attraktiv, aber sehr sympathisch. Alle Mitgefangenen, die ich kannte, mochten ihn, und er hatte auch nie irgendwelche Auseinandersetzungen mit den Wärtern. Er versuchte, mit ihnen immer anständig und freundlich zu bleiben, auch wenn dies oft nicht leicht war. Seine Haltung war: Es nützt eh nichts, sich zu wehren, damit macht man sich das Leben da drin nur noch schwerer. Pablo versuchte einfach nur, mit allen gut auszukommen und nie Anlass zu einer Beschwerde zu geben. Falls es dann vielleicht doch einmal zu einem Wiederaufnahmeverfahren käme, könnte ihm ein vorbildhaftes Benehmen nur helfen.
Wir korrespondierten abwechslungsweise auf Englisch und Spanisch, und es zeigte sich schnell, dass er trotz seiner Situation seinen Humor nicht ganz verloren hatte. Während meiner Besuche im Besucherraum gab es immer viel zu lachen; es war Pablo wichtig, dass unsere Gespräche auch eine gewisse Leichtigkeit enthielten, und auch ihm tat es gut, eine kleine Pause vom tristen Gefängnisalltag zu haben.
Leider war die Gefängniskost miserabel und sehr karg. In den ersten Jahren, als er noch in Ellis One einsaß, hatte Pablo einen Job bei der Essensvergabe ergattert, und es blieb stets etwas für ihn übrig. Die größte Freude konnte ich ihm machen, wenn ich während meines Besuches die 30 Dollar, die ich mitbringen durfte, in Root Beer, Cola, Sandwiches, Salat und Süßigkeiten für ihn investierte. Die Wärterin brachte ihm dann jeweils alles in mehreren Papiertüten in die Besucherzelle, und er konnte während unseres vierstündigen Zusammenseins alles aufessen. Manchmal steckte er die übrig gebliebenen Süßigkeiten in seine Socken und hoffte, dass man ihn auf dem Rückweg in seine Zelle nicht so genau durchsuchen würde. Er war einer der wenigen Gefangenen, denen die Wärter wohlgesonnen waren. Und so kontrollierten sie ihn nur oberflächlich oder drückten auch mal ein Auge zu, wenn sie ihn in die Zelle begleiteten.
Gegen Ende 1999 wurden alle zum Tode Verurteilten wegen eines misslungenen Ausbruchsversuchs einiger Gefangener ins Hochsicherheitsgefängnis von Livingston verlegt, etwa eine Autostunde von Huntsville entfernt. Für Pablo und auch alle anderen war dies ein sehr einschneidendes Erlebnis, denn in Ellis One hatten sie bei guter Führung noch ein paar Privilegien gehabt. So konnte er sich dort zum Beispiel mit Bastelmaterialien wie Holzstäbchen und Farbe in der Zelle beschäftigen und kleine Objekte herstellen, die er später verschenkte. Die Gefangenen durften in der Kleiderfabrik (oder, wie Pablo, im Essensservice) arbeiten, konnten während drei Stunden am Tag in einen Innenhof und mit anderen Gefangenen reden oder Basketball spielen. Die Zellen waren zum Gang hin mit eisernen Zellstäben versehen, was es ihnen erlaubte, durch die Zwischenräume miteinander zu reden. Es gab sogar einen TV-Apparat am Ende des Traktes, und so konnten sie durch die Zellenstäbe hindurch die Sendungen schauen, die die Wärter eingestellt hatten. Unten an den Türen gab es eine kleine Spalte. Mit viel Geschick und langen Angelruten, die sie selbst bastelten, gelang es ihnen, durch diesen Spalt hindurch kleine Dinge auszutauschen. Wenn kein Wärter in der Nähe war, ging da so einiges von Zelle zu Zelle – auch Zigaretten, die Pablo selber drehte und gegen Briefmarken »verkaufte«. Dies war essenziell für Pablo,
es gab ja kein Taschengeld, und er musste sich alles selber beschaffen.
In Livingston war alles auf einen Schlag ganz anders. Niemand durfte mehr arbeiten, keiner etwas basteln. In den Zellen herrscht totale Isolation, nichts, womit man sich beschäftigen könnte. Auch gibt es niemanden zum Reden, denn die Zellen in Livingston sind rundherum aus Beton, und eine eiserne Tür mit einer Klappe, die nur aufgeschlossen wird, wenn das Essen durchgereicht wird, bildet den einzigen Zugang zur Welt. Hoch oben an der Wand gelangt durch einen kleinen Fensterschlitz ein Streifen Tageslicht in die Zelle; um da hinauszusehen, muss man die Matratze geschickt zusammenfalten und sich daraufstellen. Allerdings sehen sie von diesem wackeligen Konstrukt nur auf den Parkplatz oder an den nächsten Gefängnisblock.
An diesem unwirtlichen Ort existiert keine Bibliothek, auch kein Kontakt zu anderen Gefangenen, jeder schmort 22 bis 23 Stunden pro Tag in einer winzigen Zelle – alleine. Dreimal pro Woche dürfen sie duschen, begleitet von einem Wärter, und zweimal in der Woche für ein bis zwei Stunden »Ausgang«: Die Todeskandidaten werden in eine Art großen Käfig in einem Innenhof gebracht, der auf allen Seiten von Gittern umgeben ist. Durch das obere Gitter können sie den Himmel sehen. Zwei dieser Käfige stehen nebeneinander, und durch das Gitter können sie mit dem Gefangenen im Käfig nebenan ein wenig reden. An den Wochenenden ist weniger Personal im Einsatz, folglich dürfen die Gefangenen an diesen zwei Tagen außer zur Dusche gar nicht aus der Zelle.
Für Pablo war Livingston die absolute Katastrophe. Er, der so gerne redete und unter Menschen war, der gerne arbeitete und sich mit allerlei kleinen Basteleien und Malereien beschäftigte, der gerne mit kleinen Dingen wie Esswaren und Zigaretten handelte, war abgeschnitten von allem, ihn umgab die totale Einsamkeit.
Seit er in Livingston saß, erhielt ich beinahe jede Woche Post von ihm, und ich fühlte mich manchmal etwas überfordert. In der Zwischenzeit hatte ich auf Ersuchen von Emma Wilcox, der Gefängnispfarrerin, angefangen, auch anderen Gefangenen zu schreiben, und es war zunehmend schwierig für mich, allen gerecht zu werden und schnell zu antworten. Es war mir bewusst, wie sehr sie auf meine Briefe warteten und enttäuscht waren, wenn der Wärter wieder nicht vor ihrer Zelle stehen blieb, um einen Brief durchzuschieben.
Meine Besuche im Gefängnis waren für die Gefangenen sehr wichtig. Pablo freute sich jeweils sehr auf meinen Besuch und zählte lange vorher schon die Wochen und Tage. Jedes Jahr im Herbst nahm ich Ferien und flog auf eigene Kosten in die USA. Zuerst verbrachte ich ein bis zwei Wochen mit Besuchen von Gefangenen in Kalifornien und Texas, anschließend flog ich in meine alte Heimat in Virginia, um noch ein paar Tage nur Ferien zu machen.
Stets hatte Pablo für mich gebastelt oder gemalt, und jedes Mal, wenn ich in Texas ankam und im Hotel eincheckte, lag ein Brief an der Rezeption für mich bereit. Einmal fand ich sogar einen Strauß Blumen mit einer Karte von ihm in meinem Hotelzimmer. Wie er das organisieren konnte, ist mir bis heute ein Rätsel.
Bis auf ein einziges Mal im Herbst 1999 waren die Besuche bei Pablo immer sehr schön. Ahnungslos ging ich ins Gefängnis und setzte mich auf den mir zugewiesenen Platz. Bald darauf wurde Pablo gebracht, und wir saßen uns wie immer gegenüber, getrennt durch die Glasscheibe. Plötzlich hörte ich, wie die Frau, die auf dem Stuhl neben mir saß, laut anfing zu weinen. Durch die Fensterscheibe vor ihr sah ich einen sehr jungen Mann, der verzweifelt versuchte, sie über das Telefon zu trösten. Pablo sagte mir, dass dies der Mann sei, der heute Abend hingerichtet werde, und die Frau, die neben mir weine, sei seine Mutter. Es war mir schlichtweg nicht mehr möglich, mit Pablo noch eine richtige Konversation zu führen – es brach mir das Herz, diese Mutter zu sehen, die neben mir die letzten Stunden mit ihrem Sohn verbrachte. Ich spürte ihre Verzweiflung, sah sie leiden, und ich sah ständig diesen jungen Kerl, der mein Sohn hätte sein können, und der versuchte, seine Mutter zu trösten. Unweigerlich hörte ich viel von dem, was sie sprachen, und irgendwann musste auch ich weinen. Dann trat ein Pfarrer dazu und betete mit den beiden, und am Schluss musste sich die Mutter durch die Glasscheibe endgültig von ihrem Sohn verabschieden. Keine letzte Umarmung, nur die Glasscheibe und ein Telefonhörer. Der junge Mann wurde abgeführt und seine Mutter aufgefordert, den Raum zu verlassen. Pablo hatte sich so auf meinen Besuch gefreut, und hier saß ich nun und weinte um den jungen Mann und seine Mutter, und ich konnte mich einfach nicht beruhigen.
Wenigstens hatten wir am nächsten Tag nochmals vier Stunden, doch mir ging das Ganze einfach nicht mehr aus dem Kopf. Der Staat Texas hatte den jungen Mann am Abend zuvor getötet, und ich wollte von Pablo wissen, wofür er so unmenschlich bestraft worden war. Pablo erzählte, der Junge habe mit Kollegen einen Laden überfallen und dabei sei ein Mann erschossen worden. Da niemand gestand und man nicht nachweisen konnte, wer der eigentliche Schütze gewesen war, hatten alle drei die Todesstrafe erhalten. Nach der Verurteilung habe der junge Mann dann auf alle Berufungen verzichtet und schriftlich erklärt, er wolle lieber sofort sterben, als jahrelang auf eine Hinrichtung zu warten. Und nun habe man das Urteil vollstreckt.
Dieses Erlebnis verfolgte mich noch lange.
Eines Tages schrieb Pablo, er habe jetzt noch eine zweite Brieffreundschaft mit einer Frau aus Deutschland angefangen, was mich erleichterte, denn nun gab es einen weiteren Menschen in seinem Leben, der sich um ihn kümmerte. Und diese Frau startete einen Spendenaufruf für Pablo, weil sie mit diesem Geld einen guten Anwalt für ihn engagieren wollte. Aufgrund eigener Erfahrungen und vieler Berichte über die wirklich sehr geldgierigen Anwälte in Texas hatte ich meine Zweifel, aber es war einen Versuch wert.