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Tausende von Briefen über den Atlantik
ОглавлениеSchon als Teenager träumte ich davon, eines Tages in die USA auszuwandern. Ich war überzeugt, dass dort alles so viel besser, größer und freier sei als in unserer kleinen engstirnigen Schweiz. Mit knapp 18 Jahren zog ich von zu Hause aus und lebte anschließend viele Jahre auf verschiedenen Kontinenten – bis ich schließlich in den USA landete: Ich hatte einen Amerikaner geheiratet und lebte mit ihm einige Jahre in verschiedenen Staaten. Mit dem Alltagsleben veränderte sich meine Sicht der Dinge jedoch gewaltig, das Leben war alles andere als leicht und unbeschwert. Es war ein harter Überlebenskampf, dem wir uns täglich zu stellen hatten, und zu alledem musste man ständig auf der Hut sein. Die Kriminalitätsrate war sehr hoch, und die Menschen hatten Angst. Auch ich hatte mehrere Schlösser an meinen Türen, auch ich fuhr mit dem Auto die 200 Meter bis zum Lebensmittelladen, auch ich vergewisserte mich vor dem Einsteigen jedes Mal zuerst, ob sich jemand hinter meinem Sitz versteckte, und auch ich schnallte – wie viele Mütter – meinen kleinen Sohn im Einkaufswagen fest, damit ihn niemand mitnehmen konnte. Im Fernsehen gab es jeden Tag vor allem Nachrichten über Morde, Vergewaltigungen und schreckliche Unfälle, man sah kaum etwas Positives.
Kaum zu glauben: Das war also das Land meiner Träume, das Land der großen Freiheit, und dabei ging es so vielen Menschen schlecht. Ich kam recht viel herum in diesem Land, und an so vielen Orten sah ich Armut. Ganze Familien lebten in ihren Autos, weil sie die Miete nicht bezahlen konnten und ihr Haus verloren hatten. Am Strand richteten sich jeden Abend Menschen ihren Schlafplatz ein, weil sie weder ein Zuhause hatten noch einen Job; in den Abfalltonnen vor den Fast-Food-Ketten suchten sie nach Essbarem.
Zum ersten Mal hörte ich auch, welch horrende Strafen für relativ harmlose Verbrechen gesprochen wurden (wohl zur Abschreckung) und dass in den USA immer wieder die Todesstrafe vollzogen wurde. Zwar waren es jeweils nur kleine Randnotizen in den Zeitungen, wenn wieder ein Mensch auf dem elektrischen Stuhl getötet worden war, aber ich fand es jedes Mal grauenhaft. Ich hatte mein Leben lang daran geglaubt, dass die USA ein wirklich fortschrittliches Land sei, denn es hieß ja, dieses Land sei ein Vorbild für die ganze Welt.
Dass weite Teile der Bevölkerung wegen der hohen Kriminalitätsrate in Angst lebten, konnte ich verstehen. Aber wie konnte man nur so simpel denken, dass man dieses Problem loswürde, indem man die Täter für Jahrzehnte wegsperrte und die Schlimmsten von ihnen tötete? Und wenn man wirklich davon überzeugt war: Warum wurde es dann nie besser? Warum fragte niemand nach den Ursachen? Dabei waren doch gerade in diesem Land die Menschen so religiös und gingen in die Kirche – wie konnten sie das gesetzliche Töten mit dem christlichen Glauben vereinbaren? Ich verstand das nicht und war entsetzt und zutiefst enttäuscht von diesem Land.
Ein paar Jahre später kehrte ich in die Schweiz zurück. Noch einmal startete ich mein Leben neu, und ich war glücklich und zufrieden, mit meinem Sohn hier leben zu dürfen. Aber all das, was ich in den USA wie in einigen anderen Ländern gesehen und erfahren hatte, hatte sich tief in mir eingeprägt, und ich wollte unbedingt etwas gegen all dieses Unmenschliche und Ungerechte tun. Also trat ich unserer Quartiergruppe von Amnesty International bei. Ich schrieb viele Protestbriefe und nahm an Standaktionen auf den Plätzen von Zürich teil. Meist ging es um politische Gefangene oder um Menschen, die aus religiösen oder ethnischen Gründen verfolgt, gefoltert, verschleppt, inhaftiert und oft auch getötet wurden. Wir sammelten Unterschriften und schrieben massenweise Briefe, um die entsprechenden Regierungsstellen unter Druck zu setzen. Um Geld für diverse Projekte aus aller Welt aufzutreiben, organisierten wir Mittagstische, führten einen Stand am Quartierfest und verkauften Schokoherzen. Ich war überall dabei.
Regelmäßig trafen wir uns in einem Saal eines Pfarreizentrums, und an einer dieser Sitzungen las unser Präsident einen Brief von einem Mann in einer Todeszelle in Texas vor. Dieser Gefangene schrieb, er habe ein Hinrichtungsdatum erhalten und werde in drei Monaten hingerichtet; sein großer Wunsch lautete, noch mit jemandem zu korrespondieren, bis es so weit sei. Der Brief war auf Englisch geschrieben, und unser Kollege fragte in die Runde, ob denn jemand genug Englisch beherrsche, um eine solche Korrespondenz zu führen. Ja, ich konnte dies tun und wollte diesen Mann in diesen letzten drei Monaten begleiten – wenn auch nur mit meinen Briefen.
So begann mit meinem ersten Brief an Clifford im Sommer 1986 mein Engagement, das bis zum heutigen Tag andauert. Fast 35 Jahre sind inzwischen vergangen; in diesen vielen Jahren haben wohl Tausende Briefe den Atlantik überquert, und ich war unzählige Male zu Besuch in den Gefängnissen von Texas und Kalifornien.
Mit insgesamt 15 Männern, die alle zum Tode verurteilt waren, habe ich in diesen Jahren korrespondiert und viele von ihnen auch regelmäßig besucht. Acht von diesen Lebensgeschichten habe ich ausgewählt für dieses Buch – es sind die acht Gefangenen, mit denen ich am intensivsten und längsten Kontakt hatte. Alles was ich hier berichte, habe ich von ihnen persönlich erfahren, das Einzige, was ich bei einigen geändert habe, sind ihre Namen – ansonsten entspricht alles genau dem, was sie mir über die Jahre geschrieben und erzählt haben.