Читать книгу Tödlicher Spätsommer - Ursula Dettlaff - Страница 6
Veränderungen
ОглавлениеSie blickte auf den wolkenlosen Himmel und der strahlend helle Sommertag tat ihr gut.
Vom Kantpark waren fröhliche Kinderstimmen zu hören. Einen Moment lang wollte sie sich hier auf eine Bank vor der alten Lokomotive setzen und den Kindern einfach nur zusehen, wie sie darauf herumkletterten. Ein bunter Mix Sonnenhungriger bewegte sich an ihr vorbei. Radfahrer, die lieber ein paar Meter durch den Park, statt entlang der dicht befahrenen Straße fuhren.
Eine junge Frau mit einem schätzungsweise zweijährigen Kleinkind im Kinderwagen lief stadtauswärts. Wahrscheinlich befand sie sich mit ihrem Einkauf schon auf dem Heimweg. Ein Salatkopf und Pfirsiche im Einkaufsnetz deuteten jedenfalls darauf hin. Das Kind schleckte versonnen an einer Kugel Vanilleeis.
Einen kurzen Moment lang sog Helene diese Unbeschwertheit in sich auf.
„Pass auf, dass du nicht runterfällst“, rief eine Frau einem angehenden Lokführer zu. Der befand sich auf der zweiten Stufe vor dem Fahrerstand.
Helene konnte sich ruhig noch ein wenig Zeit lassen, denn Petra nahm es mit der Pünktlichkeit nie so genau.
„Grüß dich. Du, ich bin schon völlig geschafft“, seufzte sie dann auch prompt als sie sich an der Straßenbahnhaltestelle begrüßten.
„Der Kindergarten fährt heute in den Dortmunder Zoo“, fügte sie hinzu. Als gäbe es hier keinen, aber egal. Die Erzieherinnen brauchten natürlich die Unterstützung einiger Mütter. „Nur weil ich bei Annas älteren Geschwistern auch immer mitgefahren bin, heißt das noch lange nicht, dass ich es jetzt wieder so mache“, erzählte Petra.
Immerhin habe sie gerade Anna und ihre beiden engsten Freundinnen zum Bahnhof gebracht. „Die Erzieherinnen sind der Ansicht, die Kinder sollten unbedingt mal mit dem Zug fahren“, erklärte sie weiter.
„Kommende Woche betreue ich in der Grundschule das Radfahrprojekt. Da gibt`s noch jede Menge vorzubereiten und auszuprobieren“, verteidigte sie sich.
Helene bewunderte ihre Freundin für die Energie mit der sie sich für die Familie einsetzte. Kaum anzunehmen, dass die lange Einkaufsliste, die Petra gerade aus ihrer Tasche zog, besonders viele Dinge für sie selbst enthielt.
„Gehen wir zuerst ins Stoffgeschäft“, sagte Petra, als könne sie Gedanken lesen. Dort angekommen steuerte sie zielstrebig auf einen Stoffballen mit hellen, freundlichen Naturtönen zu. Auf Petras Bitten hin wickelte eine Verkäuferin etwas Stoff ab. Auf diese Weise bekam die Kundin einen besseren Eindruck vom Gesamtmuster. Schließlich rieb sie ein wenig Stoff zwischen beiden Händen. Der Beginn eines umfassenden Prüfverfahrens.
Beim letzten Elternabend sei beschlossen worden, das triste Grau des Klassenzimmers mit bunten Vorhängen abzumildern, erzählte Petra, als sie auf dem Weg zu ihrem Lieblingscafé waren.
Im Umgang mit der Nähmaschine legte die Freundin ein beachtliches Geschick an den Tag. Sie spielte gar mit dem Gedanken, sich mit einer kleinen Änderungsschneiderei selbstständig zu machen. Kein Wunder also, dass die Eltern sie baten, sich um die neuen Vorhänge zu kümmern.
Der Kauf war schnell erledigt. Petra hatte den Stoff ausgesprochen großzügig berechnet. Jedenfalls kam es Helene so vor, gemessen am Gewicht der Tasche an ihrem Arm. Petra plagten die üblichen Schulterschmerzen, deshalb gab sie Helene die Tasche.
Im Café waren um diese Zeit nur wenige Gäste. Geht man fünfzehn Jahre lang in ein und dasselbe Café, überlegt man nicht mehr, welcher Platz es diesmal sein soll, weil man längst die Position gefunden hat, von der aus es sich gemütlich plaudern lässt, ohne dass man so laut werden muss, dass das Gespräch vom Nebentisch aus mitgehört werden kann.
Die Einrichtung blieb über die Jahrzehnte unverändert. So mussten sich die Freundinnen nie an Neuerungen gewöhnen.
Helene nahm auf der Couch mit dem altrosa Samtbezug Platz. Von hier aus konnte sie einen Blick auf die umfangreiche Kaffeemühlensammlung an den Wänden werfen. Es folgte Petras obligatorischer Blick in die Speisekarte und Helenes erneuter Versuch, die Anzahl der Mühlen wenigstens einer Wand zu zählen.
Obschon sich alle ähnelten, schien nicht ein Exemplar doppelt. Die länglichen mit Porzellankörper waren zur Wandmontage vorgesehen.
Gern gekauft wurde offenbar das Modell „Delfter Kachelmuster“, oder „Gediegene Rosen.“ Helene stellte sich vor, wie viel Zeit die Hausfrau Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Drehen der Kurbel verbrachte. Das ging bestimmt ziemlich in die Arme.
Diese Methode, Kaffee zu mahlen schien ihr jedoch immer noch praktischer, als die Benutzung der Standmaschine.
Dabei hatte es bei ihrer Großmutter so simpel ausgesehen. Mit einem Kaffeelot maß sie die erforderliche Menge Bohnen ab, die sie auf das Mahlwerk gab. Blitzschnell ließ die alte Frau anschließend die Kurbel kreisen. Die gerösteten Bohnen machten ihr die Arbeit schwer.
Gleichzeitig entfaltete sich ein herrlicher Duft. Durch Klopfen gegen die Seitenwand der Mühle fielen die letzten Kaffeemehlkrümel in die Schublade des Küchengerätes.
Im Kessel auf dem Gasherd wurde das Wasser erhitzt. Sobald ein wenig Dampf entwich, war das Wasser warm genug, um etwas davon zu entnehmen, um die Kanne auszuspülen. Dann wurde der mit einer sorgfältig gefalteten Papiertüte ausgekleidete Porzellanfilter aufgesetzt und der Inhalt aus der Schublade hineingegeben.
Das Signal des Flötenkessels meldete, dass das Wasser jetzt die richtige Temperatur hatte. Langsam goss die Großmutter das heiße Wasser in den Filter. Etwa zwei Zentimeter unterhalb des Randes setzte sich das feuchte Kaffeemehl ab. Der fertige Kaffee sickerte langsam in die Kanne. Erst als der Filter kein Wasser mehr enthielt, füllte die Großmutter ihn ein weiteres Mal nach. Diesmal aber nur bis zur Hälfte.
Solange die Kaffeekanne nicht voll war, verließ die Großmutter die Küche nicht, sondern sie schenkte der Zeremonie ihre ganze Aufmerksamkeit. Kaffee musste frisch zubereitet und heiß auf den Tisch. Undenkbar, ihn lauwarm in die Tassen der Familienmitglieder oder Gäste zu gießen.
„Helene, wo bist du bloß mit deinen Gedanken“, hörte sie plötzlich Petras Stimme.
„Ich habe schon bestellt. Zwei halbe Brötchen und ein Kännchen Ceylontee, ist doch richtig, oder?“
Petras Handy lag neben ihrem Frühstücksteller. „Man weiß ja nie. Vielleicht ruft jemand aus der Schule an“, meinte sie. „In letzter Zeit häufen sich Beschwerden über Sebastian.“
Es gebe keine Schlägerei, an der der Junge nicht beteiligt sei. „Schule bedeutet bestimmt Stress. Zu mir ist er immer freundlich“, warb Helene um Verständnis. „Außerdem muss er sich doch wehren.“
Typisch Helene, ärgerte sich Petra. Die hatte schließlich keine Kinder, ging Tag für Tag bloß ins Geschäft. Was sollte da schließlich Aufregendes passieren?
Als Mutter hingegen hatte Petra täglich mit neuen Herausforderungen zu tun. Und richtig machen kannst du´s sowieso nie. „Wenn Julia heute zum Beispiel ihre Deutscharbeit zurückbekommt, dann heißt es von den Anderen entweder: Du könntest ruhig einmal über einen Ausrutscher hinwegsehen, oder: Mich lobst du nie für ein ,gut‘. Und überhaupt hat das Mädchen nur noch diesen Freund im Kopf.“
„Ich wollte dir eigentlich erzählen, dass ich mich gerade saublöd benommen habe“, begann Helene und erzählte der Freundin von der Begegnung mit Kommissar Schumann.
„Das meiste hättest du sowie nicht lesen können“, versuchte Petra sie zu trösten. „Oder kannst du vielleicht Dänisch? Du solltest dich endlich wieder auf andere Dinge konzentrieren“, setzte sie hinzu.
Helene mochte Petras Art, die Dinge praktisch zu sehen und sie beneidete im Stillen die Freundin manchmal darum, weniger gefühlsbetont zu agieren.
In einem nicht enden wollenden Redeschwall berichtete Petra spontan, was sie gern wieder einmal machen würde. Essen gehen, einen Tanzkurs besuchen, endlich wieder im Kirchenchor mitsingen, oder verschiedene Kreativangebote in der Volkshochschule anbieten. Aber solange die Kinder sie als Hausaufgabenbetreuerin oder wenigstens gelegentliche Ansprechpartnerin brauchten, war an derlei Luxus nicht zu denken. Helene hingegen standen diese Möglichkeiten offen. Wieso also sollte sie Dingen nachhängen, die nicht zu ändern seien.
Es war kein guter Tag für ein gemeinsames Frühstück. Was sollte Helene im Kirchenchor? Stand der nicht ohnehin kurz vor der Auflösung?
„Im Augenblick sind Gospelchöre angesagt“, kommentierte Helene ein wenig besserwisserisch.
„Und du willst mir nicht ernsthaft raten, mich zu einem Tanzkurs anzumelden.“
Eben, als Helene Petras Tipps als völlig daneben ablehnen wollte, klingelte Petras Handy. Ein glücklicher Zufall, der den aufkommenden Streit verhinderte.
„Das kann ja wohl nicht wahr sein“, brauste sie auf. „Nun informiert Julia mich mit einer kurzen SMS darüber, dass sie heute Mittag nicht zuhause sein wird, sondern sich mit diesem Freund trifft. Na, die kann was erleben, soviel ist sicher. Ich fahre schnell zur Schule und passe sie dort ab.“
Während die Freundin davon eilte, beglich Helene die Rechnung, und kaufte vorne an der Verkaufstheke noch Teilchen für den Nachmittag. Das schöne Wetter trug nicht dazu bei, ihre Stimmung aufzuhellen.
Fast auf den Tag genau vor einem Jahr, zur selben Uhrzeit, traf Jutta in der dänischen Ferienhaussiedlung ein. Sie fühlte sich herrlich leicht und beschwingt.
Ein völlig neuer Lebensabschnitt lag vor ihr. Ohne Last, ohne Verantwortung für Andere, ohne ständige Kontrolle und vor allem ohne die dauernde Heimlichtuerei.
Hier und jetzt wollte sie allein sein, die Seele baumeln lassen, ganz in Ruhe die nächsten Schritte überlegen. Schließlich wollte sie keinen Streit. Große Aussicht auf Verständnis bestand nicht, das war klar.
Sie parkte den Wagen vor dem großen Backsteingebäude. Bevor sie hineinging, schritt sie erst einmal um das Haus herum und betrachtete es neugierig. Mit seiner rot gestrichenen Fassade und den hellblauen Fensterrahmen war es zweifellos das markanteste Haus in der ganzen Siedlung. Stockmalven und Klitrosen umzäunten das Grundstück und boten gleichzeitig effektiven Windschutz.
Das Haus war zweckmäßig und gemütlich eingerichtet. Aquarelle mit Landschaftsmotiven – vorwiegend hohe Wellen mit brausenden Schaumkronen – hingen über dem langen, etwas unbequemen Sofa.
Jutta nahm sich vor, schnell die Koffer auszupacken, das Bett zu beziehen, um dann endlich zum Strand zu gehen.
Die linke Seite der Couch richtete sie sich als gemütliche Leseecke ein, faltete die mitgebrachte Wolldecke zurecht, legte den Bücherstapel auf den Tisch und brachte schon einmal die Leselampe in die richtige Position.
Eine freitragende Wendeltreppe führte in die erste Etage. Hier befanden sich die beiden Schlafräume. Jutta bezog das Zimmer mit Meerblick. Herrlich, diese unendliche Weite. – Helene fühlte sich wie versteinert in ihrer Trauer.
In einer solchen Situation fällt es schwer, die Dinge in der unmittelbaren Umgebung wahrzunehmen.
„Ist das Ihrer?“ fragte die Verkäuferin unfreundlich und wies auf ein beinah ponygroßes Zottelwesen draußen vor dem Schaufenster.
Trotz ihrer häufigen Besuche bei Dobbelstein kannte Helene weder diese Verkäuferin, noch jemand anderen aus dem heutigen Team.
„Nein, wie kommen Sie darauf?“, gab Helene zurück während sie ihr Portmonee in die Handtasche legte.
„Also das ist doch eindeutig, so wie der sie anstarrt. Das ist doch wieder typisch. Erst schaffen sich die Leute einen Hund an und dann wird ihnen die Arbeit zu viel. Sieht man ja, in welch bedauernswertem Zustand das arme Tier ist“, fügte sie hinzu.
Stimmt, dachte Helene, das verfilzte, schmutzige Fell ist sicher ein Paradies für Flöhe und andere Parasiten. Helene fröstelte.
„Der Hund saß die ganze Zeit hier und starrte nur Sie an. Nun wollen Sie mir erzählen, dass Sie ihn nicht kennen? Vielleicht ist das arme Geschöpf ja auch krank und Sie wollen die Arztrechnung sparen. Kennt man doch, so was. Stand neulich noch in der Zeitung. Das ist eindeutig ein Fall für den Tierschutz. Ich informiere jetzt das Ordnungsamt“, wetterte sie und hatte auch sogleich ein Telefon in der Hand.
„Sie irren sich“, gab Helene ganz ruhig zurück „und deshalb werde ich jetzt gehen. Auf Wiedersehen.“ Mit großen Schritten eilte sie Richtung Kantpark, wo sie im Randbereich ihren Wagen abgestellt hatte.
„Der ist aber gut erzogen. Läuft ohne Leine und setzt sich, ohne dass Sie ihn beachten, an der Gehwegkante hin“, sagte eine ältere Frau.
Helene brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie angesprochen wurde.
„Haben Sie gar keine Leine dabei? Wirklich toll. In all dem Gewühl interessiert sich der Hund nicht einmal für Radfahrer.“
Helene blickte nach links. „Ist nicht meiner, läuft mir lediglich hinterher“, brummte sie.
Spuren auf ihrem Rock zeigten, wie nah das Tier Helene gefolgt war. Vergeblich versuchte sie, Schmutz und Hundehaare wegzuwischen.
Mittlerweile hatte sie ihr Fahrzeug erreicht.
Ihretwegen konnte der Zottel ruhig hier stehen bleiben, bis sein Besitzer kam.
„Weg da, lass mich einsteigen“, zischte Helene. Das Zottelwesen gab ein kurzes dunkles „Wuff“ von sich und wedelte mit dem Schwanz.
Es war klar, dass die Szene nicht unbemerkt bliebe.
„Gucken Sie doch mal, das arme Tier hat Hunger“, meinte ein alter Mann, drehte seine Gehhilfe um und setzte sich bequem hin, um in aller Ruhe den weiteren Fortlauf der Ereignisse beobachten zu können.
Langsam dämmerte es Helene, dass sie sich ihres unerwünschten Begleiters nur durch einen eigenen Anruf beim Ordnungsamt entledigen konnte.
Als die Beamten wenig später eintrafen, war die Zuschauergruppe auf ein gutes Dutzend angestiegen.
„Nein, so ein niedliches Tierchen. Schauen Sie doch bloß in diese treuen Augen“, schwärmte eine Frau.
Helene fand zwar die Bezeichnung „niedliches Tierchen“ unpassend, dem traurigen Blick der großen Kulleraugen konnte sie sich jedoch ebenfalls nicht entziehen.
Beim Anblick der Polizisten sträubte sich das Fell des Hundes und er begann bedrohlich zu knurren.
„Sehen Sie doch, wie stark er auf Sie fixiert ist.“ Für die Beamten war der Fall klar. „Da kommt ein saftiger Bußgeldbescheid auf Sie zu, soviel ist schon mal sicher“, meinten sie und warfen einen Blick auf Helenes Kennzeichen. „Die Fahrzeugpapiere bitte!“
Helene zog die gewünschten Papiere aus ihrer Handtasche und reichte sie weiter. „Hören Sie, das wird mir hier langsam zu dumm. Ich habe auch noch etwas anderes zu tun, als mir Ihre falschen Behauptungen anzuhören“, wetterte Helene. „Ist denn so´n Tier nicht irgendwie gekennzeichnet?“
Einer der Beamten holte einen Scanner aus dem Dienstfahrzeug und wollte damit das Tier abtasten. Näher als einen Meter kam er allerdings nicht heran. Der Hund knurrte erneut.
„Machen Sie“, forderte der Jüngere Helene auf und drückte ihr das Gerät in die Hand.
Während sie unbeholfen damit herumhantierte, legte der Vierbeiner sanft seinen Kopf in Helenes Hand, sah sie an und ließ die kurze Prozedur klaglos über sich ergehen. Eine Kennzeichnung trug er ebenso wenig wie ein Halsband.
Einige Parkplätze weiter stieg eine junge Frau aus einem Kombi. „Tierschutzverein Duisburg“ stand in großen Lettern auf den Fahrzeugtüren.
„Gut, dass Sie da sind.“ Helene war erleichtert. „Ich kenne diesen Hund nicht. Und nur weil er mir schon eine ganze Weile folgt, meint alle Welt, er gehöre mir“, fügte sie hinzu.
Die Tierschützerin ging in die Hocke und schlang beide Arme um den Hund.
„Na, du bist aber ein Feiner“, sagte sie mit sanfter Stimme. Zottelhund bewegte den Kopf heftig erst nach rechts, dann nach links, bis er sich aus der Umarmung gelöst hatte.
Die vielen Menschen ringsum schienen ihn zu beunruhigen, denn er machte den Versuch, sich unter Helenes Wagen zu verstecken, was angesichts seiner Körperfülle nicht gelang. Lediglich Kopf und Nacken des Tieres verschwanden unter dem Auto. Ein erschreckendes Bild, zeigte es doch, in welcher Not sich der Hund offenbar befand.
„Es ist Urlaubszeit und unsere Hundeboxen sind alle mehr als belegt. Dasselbe gilt für unsere Pflegestellen“, sagte die Tierschützerin, die sich erst jetzt vorstellte. „Heike Brassert“, sagte sie und streckte Helene ihre Hand entgegen.
„Helene Schneider“.
Die Männer vom Ordnungsamt verabschiedeten sich schließlich und auch einige Gaffer wandten sich gelangweilt ab.
„Ja, komm du doch mal her, guck mal, was ich hier Gutes habe“, versuchte Heike Brassert den Vierbeiner aus der Reserve zu locken. Erfolg hatte sie allerdings damit nicht.
„Ein so ängstlicher Hund hat so gut wie keine Aussicht auf Vermittlung. Wer will sich schon um einen Problemfall kümmern müssen“, vermutete sie und schaute Helene hilfesuchend an. „Versuchen Sie es doch einmal, bitte“, schlug Brassert vor und reichte Helene einen stinkenden Minikeks. Sofort kam das Tier unter dem Auto hervor.
Helene hatte sogar einen Moment lang das Gefühl, der vordere Wagenteil sei ins Wanken geraten. Als der Hund sich kurz darauf gehörig schüttelte, wirbelten kleine Staubflusen durch die Luft.
Helene traute sich kaum vorzustellen, wie ihre Hand stinken würde. Unbedacht hielt sie dem Hund den Keks so entgegen, wie sie ihn angenommen hatte: zwischen Daumen und Zeigefinger. Vorsichtig streckte das Tier den Kopf nach vorn, öffnete die Lippen und nahm den Leckerbissen.
„Sie hätten das Leckerchen in die flache Hand legen müssen“, sagte Brassert. Erwartungsvoll saß der Hund vor Helene.
„Nehmen Sie doch bitte einmal seine Lefzen hoch, ich möchte mir sein Gebiss ansehen“, bat die Tierschützerin. „Was Sie von mir verlangen, ist eine Zumutung“, entgegnete Helene, kam jedoch der Bitte nach. Wenn jemandem die Berührung unangenehm war, dann nicht dem Hund.
„Alles tadellos, der ist noch kein Jahr alt“, schätzte Brassert. „Wenn ich mich nicht täusche, handelt es sich um einen reinrassigen Bearded Collie. Aber genau kann das nur der Tierarzt sagen“, schränkte sie ein.
„Na dann viel Spaß noch“, verabschiedete sich Helene, schob den zotteligen Vierbeiner zur Seite, setzte sich hinter das Lenkrad ihres Wagens, schaltete die Zündung ein und steuerte das Auto aus der Parklücke, an einigen Fahrzeugen vorbei auf die Straße .
Beim Blick in den Rückspiegel schien es ihr, als stünde ihr kurzzeitiger Begleiter wie erstarrt.
Zuhause angekommen brühte sie sich einen Tee auf und schrubbte nach kurzer Pause Bad, Flur, Wohnzimmer und Küche.
Plötzlich musste sie an den traurigen Hundeblick denken. Was mochte das Tier erlebt haben?
Im Wohnzimmer neben der Tür wäre Platz für den Hundekorb, kam ihr in den Sinn. Nein, Quatsch, idiotische Vorstellung.
Dicke Regentropfen trommelten von außen gegen die Fensterscheibe. Wie gut, dass sie im Trocknen saß.
Helene hatte bewusst den Donnerstag als ihren freien Tag ausgewählt. Motiviert und mit Schwung bewältigte sie so die beiden stressigsten Arbeitstage der Woche. Freitags hatten es die Kunden oft besonders eilig. Samstags kamen meist Paare, die viel Beratungsbedarf hatten, sich nach dem Gespräch noch miteinander über das jeweilige Buch unterhielten, um am Ende zu der Überzeugung zu gelangen, man könne sich den Band ebenso gut in der Bücherei ausleihen.
Merkwürdig, dass Helene trotz der vielen Arbeit immer wieder an den dicken Zottel denken musste.
Schon allein, um ihr Gewissen zu beruhigen, wollte sie am Sonntagnachmittag im Tierheim vorbeischauen.
Ihre Pause nutzte sie zum Einkauf in einer Zoohandlung. Sie entschied sich für Spielzeug und Knabbereien. Vorsichtshalber behielt sie den Kassenbon. Der Hund hatte sicher neue Besitzer gefunden, redete sie sich ein. Deshalb konnte sie bei schlechtem Wetter auch getrost in der Wohnung bleiben.
Am Sonntag schließlich ertappte sie sich beinahe dabei, die nötigen Aufräumarbeiten eilig zu erledigen.
Im Tierheim wurde sie mit freudigem Gebell begrüßt. Etliche Vierbeiner rieben ihre Nasen an den Gitterstäben, um nur ja von Helene beachtet zu werden. An verschiedenen Stellen des Grundstücks unterhielten sich Mitarbeiter des Tierheims mit Besuchern, die ihrerseits gerade irgendeinen Hund streichelten.
Helene war verwundert und gleichzeitig irgendwie erleichtert, als sie nirgends den dicken Zottel entdeckte.
„Guten Tag, kann ich Ihnen weiterhelfen?“, erkundigte sich eine Frau in Gummistiefeln, grüner Latzhose und Karohemd. „Was, nein danke. Ich wollte nur mal gucken“, stammelte Helene.
„Vielleicht möchten Sie ja einen Spaziergang mit einem unserer Hunde machen “, knüpfte die Tierpflegerin den Gesprächsfaden weiter.
„An was für einen Hund dachten Sie denn? Sollte es ein eher kleiner, oder ein größerer, ein sportlicher oder besser ein ruhiger sein“, hakte sie nach und erkundigte sich auch, ob Helene bereits Erfahrung im Umgang mit Hunden hatte.
Helene hörte gar nicht richtig zu, sondern schaute sich suchend um. Erst jetzt bemerkte sie, dass nicht alle Hunde nach vorn an die Stäbe gekommen waren. Einige lagen apathisch, oder ängstlich dreinblickend abseits.
„Ist Frau Brassert heute nicht da?“, erkundigte sich Helene. „Gerade unterwegs“ lautete die knappe Antwort. Einen Augenblick lang sah die Frau Helene prüfend an.
„Jetzt weiß ich, wer sie sind. Heike hat sie uns beschrieben. Sie haben den Bearded Colly g-e-f-u-n-d-e-n“, sagte sie misstrauisch. „Wo ist er denn?“, fragte Helene.
„Ein Hund ist kein Spielzeug, das man einfach abschieben kann, wenn es einem gerade in den Kram passt. Sie scheinen ein schlechtes Gewissen zu haben. Na, zeigen Sie mal her, was Sie da mitgebracht haben.“ Ihr Ton klang eine Spur versöhnlicher. Von oben herab.
Helene zog den Beutel mit den Hundesnacks aus der Tasche. „Einige Stückchen drücke ich hier in die Löcher dieses Zahnpflegeknochens“, fügte Helene hinzu.
Einen Moment lang starrte die Tierheimmitarbeiterin überrascht auf den blauen Stab.
Dann lachte sie so laut, dass sie die Blicke selbst der entferntesten Besucher auf sich zog.
„Sie haben wirklich keine Ahnung“, glaubte Helene dann zu verstehen, während sie sich beeilte, mit der Frau Schritt zu halten.
Als sie Helenes verärgerten Blick bemerkte, entschuldigte sich die Tierheimmitarbeiterin schnell.
Sie gingen an den Boxen entlang. Das laute Kläffen eines Tierheimbewohners ließ Helene unwillkürlich einen Schritt zurückweichen.
Sein Nachbar zur Linken wiederum versuchte Helenes Aufmerksamkeit mit einem charmanten Blick auf sich zu ziehen.
Sehr sauber hier. Manche Boxen sind sogar leer. Von Überbelegung also keine Spur. Hat er es doch gar nicht so schlecht hier, ging es Helene durch den Kopf.
„Nach dem Gesundheitscheck beim Arzt und einer gewissen Quarantänezeit können sich die Hunde im Freilauf austoben, wenn sie sich mit ihren Artgenossen vertragen“, sagte die Tierpflegerin.
Vorgestellt hatte sie sich nicht, dafür konnte sie Gedanken lesen.
„Seit Tagen liegt er so da, frisst nicht, trinkt nicht. Und das bei der Hitze“, erklärte sie schließlich.
Minutenlang stand Helene vor der Box, ohne dass sich das Tier rührte.
„Ist er tot?“ fragte sie traurig. In diesem Augenblick wandte sich der Hund ihr zu, erhob sich schwerfällig. Die Frau in der Latzhose öffnete die Box.
Als sei in seinem Kopf ein Schalter umgelegt, wirkte er plötzlich hellwach und sprang mit einem Satz so unerwartet auf Helene zu, dass sie fast umgefallen wäre.
Ohne zu zögern steckte er den Kopf in die Tasche und nahm sein Geschenk, das sich zum Glück zusätzlich in einer Plastiktüte befand, selbst heraus. Wohlig schmatzend biss er auf das Kunststoffteil.
Die Hundezahnbürste war für ein so starkes Gebiss offenbar nicht konzipiert. Blaue Einzelteile fielen zu Boden, manche kullerten noch ein Stück.
Der Collie suchte den Boden nach den Leckerchen-Bröckchen ab.
Als er alle verspeist hatte, nahm er ein Zahnrad in die Schnauze und legte es stolz Helene in die Hand.
Sabber tropfte aus seinen Lefzen. „Igitt“, entfuhr es Helene. Sie wich einen Schritt zurück und ließ prompt das Geschenk fallen.
„Wo kann ich mir die Hände waschen?“, rief sie mit einem Anflug von Panik in der Stimme. Der Hund erschrak und zog sich in die hinterste Ecke zurück.
„Ich komme mit Tieren eben nicht klar“, sagte Helene, machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Tierheim ohne der Tierpflegerin in die Büroräume zu folgen, wo sich auch der Waschraum befand.
Der Mantel war reif für die Reinigung, sah Helene zuhause.
Was scherte sie sich auch um Dinge, die sie wirklich nichts angingen, ärgerte sie sich und widmete sich endlich der riesigen Bügelmenge, die schon seit Tagen auf sie wartete.
Wie üblich schaltete sie das Radio ein. „Ihr Gute-Laune-Sommerradio“, dröhnte es aus dem Lautsprecher. Als sei das ganze Leben ein herrlicher Spaß. Helene hätte das Ding am liebsten aus dem Fenster geworfen.
Ob sie doch wieder einmal in Urlaub fahren sollte? Aber zum Alleinsein muss man nicht wegfahren. Das Geld konnte sie sich sparen.
Sie hatte keine Lust, im Restaurant den kleinen Tisch neben der Toilette zugewiesen zu bekommen, oder vom Kellner geringschätzig taxiert zu werden.
Kaum auszudenken, wie lange sie am Bügelbrett stünde, wenn sie nach zwei Wochen nach Hause käme.
Ob Jutta wohl jemals gebügelt hat? Was wusste sie eigentlich über Jutta?
Hallo, Helene, es ist Anfang Juni, nicht Mitte November, herrlicher Sonnenschein, nicht Tristesse.
Zeit, das Leben zu genießen, schallt sie sich selbst.
Morgen. Bestimmt.–Vielleicht.
Sie ordnete die Sachen in den Schrank ein, warf einen Blick in den Kühlschrank und bereitete sich drei, besser vier Vollkornbrote mit Käse und Tomaten zu, legte sie auf einen Teller, den sie dann auf den Wohnzimmertisch stellte.
Halb sechs, gute Zeit für eine Tasse Tee, überlegte sie gerade, als das Telefon klingelte.
„Ich bin´s“, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung nur. „Kommst du vorbei?“ „Ja“, antwortete sie knapp. Es bedarf nur weniger Worte, wenn man sich so lange kennt. Es tat gut, wie aufmerksam er ihr aus dem Mantel half.
„Ich wäre heute gern um die Regattabahn gewandert, oder die Sechs-Seen-Platte“, sagte sie. „Und, warum biste nicht?“, fragte er zurück. „Allein macht es keinen Spaß“, entgegnete sie.
„Oh, diese ewigen unterschwelligen Vorwürfe. Das ist ja nicht zum Aushalten“, beschwerte er sich.
„Ich kann ja wieder gehen“, antwortete sie trotzig und beeilte sich, ihren Mantel wieder anzuziehen. Er war noch warm. „Wie du willst“, murmelte er. Sie hatte es wohl nicht mehr gehört, eben warf sie die Tür ins Schloss.
Zuhause wollte sie noch ein wenig fernsehen, dann zu Bett gehen und sobald der Wecker klingelte war endlich diese Routine wieder da, diese Richtschnur, dieser Leitfaden, der das Leben einfacher machte. Routine ließ keine Spielräume offen.
„Danke für den schönen Abend“, begrüßte Heiner seine Mitarbeiterin am nächsten Morgen bissig.
„Das Kompliment gebe ich gern zurück“, giftete Helene ihn an.
„Was läuft da zwischen euch?“, mischte Annette sich ein.
„Oh nein, dafür seid ihr zu alt, oder zumindest zu spießig“, lachte sie und schaute sich im Laden nach Menschen um, denen sie diese unfassbare Neuigkeit mitteilen konnte.
Natürlich. Die alte Frau Hüttmann blätterte gerade in einer Illustrierten und interessierte sich scheinbar brennend für den neuesten Klatsch.
Helene ging eilig ins Lager, um die neue Warenlieferung auszupacken. Heiner stand in der Nähe der Kasse, rückte hier ein Buch gerade, ordnete da einen Stapel und wirkte ausgesprochen beschäftigt.
Schon kurz vor der Mittagspause wartete Timo vor dem Laden auf Annette. Sie stürzte auf ihn zu, er umarmte sie, hob sie in die Höhe und beide küssten sich innig.
„Muss Liebe schön sein“, dachte Helene grimmig und verschloss die Ladentür hinter der jungen Frau. Wie kann man nur jeden Mittag sein Geld so zum Fenster hinauswerfen, überlegte sie.
Helene war zum Glück sehr genügsam und sparsam. Aber davon kannte Annette ja nichts.
Jutta hätte jetzt sicher die Sonne genossen und sich zum Beispiel bei Heinemann auf dem Sonnenwall einen bunten Salatteller bestellt, kam ihr plötzlich in den Sinn.
So teuer ist der nicht. Und ebenso wenig Fast Food wie die Suppe, die Helene sich nun auf der Herdplatte erwärmte.
„Weißt du eigentlich, dass ich dir gestern einen Heiratsantrag machen wollte?“, fragte Heiner.
Helene schaute ihn wortlos an. „Wir kennen uns jetzt schon so lange. Du könntest den alten Kasten verkaufen und steuerlich hätte das für uns nur Vorteile“, zählte er auf.
„Und du sparst das Gehalt für die Verkäuferin und den Lohn für die Putzfrau. Als Ehefrau mach´ ich das doch liebend gern“, säuselte Helene gespielt. Heiner fiel buchstäblich die Kinnlade herunter.
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihn ihre Abfuhr so tief verletzen könnte.
Nun tat er ihr fast ein bisschen leid. Doch als sie seine Schulter anfasste und eine Entschuldigung zu stammeln versuchte, drehte er sich barsch weg. Warum musste sie auch nur immer so mit der Tür ins Haus fallen?
Schon als Kind ärgerte sie sich hinterher über solche Missgeschicke. Jutta wäre das nie passiert. Ihr „Nein“ wäre so charmant verpackt gewesen, dass Heiner und sie am Ende sicher beide gelacht hätten.
So verschieden waren die Schwestern schon als Kinder gewesen. Helene erinnerte sich an viele Begebenheiten, in denen Jutta die Umwelt mit ihrer netten, fröhlichen Art um den Finger wickelte.
Wie wurde die Zwillingsschwester in der Schule von der Deutschlehrerin beschrieben „Helene ist erschreckend ehrlich.“ Und damals war sie auch noch stolz darauf.
Heiner und Helene gingen sich in den folgenden Tagen aus dem Weg.
Als Helene Dienstagabend durchs Treppenhaus ging, öffnete Frau Schulte ihre Wohnungstür. Die kleine rundliche Frau mit den weißen Haaren trug heute selbstverständlich eine sorgfältig gebügelte bunte Kittelschürze über ihrem Rock und der hellen Bluse.
„Ach, Helene, da bist du ja endlich. Ich warte schon seit zehn Minuten auf dich“, jammerte die alte Frau vorwurfsvoll. „Für mich ist es Zeit, ins Bett zu gehen“, fügte sie hinzu. Dieser Überfall bedeutete nichts Gutes, ahnte Helene, grüßte freundlich und schickte sich an, weiter zu gehen.
„Mein Enkel kommt morgen nach der Schule zum Mittagessen“, erklärte die Seniorin.
„Dat hat sich ganz kurzfristig ergeben, weiße. Ich halt nix davon, mich wat auf Vorrat zu legen, außerdem reicht ´de Rente da nich für. Un ich fahr ja erst übbermogen widder mit mein Tochter einkaufen. Ich könnt Bratkartoffeln mit Salat machen. Aber mir fehlen zwei Bratwürstchen“, überfiel sie Helene mit ihrem Wortschwall.
„Er isst doch so gern die Bratwurst von Reher“, setzte sie zu ihrem Anliegen an. „Und deshalb habe ich schon dort angerufen, zwei bestellt und Bescheid gesagt, dass du sie morgen um 8 abholst.“
Ihre Mieterin schien in Helene noch immer die Achtjährige zu sehen. Nach Ausflüchten zu suchen war zwecklos. „Ich mach´s“, antwortete Helene. „Komm rein, Kind, ich geb´ dich direkt dat Jält“, die Stimme der alten Frau klang plötzlich entschlossen und fest.
„Nicht nötig, das machen wir morgen Abend. Ich hänge die Tasche an die Klinke“, entgegnete Helene, die inzwischen ihre Tür geöffnet und die Handtasche an die Garderobe gehängt hatte. „Du kannst ruhig klopfen. Ich bin früh aufe Beine, weil ich noch aufräumen wollt.“
Beim Blick auf die Uhr entschied Helene am nächsten Morgen, den Miniatureinkauf auf der Münchner Straße zu Fuß zu erledigen.
Sie hatte genug Zeit dafür.
Den Lärm, den die vielen Fahrzeuge auf der Lindenstraße und der Sittardsberger Allee erzeugten, ignorierte sie ebenso wie den Benzingestank. Ganz egal, es war Sommer, die Sonne schickte ihre hellen Strahlen nach Buchholz. Was für Helene allerdings noch lange kein Grund war, ohne ihren beigen Zweireiher das Haus zu verlassen.
Sollten doch Andere rumlaufen, wie es ihnen gefiel, Helene legte Wert auf Stil.
Eine Sekunde lang drehte sich Jutta tanzend im luftig bunten Chiffonkleid auf der großen Wiese vor dem Küchenfenster.
Helene freute sich an dem Bild, das sie plötzlich vor Augen hatte.
Das Grundstück umfasste beinah 1500 Quadratmeter. Viele Nachbarn hatten ihre Grundstücke schon vor etlichen Jahren geteilt und als teures Bauland verkauft. So war der Schneiderische Garten so etwas wie ein Exot. Mit einer großen Wiese, altem Obstbaumbestand und am Nordende mit einer großen Gartenlaube. Dort wo die schwere Sitzgruppe mit dem Pavillon als Überdachung gestanden hatte, sah man noch immer die Abdrücke im Rasen. Wie oft hatten die Schwestern hier gesessen, gelacht, geredet, gestritten, sich vertragen.
Ja, was denn jetzt?
Die textilen Seitenwände des Pavillons dienten je nach Jahreszeit und Witterung als Sonnen-, Regen- oder Windschutz und wurden an manchen Tagen mehrfach ab- oder aufgebaut. Zu zweit war das kein Problem, machte im Gegenteil sogar Spaß. „Ihr seid wie die kleinen Kinder“, kommentierte Frau Schulte das Treiben dann.
Allein mochte Helene nicht hier sitzen und weil die Möbel ohnehin beim Rasenmähen störten, landeten sie im Keller. Sogar der Garten trauerte um Jutta.
Das Stück unter der Eisenbahnbrücke legte Helene im Eilschritt zurück. Oben donnerte die S-Bahn Richtung Innenstadt, vor der Auffahrt auf die A59 beschleunigten die meisten Autofahrer und ließen die Motoren so richtig aufheulen. Hinter vielen LKWs wehte eine graublaue Dieselwolke.
Im Dreispitz wohnte ihre Schulfreundin Insa. Schade, dass der Kontakt irgendwie abgebrochen ist. Im Grunde war Insa Juttas Freundin.
Mutter konnte es nicht leiden, wenn ihre Tochter allein zuhause blieb. „Du gehst doch wohl nicht ohne deine Schwester“, hatte sie Jutta oft vorwurfsvoll hinterher gerufen, wenn sich die Schülerin nachmittags verabschiedete. Während Jutta dann je nach Stimmung mal ergeben, mal wütend „Komm“, hervorstieß, zog sich Helene bewusst langsam Schuhe und Jacke an, hielt den Rücken gerade und blickte ihre Schwester trotzig an. Sie waren neun und Jutta wagte es nicht, sich der mütterlichen Autorität zu widersetzen.
„Guten Morgen, Frau Schneider, Sie möchten bestimmt die beiden Bratwürstchen für Ihre Nachbarin abholen“, grüßte die Metzgerfrau. „Was? Ja, richtig. Guten Morgen“, gab Helene abwesend zurück.
„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“ Die Frage war nichts als Routine, von der nörgeligen alten Jungfrau erwartete die Verkäuferin nichts weiter als ein spitzes „Nein, danke.“
Doch zu ihrer Überraschung blickte Helene in die Theke und ließ sich zwei Scheiben Corned Beef abschneiden.
Bloß nicht zu viel, dachte die Verkäuferin, sagte aber freundlich: „Ja, noch was?“ In den folgenden Minuten wurde nicht nur ihre, sondern auch die Geduld einiger weiterer Kunden auf eine harte Probe gestellt.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis Helene sich entschieden hatte, zwei Scheiben gekochten Schinken, ein hauchdünnes Stück Fleischwurst ohne Knoblauch und 100 Gramm Schinkenblockwurst auszusuchen.
„Mensch, hamm´ Ses bald, andere müssen zur Arbeit“, platzte einem Kunden nun endgültig der Kragen. Helene ignorierte sowohl diese wie auch die Bemerkung des Schülers: „Hättest ruhig Knobiwurst nehmen können. Bei dir hält jeder ohnehin Abstand.“
Zwei Bons, doppelt abgezähltes Geld. Tschüss!
„War das nicht die Frau, deren Zwillingsschwester so plötzlich verstorben ist?“, erkundigte sich eine Frau.
„Sie kann einem leidtun. Man sagt ja immer, diese Geschwister hätten ein besonders enges Verhältnis. Ich glaube, sie ist noch vergrämter geworden“, fügte sie hinzu.
Einsamkeit lässt Menschen sonderlich werden. Tapetenwechsel und Urlaub sah die Frau als Lösung.
„Apropos Urlaub – wo geht es denn dieses Jahr hin“, griff die Verkäuferin das Thema dankbar auf.
Zeit zum Ausruhen blieb Helene am Samstag nicht. Sie hatte gerade den Rasenmäher aus der Garage geholt, wollte den Motor starten, als Frau Schulte das Wohnzimmerfenster öffnete. Das dicke Sofakissen, das sie sich im Rahmen zurechtlegte, ließ Helene befürchten, die alte Frau würde sich auf ein längeres Gespräch einrichten.
„Hör ma, Helene. Ich hab heut´ schon mitti Sigrid dadrüber gered´. Willze Juttas Wohnung nich endlich vermieten?“, sagte sie in freundschaftlichem Ton. Wusste ich doch, dachte Helene.
„Dat hätt für dich nur Vorteile. Du weißt schon, Mieteinnahmen. Und Heizen müsstese oben auch nich mehr“, versuchte die alte Frau sie zu ködern.
Ihr kleine Besorgungen abzunehmen, ist ein Fehler, ärgerte sich Helene.
Vor lauter Langeweile hatte sie nicht besseres zu tun, als mit der Putzhilfe zu tratschen. „Ich hab jetzt keine Zeit“, sagte Helene.
„Ach, Kind, sei nicht eingeschnappt. Mit dem neumodischen Kram ist das Mähen ja wirklich kein Problem mehr. Wenn ich da noch an die schmalen Handmäher von früher denke…“ Den Rest der Ansprache verschluckte der laute Motor.
Nach dem Unkrautzupfen im Vorgarten genoss Helene minutenlang die warme Dusche.
„Das ist dein Ressort, ich kann das nicht“, hatte sie sich früher stets vor der Arbeit zu drücken versucht. „Dann stellen wir eben Bücherregale vors Haus. Schon ist es dein Job“, schlug Jutta dann lachend vor.