Читать книгу Tödlicher Spätsommer - Ursula Dettlaff - Страница 5
Klare Fakten
ОглавлениеWie oft hatte sie in den vergangenen Monaten das Präsidium betreten. Am Anfang spürte sie lediglich eine große innere Leere und vor allem weiche Knie.
Verwundert nahm sie zur Kenntnis, dass das Leben um sie herum weiterging, als sei nichts geschehen. Die Straßenbahn rollte die Düsseldorfer Straße entlang. Autos surrten über das Kopfsteinpflaster.
Am unerträglichsten erschien Helenes herzliches Lachen.
Der Leere folgte die Wut auf die ermittelnden Beamten beider Länder. Von großem Interesse, den Fall aufzuklären, konnte keine Rede sein. Alles sah nach einem ganz normalen Unfall aus, wie er im Jahr tausendfach vorkommt. Bedauerlicherweise mit tödlichem Ausgang, zugegeben. „Das ist für die Hinterbliebenen schlimm“, meinte Schumann zur Begrüßung.
Er war von seinem Schreibtischstuhl aufgestanden, um der Frau entgegen zu gehen und ihr die Hand zu reichen. Im Laufe der Zeit hatte der Oberkommissar seine Meinung über die „eiserne Jungfrau“ wie Helene im ganzen Präsidium genannt wurde, geändert.
Zwar ging ihm noch immer ihre Beharrlichkeit gründlich auf die Nerven. Noch dazu diese Unterstellung, man sei untätig gewesen. Was dachte sich diese Tussi dabei? Wie sollte ein so kleiner Stab von Mitarbeitern so viele Fälle aufklären?
Vor allem der Vorwurf, nicht jeder erdenklichen Spur mit der nötigen Sorgfalt nachgegangen zu sein, wurmte ihn ziemlich.
Ein Ferienhaus ist nun mal nicht so gegen Einbruch gesichert, wie ein Bankgebäude. Muss es aber auch nicht. Vermutlich gab es ganz logische Erklärungen für die wenigen verbliebenen Ungereimtheiten, obwohl, die Spurensicherung an der Türklinke, der Spüle und dem Kühlschrank beispielsweise überhaupt keine Fingerabdrücke sicherstellen konnte, war bestimmt mit der kurzen Zeit erklärbar, die die Tote in dem Haus verbracht hatte. Sie muss einen Reinlichkeitstick gehabt haben.
Schumann warf noch einmal einen Blick auf die Tatortfotos. Auf dem Tisch im Wohnzimmer stand ein Glas, in dem sich ein Rest Saft befand, daneben ein Teller mit Brotkrümeln. Alles verschimmelt, was mit der Zeit, in der die Sachen unbenutzt dastanden, erklärbar war.
Im Kühlschrank fanden die dänischen Kollegen die angebrochene Saftflasche, Käse, verschiedene Aufstriche und Brot.
Man hatte die Lebensmittel auf Spuren von giftigen oder auf andere Weise verdächtige Substanzen untersucht. – Ergebnislos. – Am Geschirr konnte die DNA der Verstorbenen nachgewiesen werden.
Immer und immer wieder hatte Schumann mit der Eisernen Jungfrau, die sich schon zum Schrecken des Präsidiums entwickelt hatte, den Fall durchgekaut.
Anfangs kam sie fast täglich, um sich über die Ermittlungsergebnisse zu informieren. Möglich, dass er dabei zu viel Verständnis zeigte.
Irgendwann musste er ihr unmissverständlich klarmachen, dass sie mit ihren Kontrollvisiten die Arbeit der Polizei behindere. Was sie nicht davon abhielt, wöchentlich reinzuschneien. Aber die dänischen Kollegen sahen keinen Grund für eine länderübergreifende Zusammenarbeit.
Wozu auch? Die Fakten waren klar: Eine deutsche Touristin lag tot am Fuße einer Treppe in ihrem Ferienhaus. Sie war erst kurz zuvor eingetroffen.
Niemand kannte sie in der Feriensiedlung, keiner vermisste sie also.
Die Reinigungskraft, die das Haus vor dem Eintreffen der nächsten Gäste säubern wollte, fand schließlich die Tote. Schumanns Mitleid galt der Putzfrau. Sie stand tagelang unter Schock.
Für die Mordtheorie der Schwester gab es keinerlei Beweise. Es war an der Zeit, die Akten zu schließen und im Keller zu archivieren.
„Nur für Sie habe ich sogar schwarzen Tee gekauft“, erklärte der Mann freundlich und mitfühlend, schaltete den Wasserkocher ein und hängte einen Teebeutel in eine Tasse.
Helene warf einen Blick auf das Päckchen. „Jetzt ist es wohl schon ein wenig zu spät dazu“, sagte sie gedehnt.
Als Schumann sie fragend anblickte, erklärte sie: „Der Discounter wirbt doch mit dem Slogan: Bei Nichtgefallen Geld zurück! Immerhin würde das für die Brötchentaste der Parkuhr reichen.“
Charmant, freundlich und humorvoll wie immer, die Schneider, dachte Schumann, während er das kochende Wasser in die Tasse goss und sie der Frau über den Schreibtisch reichte.
„Mit Höflichkeit können Sie nicht umgehen, oder?“, fragte er.
Nachdenklich blätterte er ein letztes Mal die dicke Akte durch.
Das fehlende Handy war so etwas wie der Strohhalm, an den sich die Frau klammerte. Verständlich in ihrer Situation.
Angeblich trug die Tote es immer bei sich. Im Haus und im Fahrzeug der Verstorbenen wurde keines gefunden. Benutzt wurde es zuletzt am Todestag, wie ein Anruf beim Provider ergab.
Die Verbindung dauerte genau eine Minute dreißig. Der Anruf ging an ein Prepaid-Handy.
Über den breiten Schreibtisch konnte Helene das allerdings nicht lesen. Umso deutlicher hatten sich die Bilder ihrer toten Schwester mit den weit geöffneten Augen in ihr Gedächtnis gebrannt.
Dass heute ein endgültiger Schlussstrich gezogen werden sollte, versetzte Helene buchstäblich einen Fausthieb in die Magengrube.
„Darf ich mal sehen. Ich würde mir gern etwas abschreiben“, bat sie.
Diese störrische Alte war nicht ganz bei Verstand. Die konnte einen ja so was von aufregen. „Das geht nicht“, erwiderte Schumann barsch. „Das sollten Sie eigentlich wissen. Schauen Sie lieber nach Ihrem Tee und nehmen den Beutel raus. Der wird sonst zu bitter.“
Schumann brauchte auf der Stelle eine Zigarette, obwohl er seit mindestens einer Woche stolzer Nichtraucher war.
„Sie werden doch wohl hoffentlich nicht gegen das Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden verstoßen, Herr Kommissar. Wie hoch ist die entsprechende Ordnungsstrafe?“, gab Helene zu bedenken, als sie sah, wie er eine Zigarettenschachtel aus der Schublade ziehen wollte, die er nun mit lautem Rums wieder zuwarf.
Vorsichtig schielte er auf seine Armbanduhr. Gleich war er die lästige Besucherin los. Wissend, was ihn erwartete, hatte er mit einem Kollegen verabredet, dass der ihn anrufen würde.
Helene trank den Tee langsam und in kleinen Schlückchen.
Die Frau sieht eigentlich gar nicht so übel aus, sie müsste einfach mehr aus sich machen, dachte Schumann.
„Sie haben große Ähnlichkeit mit Jutta“, durchbrach er das Schweigen schließlich. „Kunststück, wir sind Zwillingsschwestern“, giftete Helene.
Wo blieb bloß der verabredete Anruf, verflucht? „Ich will doch lediglich wissen, wo es passiert ist“, bettelte Helene und zog gleichzeitig ihr Schreibzeug aus der Tasche.
Mit einer ruckartigen Bewegung klappte Schumann die Akte zu und stellte sie hinter sich in den Schrank. Helene war sprachlos vor Wut und Enttäuschung.
Einen Augenblick lang genoss Schumann die Mimik. Ein Spiel, das er noch toppen konnte, indem er sich seelenruhig in seinem Stuhl zurücklehnte, eine andere Schublade aufzog und einen Ferienkatalog hervorholte. „Ach, ich könnte gut ein paar Tage Urlaub gebrauchen“, meinte er und blickte aus dem Fenster. „Ein Strohdachhaus mit schöner Terrasse, direkt am Strand, das wäre genau das richtige. Pool und Sauna brauche ich nicht. Und auch sonst könnte ich auf Schnickschnack, wie Bars und Diskos in der Nähe getrost verzichten“, fügte er hinzu. „Was halten Sie zum Beispiel von diesem hier?“, erkundigte er sich und zeigte auf ein rotes Backsteinhaus. Erst als er vom Katalog aufblickte, merkte er, dass Helene das Büro längst verlassen hatte.
Sein Telefon klingelte. „Sie ist schon weg“, schnauzte er in den Hörer.
Draußen vor der Eingangstür des Präsidiums blieb sie einen Moment stehen und lehnte sich an die Bruchsteinmauer.
Sie schämte sich.
Schumann durfte ihr seine Ermittlungsergebnisse nicht preisgeben. Und sie war nun einmal nicht klug genug, um das Gespräch so führen zu können, dass sich der erfahrene Beamte ganz zufällig verplappern würde.
Schluss, Ende, Akte zu. Viel zu sehr nahmen die Ereignisse des vergangenen Sommers von ihren Gedanken Besitz.
Ihr blieb doch keine Wahl.
Sie spürte eine unvorstellbare Leere.
Sah vor sich nichts als ein tiefes Loch.
Ein Leben ohne Jutta war sinnlos. Die täglichen gemeinsamen Mahlzeiten waren ebenso eine Selbstverständlichkeit wie die Fernsehabende.
Sie wohnen in dem Haus, in dem sie geboren wurden.
Sollte sie jetzt ,wohnten‘ sagen?
Als Teenager hatte der Vater „seinen Mädchen“ die Dachgeschosswohnung ausgebaut. Nach dem Tod der Eltern war Helene in deren Wohnung gezogen. Jutta wandelte sich das Dachgeschoss vom Kinderzimmer in ein gemütliches Single-Appartement.
Jetzt gab es nur noch Helene. Sie fühlte sich unglaublich allein.
„Ist Ihnen nicht gut? Kann ich Ihnen helfen?“ Die Fragen eines Passanten holten Helene in die Gegenwart. „Nein, nein, danke, alles in Ordnung“, antwortete sie hastig und merkte, wie ihr Gesicht rot anlief.
Helene wartete einen Moment, bis der Mann nicht mehr zu sehen war. Ihr Gang, ihre Haltung, die Mimik, überall zeigte sich ihre Unsicherheit.