Читать книгу Tödlicher Spätsommer - Ursula Dettlaff - Страница 7
Eine andere Welt
ОглавлениеHelene stieg die Treppe hinauf und betrat die unbewohnten Räume.
Gewohnheitsgemäß stapelte Sigrid die Post auf der Flurkommode. Im Laufe der vergangenen Monate ebbte die anfängliche Briefflut ab. Noch immer fühlte sie sich unwohl beim Öffnen der nicht für sie bestimmten Korrespondenz. Kontoauszüge.
Sie musste endlich endscheiden, wie es mit dem kleinen Geschenkelädchen weitergehen sollte. Heute nicht. Dazu war sie zu müde und für Entscheidungen…
Warme Terrakottafarben und zartes Gelb bestimmten die Räume. Das merkwürdig eckige Sofa passte nach Helenes Geschmack so gar nicht zu den wenigen Kiefernholzmöbeln.
Jutta brauchte Platz. Nur die Räume nicht überfrachten, lautete ihr Credo. Blauer Teppich, blaue Bilderrahmen, na ja. – Alle in Din A3.
Helene setzte sich einen Moment auf „ihren“ Platz und ließ die Atmosphäre auf sich wirken.
Das riesige bodentiefe Giebelfenster flutete das Zimmer mit hellen, warmen, freundlichen Sonnenstrahlen. Sigrids Ärgernis-Objekt. „Habt ihr, als ihr euch für dieses Fenster entschieden habt, je gefragt, wie das geputzt werden soll?“
Juttas bevorzugtes Bildmotiv: Natürlich Wasser, wohin das Auge blickte, Sommerstimmung. Ein kleines Schiff im Hafen von Wittdün.
Eine Tour „Rund um die Insel“ mit der „Eilun“ gehörte zu Juttas Pflichtprogramm im Sommer. Seehunde genießen ungestörte Ruhe. Sonnenuntergang, mal vor wolkenlosem, mal vor leicht bewölktem Himmel. Hat sie das Bild doppelt? Nein, beim Nächsten ist der rote Ball ein Stück tiefer im Wasser versunken.
Vor einem Fahrradverleih nehmen Urlauber Drahtesel in Augenschein. Kommen die sich da nicht gegenseitig in die Quere?
Die Tischdecke müsste wieder gewechselt werden, stellte Helene fest, während sie sich im Raum umsah.
Nachdem Sigrid sich strikt geweigert hatte, regelmäßig wenigstens alle zwei Wochen frisches Obst auf den Teller zu legen, arrangierte Helene ein wenig Sand und verschiedene Muscheln darauf.
So hatte sie wenigstens ein bisschen das Gefühl, Juttas Geschmack getroffen zu haben. Obwohl sie glaubte, es läge noch ein wenig der frische Duft ihres Lieblingsparfüms in der Luft, wirkte die Wohnung wie das Vorzeigeexemplar eines Möbelgeschäftes. Menschenleer im wahrsten Sinne des Wortes.
Keine Strickjacke über der Stuhllehne, keine zusammengefaltete Wolldecke auf der Couch. Helene ging hinüber ins Schlafzimmer.
Während sie vorsichtig den Kleiderschrank öffnete, beschlich sie das Gefühl, eine Spionin, eine Diebin zu sein. Mit einem lauten Knall schloss sie den Schrank und verließ die Wohnung, in der sie auch ein Stück ihrer Trauer bewältigte.
Neben der Tür hing das neueste Foto. Helene hatte es aufgehängt. Es war eine der letzten Aufnahmen, die Jutta kurz vor ihrem Tod gemacht hatte.
Die Kamera war in dem Koffer mit den Sachen der Toten, die man Helene nach der Spurensicherung aus Dänemark zugesandt hatte. Sonnenuntergänge hatte Jutta unzählige Male fotografiert.
An diesem Abend, ihrem ersten im dänischen Ferienhaus, führte sie ihr Weg natürlich ebenfalls an den Strand. Sie ahnte nicht, dass dies das letzte Mal sein würde. Der Besuch kam völlig überraschend.
Juttas erste Nacht in den Ferien war kurz. Sie konnte sich wie immer nicht satt sehen an diesem unglaublichen Naturschauspiel: ein Sonnenuntergang am Meer.
Als Postkarte würde ich meinen, die Farben seien nachbearbeitet und kitschig, staunte sie und blieb, wie viele andere Urlauber, bis zum frühen Morgen am Strand. Sie fühlte sich ein wenig wie ein kleines Kind, dem es schwerfiel, ein Geheimnis für sich zu behalten.
Doch der Plan, ihrem Leben eine ganz andere Ausrichtung zu geben, konnte nur gelingen, wenn er so lange wie möglich geheim blieb. – Falls nötig mit einer frechen Lüge. Es ging schließlich um ihre Zukunft.
Sie hörte quasi schon das Getratsche der Nachbarn und Kunden, wenn alles zu früh bekannt würde.
Auf welchem Weg könnte ein Mieter für das Geschenkelädchen gefunden werden? Wenn sie so den neuen Hausbesitzer unterstützen könnte, bliebe für die Meisten alles beim Alten.
Sie wurde durch das lauter werdende Klopfen an der Küchentür geweckt. Sie öffnete lediglich den oberen Teil der Tür, weil sie damit die vage Hoffnung verband, das Pyjamaoberteil könne als Bluse angesehen werden.
„Oh, habe ich dich geweckt? Das wollte ich nicht“, lautete die Begrüßung.
Jutta war völlig sprachlos. Sie versuchte, die Situation zu überbrücken, indem sie Müdigkeit vortäuschte. Sie gähnte und streckte die Arme nach oben.
Sie bedauerte den Streit der vergangenen Wochen und wusste noch keinen Ausweg.
„Ich habe frische Brötchen mitgebracht“, plapperte der Gast unbeschwert als habe es diesen Disput nie gegeben und streckte ihr die Tüte entgegen.
„Du bist mir nicht mehr böse?“, fragte Jutta und fiel dem Gast um den Hals, nachdem sie die Tür geöffnet hatte. „Wie kommst du hierher? Was machst du hier?“, sprudelte es aus ihr heraus. Sie war viel zu aufgeregt, um Antworten abzuwarten.
Die Beiden beschlossen, den Tag im nahe gelegenen Ringköbing zu verbringen. Während der Gast die Küche aufräumte, sprang Jutta rasch unter die Dusche.
Sie nahmen den Bus. Das war einfacher, als in einer fremden Stadt auf Parkplatzsuche zu gehen. Schon während der Fahrt lachten sie ausgelassen wie Teenager. Arm in Arm schlenderten sie durch die alten Gassen.
Am Hafen bestaunten sie die Fischerboote und sahen einem alten Mann zu, der ein Netz reparierte. Jutta befand sich in Shopping-Stimmung. Sie probierte T-Shirts und Blusen, taxierte sich mit bunten Schals und riesigen Sonnenhüten im Spiegel.
„Wir wären wohl doch besser mit dem Auto gefahren“, überlegten sie lachend, als Stunde um Stunde verging und die Taschen schwerer wurden.
„Wo ist eigentlich dein Wagen?“, fragte sie. „In Flensburg konnte ich mit zwei Kollegen eine Fahrgemeinschaft bilden“, erklärte der Gast. Erschöpft ließen sie sich auf eine Bank am Marktplatz fallen.
So spontan, fröhlich und unbefangen wie Jutta war Helene nie.
Helene war ernster. Sie reagierte lieber auf die Aktivitäten der Anderen, als selbst aktiv zu werden. Diese Haltung musste sie nach dem Tod ihrer Schwester ändern.
Den anstehenden Besuch schob Helene lange vor sich her. Sie wollte die Rolle der Arbeitgeberin – in gewisser Weise als Kontrolleurin – nicht annehmen. Der Gegensatz zwischen Juttas Wohnung und dem Geschenkelädchen hätte größer kaum sein können.
Helene wusste nicht, was ihr unangenehmer war: das erneute Eintauchen in Juttas Welt oder die Enge der winzigen Verkaufsfläche. Buchstäblich jeder Zentimeter schien ausgefüllt mit Wohnaccessoires, wenigen Schnitt- und Topfblumen, Aufstrich, Marmeladen, hübschem Porzellan, diversen Kristallglasartikeln.
Im Nebenraum, der dem Vorbesitzer als Personalraum gedient hatte, duftete es nach Kaffee- und Teespezialitäten sowie feinen Schokoladen und Pralinen. Eine riesige hölzerne Getreidemühle bot die Gelegenheit, den Kunden frisch gemahlenes Mehl anzubieten. Ihr Stil passte absolut nicht zu dem hochmodernen teuren Kaffeeautomaten, der neben ihr auf der Anrichte stand.
An der Wand mit Blick auf die Straße bzw. auf die Kasse stand der winzige schmiedeeiserne Tisch mit seinen beiden furchtbar unbequemen Stühlen. Die Gruppe war eher zum Betrachten als zum Benutzen gedacht, mokierte Helene sich regelmäßig.
Für eine Schwingtür war kein Platz. Die Schiebetür, die sich über die gesamte Breite des Ladens erstreckte – Juttas Idee übrigens – erwies sich in mehrfacher Hinsicht als kluge Geschäftsidee. Zum einen boten die beiden Stufen vor dem Laden gewissermaßen weitere Stellflächenebenen, zum anderen ging fast niemand am Laden vorbei, ohne einen Blick auf das Sortiment zu werfen.
„Schön, dass du mal wieder reinschaust“, begrüßte Helga ihre neue Arbeitgeberin. „Setz´ dich. Bis eben kam eine Kundin nach der anderen. Da bin ich froh, ein bisschen verschnaufen zu können. Trinkst du einen Kaffee mit?“ Helga machte sich an dem Monstrum zu schaffen. So eine Geldverschwendung, dachte Helene, eine ganz normale Kaffeemaschine hätte es auch getan.
„Nun zieh nicht so ein Gesicht“, lachte ihr Gegenüber. „Erstens ist die längst abgeschrieben und zweitens braucht man heute so ´n Ding um mithalten zu können.“
Ein wenig unsicher reagierte sie auf Helenes Bemerkung, ein Geschäft wie dieses gebe es im weiten Umkreis kein zweites Mal.
Auf Helga konnte sie sich verlassen. Sie war von Anfang an dabei, seit Jutta vor mehr als 30 Jahren den Laden eröffnet hatte. Bis vor einem Jahr arbeitete sie nur etwa 12 Stunden pro Woche, jeweils als Juttas Vertretung. Zum Glück konnte Helga nach Juttas Tod ihre Stundenzahl aufstocken.
Beide, Jutta und Helga, verband das Interesse an Mode und Zeitgeist, was dazu führte, dass das Geschenkelädchen neben der alten Stammkundschaft auch von jungen Kundinnen und Kunden frequentiert wurde.
„Wir brauchen wieder Visitenkärtchen und Aufkleber“, sagte Helga. „Druckst du uns welche?“, fügte sie hinzu.
Ein kleines Mädchen von vielleicht acht oder zehn Jahren hatte schon eine Weile unsicher vor dem Geschäft gestanden. „Ich möchte diesen Tischläufer“, sagte sie jetzt mit entschlossener Stimme und ihre Augen strahlten dabei. „Meine Mama hat nämlich morgen Geburtstag“, erklärte sie weiter.
„Oh, damit machst du ihr bestimmt eine Riesenfreude“, lächelte Helga, die schon begann, das Geschenk fächerartig in durchsichtige Folie einzuwickeln und das Ganze mit einer hübschen Schleife zu versehen.
Die Kleine zählte umständlich ihr Geld auf den Münzteller. Am Ende fehlten zehn Cent, mochte sie auch noch so gründlich die Fächer ihrer Geldbörse durchsuchen. „Schon gut“, half Helga dem Kind aus der Verlegenheit. „Hast du eine Tasche dabei?“ Das Mädchen hatte an alles gedacht. Sichtlich stolz verließ sie das Geschäft.
Helga holte eine Zehn Cent Münze aus ihrem Portmonee und legte sie in die Kasse. „Der Laden läuft gut“, sagte sie unvermittelt.
„Die Nachricht von Juttas Verschwinden breitete sich scheinbar wie ein Lauffeuer aus, fast verkaufsfördernd nach der Sommerpause. Als sie dann gefunden wurde, wollten wohl alle die aktuellen Neuigkeiten erfahren und später stellten sie fest, dass das Geschäft von den Angestellten weitergeführt wurde“, erläuterte Helga.
„Es ist keine Goldgrube, aber mit mir als Vollzeitkraft und der Teilzeitbeschäftigten wirft es immerhin so viel ab, dass du den Job in der Buchhandlung eigentlich an den Nagel hängen könntest“.
Helga legte den Arm um Helene. „Ich weiß doch, wie schwer es dir fällt, dass sie nicht mehr da ist“, tröstete sie, schnäuzte mit lautem Trompeten in ein ziemlich benutztes Taschentuch und fügte mit belegter Stimme hinzu: „Sie fehlt uns allen sehr.“
Helene spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. „Ich muss jetzt gehen“, schluchzte sie und wandte sich ab. Helgas Frage: „Und was soll jetzt werden?“ ließ sie unbeantwortet.
Ein Sommertag wie er im Buche steht, bedeutete selbstverständlich Hochbetrieb an der Sechs-Sechs-Platte. Helene nahm wie immer den Weg vom Unfallkrankenhaus aus. Oder besser, sie reihte sich in die Prozession der Freizeithungrigen ein.
Der Rummel war vorhersehbar: Parkende Fahrzeuge blockierten den breiten Fußgängerweg entlang der Großenbaumer Allee, mit fröhlichem Klingeln versuchten sich Radfahrer einen Weg zu bahnen.
Auf den meisten Gepäckträgern klemmten Wolldecken oder Picknickkörbe. Es ging Richtung Freibad.
Ein kleines Mädchen, an dessen rosa Fahrrad Stützräder befestigt waren, fuhr behutsam mit seiner Puppe genau in der Mitte des Weges. Unebenheiten hätten das Fahrzeug womöglich ins Wanken gebracht. Das wollte das Kind nicht riskieren.
Sie „führte“ ihre Eltern auf den Weg zum Spielplatz. Der bildete wie stets an solchen Sommertagen das Zentrum für viele Familientreffen im weiten Umkreis. Und wenn alle Eltern und Großeltern ein wenig zusammenrückten, fand jeder noch einen Platz auf den Sitzbänken.
Manche Besucher breiteten Tischdecken aus. Von klein geschnittenen Äpfeln, über frische Erdbeeren und Kirschen bis zu (Kinder-) mundgerecht belegten Brötchenstücken und riesigen Apfelschorle-Flaschen sah Helene alles, was das Herz spielender Kinder begehrt. Eine Weile betrachtete Helene das bunte Treiben. Jetzt, am späten Vormittag spürten die Kleinen noch keine Müdigkeit.
Die Jüngeren saßen im Sand und ließen versonnen die Körner durch die kleine Faust rieseln. Ein kurzer Blick Richtung Bank genügte, um sicher zu sein, dass Mama und Papa noch da waren.
Zwei Mädchen standen rechts und links an der Leiter zum Turm.
Mit dieser flankierenden Maßnahme wollten sie verhindern, dass der kleine Junge, der die Leiter hinaufstieg, stürzte. Mit ihrem Ruf: „Passt auf, dass er nicht zu hoch klettert“, setzte die Mutter dem Höhenflug des Kindes ein jähes Ende, denn sofort griffen ihm die Mädchen beherzt unter die Arme und setzen ihn auf den Boden der Tatsachen. Wut und Enttäuschung spiegelten sich im Gesicht des Kindes wider. Dicke Tränen kullerten über seine Wangen.
„Dafür bist du noch zu klein“, versuchte die Mutter ihn zu trösten, während sie ihn auf dem Arm hielt.
„Hier, schau doch mal, die Wackelente.“ Es folgte eine noch lautere, weil empörte Schreiattacke. Für echte Kletterer war das Babykram.
Die beiden Mädchen lieferten sich unterdessen auf der Hängebrücke ein wildes Verfolgungsrennen. Sie hatten ihren verantwortungsvollen Job erfüllt und konnten sich wieder um sich selbst kümmern.