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Vorsichtige Annäherung

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„Das ist aber wirklich nicht richtig“, hörte Helene plötzlich eine alte Frau schimpfen. „Hunde haben auf einem Spielplatz nichts zu suchen“, rief sie.

„Entschuldigung“, entgegnete der Hundebesitzer ruhig, „dies hier ist der Weg, der am Spielplatz vorbeiführt und mein Hund ist angeleint. Er stört doch niemanden.“

Helene teilte die Bedenken der Passantin. Es dauerte gewiss nicht mehr lange bis der Hund den Spielplatz verunreinigen würde.

„Nun sagen Sie doch auch mal was“, forderte die Frau Helene auf, Stellung zu beziehen. Das musste ja wohl nicht sein. Eilig wandte sie sich ab und lief Richtung Freibad.

„Wir haben uns vor einigen Tagen im Tierheim gesehen“, hörte sie dann hinter sich eine Stimme, tat jedoch, als fühle sie sich nicht angesprochen. Ihr war nicht nach Gespräch. Der Mann war nun neben ihr. „Überlegen Sie noch, ob Sie einen Hund bei sich aufnehmen?“, hakte er nach. „Der Besuch war übereilt“, tat Helene ihren Tierheimbesuch ab. „Ich habe überhaupt keine Zeit für ein Tier.“

Es kam, wie sie befürchtet hatte. Der Mann ließ sich nicht abwimmeln. Faselte was von, käme ja drauf an, wen man sich aussuche. Fragte, ob sie nicht wie er in der Nähe wohne. Ideale Voraussetzungen, meinte er. Helene lief schneller, bog auf die Zuwegung zum Restaurant ab. „Auf Wiedersehen“, wunderte sich ihr Gesprächspartner.

Kurz vor der Eingangstür drehte sie sich noch einmal um. Der Mann befand sich in Hörweite. „Ist er noch da?“, fragte sie beinah im Flüsterton. „Jap“, stieß er knapp hervor und eilte über die Brücke. Was bildete dieser blöde Kerl sich ein, ihr ein schlechtes Gewissen einzureden.

Na, der Appetit war ihr gründlich vergangen. Helene machte auf dem Absatz kehrt und lief ohne Umweg nach Hause. In nächster Zeit, das war klar, würde sie einen großen Bogen um das Naherholungsgebiet machen und es sich auf dem Balkon gemütlich machen.

Jede freie Minute verbrachte sie in den kommenden Tagen dort und freute sich an den üppig blühenden Geranien.

Wer den lieben langen Arbeitstag ständig mit anderen kommuniziert, freut sich auf Stille und Einsamkeit, zumal sie wöchentlich mindestens zwei aktuelle Titel las, die Voraussetzung für qualifizierte Kundenberatung. Und beim Lesen mochte sie keine Ablenkung.

Die Nacht hatte keine Abkühlung gebracht. Schon um sechs Uhr früh kündigte sich gleißende Hitze an.

Für den Abend hatte der Wetterbericht Starkregen mit einhergehender Abkühlung vorhergesagt.

Die Stimmung im Geschäft war angespannt. Jeder Kunde wollte so schnell wie möglich bedient werden.

Wie sehr sich das Verkaufsteam auch bemühte freundlich zu bleiben, abschätzige Kommentare waren nun einmal nicht zu überhören. Viele potentielle Kunden schauten sich nur einen Moment suchend um, verließen dann postwendend das Geschäft. Das Ergebnis in der Kasse fiel am Abend entsprechend gering aus.

Auf der Heimfahrt überlegte Helene, ob es wohl besser sei, die Balkonkästen ausnahmsweise ins Wohnzimmer zu stellen. Doch sie war einfach zu abgespannt für diese aufwendige Aktion. In letzter Zeit fand der Begriff „Unwetter“ inflationär häufig Verwendung in den Wettervorhersagen. Sie vertraute darauf, dass schon nichts passieren werde.

Helene stellte eben den Teller mit den belegten Broten und das Glas Rotwein vor den Fernseher, als das Bild plötzlich bedenklich flackerte. Dunkle Wolken hingen über den Dächern der Häuser an der Lindenstraße.

Sie schloss gerade die Fensterläden, als dicke Tropfen gegen die Scheiben klatschten. Fernseher aus, Leselampe an. Helenes aktuelle Lektüre hieß: „Was die Schule unseren Kindern antut“. Die Diskussion um bessere Bildungschancen für alle Kinder beherrschte im Augenblick den Sachbuchmarkt.

Helene kam plötzlich die eigene Kindheit in den Sinn. Ha, die Lehrer konnten nicht einmal ihre Handschrift unterscheiden. Davon profierten beide, Jutta in Deutsch, Helene in Mathe. Sie brachte den Text über Leben und Werk des Literaturnobelpreisträgers Heinrich Böll so schnell und fließend zu Papier, dass sie in der angegebenen Zeit mühelos zwei Exemplare abliefern konnte und eines davon der Schwester „unterschob“. Die rackerte sich in der Zwischenzeit mit ziemlichem Kauderwelsch ab, was am Ende reif für den Tornister war. Bloß nicht in den Papierkorb in der Klasse werfen, denn dort entdeckte es am Ende noch der Lehrer. Die Vorgabe galt umgekehrt für Kurvendiskussionen. Sie sind bis heute ein Orakel für Helene.

Die Fensterläden rappelten unentwegt. Hoffentlich hielten die Dachpfannen, wünschte sie sich. Wind pfiff durch jede Ritze der Fassade.

Schon um kurz vor acht war es stockdunkel. Als es an der Haustür klingelte, erhob sie sich nur langsam und unwillig von der Couch und drückte den Knopf der Gegensprechanlage. „Ja bitte?“, rief sie.

„Holtmann, guten Abend, können Sie mir bitte öffnen. Ich habe das Wetter völlig unterschätzt und nun sehen Mia und ich buchstäblich wie zwei begossene Pudel aus“, kam die Antwort.

„Ich kenne weder einen Herrn Holtmann noch eine Mia“, entgegnete Helene. Was zugegebenermaßen nicht ganz richtig war, denn sie erkannte die Stimme des Mannes.

„Sehen Sie, dann haben Sie jetzt die Gelegenheit dazu“, lautete die selbstbewusste Retourkutsche. „Sowieso ist die Haustür bereits abgeschlossen.“ „Dann müssen Sie wohl herunterkommen.“ Sein Ton wurde langsam ungeduldig.

Helene schaltete das Licht im Treppenhaus ein und lief seufzend die Treppe hinunter. Obwohl die beiden Gestalten unter dem Vordach etwas im Trocknen standen, hatte der Besucher nicht übertrieben.

Noch immer lief das Wasser nur so an ihnen herunter. „Du lieber Himmel, Sie sehen ja aus, als stünden Sie unter der Dusche“, lachte Helene. Im Flur bildete sich um die ungebetenen Gäste sofort eine riesige Pfütze.

„Wir werden uns erkälten und ich befürchte, tagelang das Bett hüten zu müssen“, jammerte Holtmann. „Was kann ich dafür?“, wollte Helene wissen.

„Dagegen“, berichtigte er. „Ich wäre Ihnen wirklich sehr verbunden, wenn ich Ihre Dusche benutzen könnte und Sie in der Zwischenzeit Mia trockenrubbeln könnten.“

Helene setzte soeben zu einer Erwiderung an, als, wie nicht anders zu erwarten, Frau Schulte ihre Wohnungstür öffnete.

Was sich hier abspielte, war unterhaltsamer als jeder Film und im Fernsehen werden ohnehin nur noch Wiederholungen gesendet.

Die Augen der alten Dame funkelten vergnügt. Sie wollte keinen Moment verpassen.

Da kümmerte es sie wenig, im Nachthemd und ausgelatschten Plüschschluffen dazustehen. „Frau Schulte, es ist nicht…“

Oh nein, Helene wäre am liebsten im Boden versunken. „Duschen können Sie auch hier unten und die Sportsachen meines Enkels, die ich heute gewaschen habe, sind schon trocken. Sie müssten Ihnen passen“, bot Frau Schulte an.

Herr Holtmann schenkte der alten Dame ein warmherziges jungenhaftes Lächeln, dankte artig und stand einen Moment lang unentschlossen da.

„Na, dann ist ja alles geregelt. Schönen Abend allerseits.“ Erleichtert wandte sich Helene zum Gehen.

„Benutzten Sie etwa eine Rheumasalbe?“ Holtmann litt augenblicklich unter erheblicher Atemnot. „Junger Mann, denken Sie bloß nicht, das Alter sei lustich“, belehrte Frau Schulte ihn. „Tut mir leid, Allergie“, stammelte Holtmann, fasste sich an die Brust und schleppte sich schwerfällig die Stufen hinauf.

„Haben Sie gehört: Junger Mann hat Sie gesagt“, tirilierte er nun. „Simulant!“, schimpfte Helene. „So können Sie das nicht sagen“, kam die Antwort. „Ich fühlte mich plötzlich um Jahrzehnte gealtert“, argumentierte er.

Ungefähr eine Stunde später, als er es sich auf der Couch gemütlich gemacht hatte, wirkte er in seinem TuS-Trikot eher wie ein Schuljunge. „Deine Butterbrote schmecken ausgezeichnet“, glaubte Helene zu verstehen.

Ihrem Gast gelang es, zwei Brotscheiben gleichzeitig in den Mund zu schieben. Vom Sessel aus betrachtete sie ihn genauer.

Seine schlanke sportliche Statur war ihr schon an der Haustür aufgefallen. Allerdings war seit dem letzten Frisörbesuch wohl schon eine ganze Weile vergangen. Widerspenstige blonde Strähnen standen in alle Himmelsrichtungen. Der stoppelige Drei-Tage-Bart wies indes graue Stellen auf.

„Ich bin übrigens Matthias“, stellte er sich vor. – „Helene“, entgegnete sie tonlos.

Seit sich dieses Hundeungetüm auf ihren Füßen gemütlich gemacht hatte, fühlten sich ihre Beine nass und schwer an. Obwohl sie das alte Handtuch, mit dem sie den Hund unbeholfen trocken rubbelte – man weiß ja nie, ob so ein Tier unvermittelt zuschnappt – bereits in die Waschmaschine gesteckt hatte, roch die Wohnung nach nasser Gartenerde.

„Ich weiß, wie du Mias Herz im Sturm eroberst“, sagte Matthias. „Gibt es bei dir Fleischwurst?“ Wortlos zeigte Helene auf den Kühlschrank. Fast gleichzeitig erhoben sich Herrchen und Hund.

„Hast du niemanden, der euch abholen könnte?“, fragte Helene vorsichtig und merkte sofort, dass die Stimmung kippte. „Nein“, entgegnete er, verabschiedete sich knapp und verschwand. Dem Hund blieb nicht einmal genug Zeit, die Wurst zu verschlingen.

Konnte es sein, dass das Leben plötzlich irgendwie leichter, schöner war?

Kindischer Unfug! Der Sonnenschein hatte eben positive Auswirkungen auf die Laune der Menschen, die Stadt schien sauberer, die Häuserfassaden strahlten freundlicher.

In ihrer Trauer gestand sie sich keine unbeschwerten Gedanken zu, basta! Als erstes bekamen die Balkonkästen die verdiente Runderneuerung.

„Ich habe den Zettel für dich auf die Treppe gelegt“, begrüßte Frau Schulte eines Abends ihre Vermieterin schmunzelnd.

„Er hat die Sportsachen heute vorbeigebracht. Sauber, wenn auch nicht ganz ordentlich gefaltet. Wir haben en Tass Kaff getrunken und uns dabei herrlich unterhalten. „Der wohnte früher am Uhlenhorst, ist noch gar nicht lange hier“, erzählte die alte Frau.

„Die Sachen lagen in so ´nem Stoffbeutel von einer Zoohandlung. Matthias hat gesagt, ich soll den Zettel in dem Beutel auf die Treppe legen. Aber dat is ja Quatsch. Die Tasche kann ich beim nächsten Einkauf gut gebrauchen. Oder hast du wat dagegen?“ Helene verneinte.

War die Tasche ein Wink mit dem Zaunpfahl? Vielleicht zu weit hergeholt. Helene stutzte, als sie das doppelseitig handbeschriebene Papier aus der Tasche zog.

Ohne Anrede kam er auf den Punkt: „Weder der AC Mailand, ManU noch die Borussia brauchen in dieser Saison einen erstklassigen Stürmer. Mein Agent hat strenge Anweisung, keinen Kontakt mit Bayern München aufzunehmen.

So schraubte ich meine Ansprüche herunter und fragte schließlich sogar bei TuSpo Huckingen nach, ob er an einer Zusammenarbeit mit mir interessiert sei. Weißt Du, welche Gegenfrage mir stattdessen gestellt wurde? Ob ich über eine Trainerlizenz verfüge? Unter diesen Umständen kann der rechtmäßige Besitzer die Sportbekleidung gern wieder haben.

Gruß Matthias P.S. Sehen wir uns bald?

„Der jeht janz schön ran“, meinte Frau Schulte, „das hat das Team in der Physiotherapiepraxis vorhin auch gesagt.“ – „Waaas?“, fragte Helene mit weit aufgerissenen Augen.

„Das Gekritzel kann doch niemand entziffern. Und die Leute in der Praxis sind doch so nett. Es hätte ja schließlich etwas Wichtiges sein können“, verteidigte sich die alte Frau. „Ich habe den Zettel mitgenommen, als ich eben zur Therapie musste und gemeinsam konnten die Leute dort den Text lesen“, erzählte Frau Schulte.

Helene packte das Papier und hastete so eilig hinauf, dass sie fast ins Stolpern geriet. „Immerhin hat sie den Brief nicht zerrissen“, murmelte die alte Frau und schlurfte in ihre Wohnung.

Eine unmögliche Person, wie konnte er sie so in Verlegenheit bringen? Beinah mechanisch legte Helene den Brief auf den Wohnzimmertisch.

Duschen, Schuhe putzen, Fernsehen. Sie fühlte sich leicht und fast ein bisschen glücklich. Ob es dem Hund gut ging? Bestimmt! Während der Schulferien besuchten sicher viele Familien das Tierheim. Und der Hund war ja eigentlich ganz nett.

Helene fühlte sich ein wenig verantwortlich für den Hund und lenkte ihren Wagen bei nächster Gelegenheit zum Tierheim.

„Während der Ferien ist es genau umgekehrt“, informierte die grüne Latzhose. „Etliche Leute denken bei der Urlaubsplanung nicht an ihr Haustier. Und abgesehen davon, dass Tierpensionen auch nur über begrenzte Kapazitäten verfügen, ist die Unterbringung dort selbstverständlich nicht kostenlos.“

So sehr sich haupt- und ehrenamtliche Tierheimmitarbeiter auch engagierten, der Hund, den Helene nun zum zweiten Mal besuchte, lehnte jeglichen Kontakt ab. „Wenn er ausgeführt wird, zieht er schon nach wenigen Metern Richtung Box zurück“, sagte die Latzhose.

„Und ob ich Sie zu dem armen Hund bringen soll, weiß ich wirklich nicht. Die letzte Begegnung mit Ihnen munterte ihn ehrlich nicht auf.“

„Ich weiß“, gestand Helene. Ihr Gang entlang der Boxen war von lautem Bellen, munterem oder auch ergebenem Winseln und unüberhörbarem Jaulen begleitet.

„Jeder will sich so gut wie möglich präsentieren“, erklärte die grüne Latzhose.

Der Fundhund hatte noch immer keinen Namen. Er zeigte der Welt wieder die kalte Schulter, oder besser, er drehte ihr den Hintern zu.

Weil Helene ihn mit „Na du, wie geht´s denn so?“, begrüßte, rollte Latzhose entsetzt mit den Augen und fasste sich an die Stirn.

Als habe er nur auf dieses Signal gewartet, drehte sich das Tier blitzschnell, blieb jedoch abwartend in der ihn schützenden Ecke. „Das gibt es doch nicht“, wunderte sich die Tierpflegerin.

„Na, komm“, flüsterte Helene freundlich. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie gar kein Leckerchen dabei hatte. „Kreischen Sie nicht wieder rum, wenn er auf Sie zustürzt“, riet die Expertin leise.

Fast schleichend näherte sich das Tier und legte winselnd seinen Kopf unter die Hand der Besucherin. Erst den Kopf, dann den ganzen Körper. Helene ging in die Hocke und schlang lachend beide Arme um den Hund, strahlte und flüsterte ihm Liebkosungen ins Ohr.

„Was ist denn mit Ihnen passiert? Haben Sie was genommen, oder waren Sie in der Hundeschule?“ „Wie heißt er?“ fragte Helene.

Im Trubel der vergangenen Tage hatte niemand daran gedacht, diesem traurigen Vierbeiner einen Namen zu geben, erfuhr sie.

„Was hältst du von Bommel?“ schlug Helene vor und informierte unvermittelt: „Ich nehme ihn mit.“

Na so etwas hatte Uta noch nie erlebt. Das ging ja gar nicht. Der Hund würde der alten Schrulle die Bude auf halb acht drehen, nachdem er die Autopolster zerrupft hatte.

Das vorhersehbare Ende vom Lied wäre im besten Fall ein erboster Anruf, bloß jetzt und auf der Stelle das Tier abzuholen. Genauso wäre die blöde Schabracke aber auch im Stande, den Hund einfach irgendwo auszusetzen.

Ihr Bemühen um einen freundlichen Ton führte unbeabsichtigt dazu, dass sie hochnäsig und belehrend rüberkam. „So geht das nicht. Sie müssen sich erstmal kennen lernen.“

Helene, die noch immer quasi mit vollem Körpereinsatz den Hund streichelte, verstand die Welt nicht mehr. „Aber das tun wir doch“, protestierte sie.

„Sie müssen mir glauben, wir wollen wirklich nur das Beste für den Hund und das heißt eben, dass wir ihm Enttäuschungen ersparen möchten. Was halten Sie davon, wenn Sie gemeinsam einen Spaziergang machen?“, schlug die Tierheimmitarbeiterin vor.

Vielleicht keine schlechte Idee, überlegte Helene. „Ich habe mir in den vergangenen Tagen viele Gedanken über Bommel gemacht“, räumte sie kleinlaut ein.

Minuten später schlenderte sie mit Bommel am Ruhr-Ufer entlang und hoffte insgeheim, sie müsse niemals diese Tüten benutzen, die ihr von Latzhose in die Hand gedrückt worden waren. Helene legte zwar Wert auf ihre Lernfähigkeit, doch müsste die nicht unbedingt überstrapaziert werden.

Nach anfänglich vorsichtigem Schnuppern am Wegrand hüpfte Bommel schon bald wie ein Schaukelpferd abwechselnd auf Vorder- und Hinterbeine. Fröhlich und ausgelassen legte er dann ein ordentliches Tempo vor.

Helene hielt entschlossen die Leine fest, ihr blieb also nichts anderes übrig, als mitzulaufen. In diesen Schuhen ein schwieriges Unterfangen. Der enge Rock tat ein Übriges.

Doch die gute Laune des Hundes übertrug sich auf sie und schon bald kümmerte sich das ungleiche Paar nicht mehr um die eigene Außendarstellung.

Andere Hunde ließ Bommel gewähren, zumindest jene, die Helene nicht zu nahe kamen. Rollende Fahrradreifen fand er wiederum so lustig, dass er am liebsten hineingebissen hätte. Schnell begriff er jedoch, dass nicht nur Helene davon gar nichts hielt.

Und ihr wollte er schließlich unbedingt gefallen. Sobald sie mit ihm sprach, schaute er sie mit großen Augen an, so als wolle er sagen: „Sag an, was soll ich tun?“

Als er merkte, dass es zurückging, setzte er sich mitten auf den Gehweg und starrte ins Leere. „Komm, du musst zurück, die warten doch schon auf dich“, erklärte Helene.

Offenbar hatte sich der Hund entschieden, Denkmal zu spielen. Helene versuchte es anstelle von Einsicht mit Ablenkung.

Bommel gab sich kompromissbereit. Vorwärts lief er zwar nicht mit, nach links und rechts aber schon. Und so standen sie schließlich doch vor dem Tor des Tierheims. Mit gesenktem Kopf ließ er sich in seine Box führen.

Helene wollte eigentlich noch: „Ich komme morgen wieder“, rufen. Doch der Hund tat ihr einfach viel zu leid.

Gut, dass mir niemand begegnete, den ich kannte, dachte sie.

Am Auto ordnete sie mit wenigen geübten Handgriffen ihre Frisur. Zog die Klämmerchen aus den Haarsträhnen und steckte sie an anderer Stelle so zusammen, dass sie wieder wie eine Deutschlehrerin aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts wirkte. Eine breite Laufmasche schlängelte sich am linken Bein hinunter.

So wäre sie unter keinen Umständen mit der Straßenbahn gefahren, allenfalls mit dem Taxi.

Erst zuhause merkte sie, dass ihr Arm und die Schulter schmerzten. Wohl von den ruckartigen Bewegungen des Hundes.

„Frau Schneider, so geht das nicht. Hier ist Schnöring.“ Der Mann, der auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte, klang sehr verärgert. „Wir haben Sie nun schon dreimal angeschrieben. Ich verlange, dass Sie eine Entscheidung treffen. Setzen Sie sich bitte unverzüglich mit uns in Verbindung. Die Nummer kennen Sie ja.“ Ende der Nachricht.

Helene hatte nicht die leiseste Ahnung, was diese Nachricht bedeutete. Sie beschloss, die Angelegenheit an ihrem freien Tag zu klären.

In der folgenden Zeit besuchte sie Bommel täglich. Zur eigenen Verwunderung freute sie sich bereits beim Frühstück darauf.

Der Bearded Colly saß mittlerweile nicht mehr so traurig in seiner Box. Stück für Stück schien er wieder Vertrauen zu Menschen zu fassen. Und Helene hatte Anteil an dieser positiven Entwicklung. „Du bist plötzlich so anders als sonst“, meinte Annette einmal.

Die Idee, der Kollegin von Bommel und vielleicht Matthias zu erzählen, verwarf sie schnell. Bekanntlich gehörte Zuhören nicht zu Annettes hauptsächlichen Charaktereigenschaften. Sie würde sich allenfalls über die ältere Kollegin lustig machen.

Petra beschäftigte sich gerade mit Themen wie Zeugnissen, Schulwechsel, Urlaubsvorbereitungen. Man könnte sagen, genügend Aufgabenfelder.

Würde Helene Petra nun von Bommel berichten, schlüge die nur die Hände über dem Kopf zusammen.

Helene war es gewohnt, die Dinge mit sich allein auszutragen. Ein Hund jedenfalls passte nicht in ihr Leben. Da musste sie sich keine Illusionen machen.

Es wäre gut, wenn Bommel eine nette Familie fände und sie ihren Egoismus zurückstellte. Helene war so sehr in Gedanken, dass sie Matthias zunächst gar nicht erkannte. Die Begegnung hier, ausgerechnet im Tierheim, war ihr unangenehm.

Zwar bildete sie gemeinsam mit Bommel nicht mehr das wilde, alberne Gespann. Es verging jedoch nicht ein Nachmittag, an dem sich nicht mindestens ein Passant über den ungestümen Hund beschwerte, obwohl der ja nichts für sein schlechtes Benehmen konnte. Mia hingegen verfügte, jedenfalls soweit Helene das beurteilen konnte, über keinerlei negative Eigenschaften.

Dass Matthias gerade mit Latzhose sprach, erschwerte die Situation zusätzlich. „Du schaust dich nach einem weiteren Hund um?“, fragte sie nach knapper Begrüßung. „Irgendwie schon“, antwortete „Latzhose“ etwas zögerlich. Matthias schwieg.

„Man sieht doch, dass Bommel und sie Spaß miteinander haben“, führte sie weiter aus. „Doch sie haben eben keine Erfahrung mit Hunden. Von weitem hören wir, wie sich der Hund gegenüber Artgenossen oder Passanten mit lautem Gebell zu behaupten versucht“. In Helene keimte ein Gefühl von Wut auf.

„Herr Holtmann ist Hundetrainer und half schon häufig bei erfolgreichen Vermittlungen. Er könnte Ihnen ein paar Tipps bei der Erziehung geben. Bommel ist ja noch jung. Er lernt sicher schnell.“ So war das also, Matthias spielte den Aufpasser.

„Nicht weit von hier ist ein Straßencafé. Bei diesem herrlichen Wetter ist es sicher noch geöffnet“, meinte Matthias. Helene lachte. „Bist du gegen Hundevandalismus versichert?“, erkundigte sie sich.

So sehr sie auch die Vorstellung von einer herrlichen Tasse Tee reizte, aber Bommel zwischen vielen sonnenhungrigen Menschen und Tischen voller Eisbecher, Kuchen und Kaffeegedecke? Nein, das hatte sie bis jetzt aus gutem Grund noch nicht getestet.

„Du meinst, ob ich eine Hundehaftpflichtversicherung für Mia abgeschlossen habe? Schon, aber zum Glück musste ich sie noch nie in Anspruch nehmen“, antwortete er.

Helene überließ Matthias die Leine. War wohl ratsam unter diesen Umständen. Hunde reagieren eben nicht alle gleich. Mal sehen, ob sich Bommel neben Matthias anders benahm als mit ihr.

„Wir tauschen einfach“, schlug er vor und ging hinter dem Tierheim zielstrebig auf ein wirklich hässliches Fahrzeug zu. Große alte Bäume spendeten dem Wagen Schatten.

Erst jetzt sah Helene, dass die doppeltürige Heckklappe geöffnet war. „Betreibst du einen Lieferservice?“, erkundigte sie sich skeptisch.

„Nicht, wenn du ofenfrische Pizza, leckere Pasta oder köstliches Sushi meinst“, entgegnete Matthias gut gelaunt.

Mit einem Satz sprang Mia aus dem Auto heraus, begrüßte zunächst Matthias, dann Bommel, zuletzt Helene.

„Hier ist der Einstieg für Mia nicht ganz so hoch, wie er bei einem Geländewagen wäre. Trotzdem kann sie es sich bequem machen. Darauf kam es mir an. Außerdem ist der Spritverbrauch geringer“, erklärte Matthias.

Zumal ein Offroader in der Stadt irgendwie deplatziert wirkt, fand Helene.

Mia, das Ergebnis einer stürmischen Begegnung zwischen einer reinrassigen Königspudeldame und einem ein wenig eingebildeten ebenfalls reinrassigen Afghanen, und Bommel waren etwa gleich groß.

Matthias hielt Bommels Leine jetzt locker in der rechten Hand. „Fuß, ja fein machst du das“, lobte er. Der Hund schaute ihn mit großen Augen an. Man spürte deutlich Bommels Bemühen um Anerkennung. „Ja schau, das machst du schon richtig gut“, sagte Matthias.

Er wählte nicht den direkten Weg zum Café, sondern nahm den Umweg über eine große Wiese. Dann ließ er seine Hündin an einem Tennisball, den er aus seiner Tasche zog, schnüffeln.

Unter fast allen Bäumen hatten es sich Menschen bequem gemacht. Da wurde gelesen, Karten gespielt, ein Picknickkorb ausgepackt oder einfach nur ein Nickerchen gehalten.

„Mia, sitz und bleib“, sagte Matthias. Instinktiv blieb auch Helene stehen und mit ihr Bommel. Kurze Zeit später verschwand Matthias für Sekundenbruchteile hinter der einzigen „leeren“ Baumgruppe.

Mia konnte es kaum erwarten, bis er neben ihr stehend, das Kommando „Such“ gab. Freudig lief der Hund los, die Nase immer dicht am Boden. Mal folgte er Matthias Spur direkt, dann im Zick Zack.

Helene war sich plötzlich nicht ganz sicher, ob Matthias den Ball da oder dort versteckt hatte. Der Hund schien die Spur verloren zu haben.

Ausdauer und Beharrlichkeit führten ihn schließlich doch ans Ziel, so dass Mia ihrem Herrchen am Ende stolz den Ball präsentierte.

Nun hatte Bommel, der sich bis jetzt von Helene liebevoll streicheln ließ, lange genug gewartet. Er bellte auffordernd, als wollte er sagen: „Jetzt bin ich an der Reihe.“ Dass er allerdings die Ausflügler in Ruhe ließ, bezweifelte Helene. Aber Bommel, der in Mia eine gute Lehrerin fand, erwies sich als sehr lernfähig. Die Vier setzten das Suchspiel noch eine ganze Weile fort, denn die Hunde ignorierten die übrigen Passanten.

Das Straßencafé hatte längst geschlossen, als Helene und Matthias dort ankamen.

„Treffen wir uns gleich noch irgendwo?“, fragte Matthias, als sie wieder vor dem Tierheim standen.

„Besser nicht“, antwortete Helene, „ich muss mich auf den morgigen Tag vorbereiten. Es gibt etwas zu erledigen, das ich schon viel zu lange vor mir herschiebe.“

„Heißt das, du kommst morgen auch nicht hierher?“, wollte Matthias wissen. „Ich meine nur wegen Bommel“, fügte er eilig hinzu.

„Am Abend komme ich natürlich hierher. Bis dahin weiß ich Näheres. Es sei denn, das Tierheim hat bis dahin ein nettes Zuhause für ihn gefunden.“

Matthias sah sie verständnislos an. „Ich dachte, du willst ihn aufnehmen.“

Den folgenden, stockend vorgetragenen Monolog richtete Helene mehr an sich selbst als an ihr Gegenüber.

Soviel war doch klar, man konnte die Angelegenheit drehen und wenden, wie man wollte, Bommel hatte keinen Platz in Helenes Leben. Er konnte unmöglich den ganzen Tag allein zuhause bleiben und die Mittagspause war einfach zu kurz, um nach Hause zu fahren, mit dem Hund einen kleinen Spaziergang zu unternehmen und dann wieder ins Geschäft zu fahren.

„Du machst dir immerhin schon Gedanken darum“, stellte Matthias fest.

Als Helene am nächsten Morgen geduscht hatte, erkundigte sie sich bei Frau Schulte, ob sie ihr etwas vom Bäcker mitbringen könne.

Sie ließ sich Zeit für ein ausgedehntes Frühstück auf dem Balkon. Dann stieg sie die Treppe zu Juttas Wohnung hinauf.

Tödlicher Spätsommer

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