Читать книгу Lockenkopf 1 - Ursula Essling - Страница 10

Оглавление

Geben Sie mir 75 Pfennig die Stunde

Alle reden von der Währungsreform. Ich verstehe das aber noch nicht. Ich kapiere nur, dass alle Personen gleich viel Geld bekommen sollen, und man alles im Laden kaufen kann. Jetzt kaufen Inge und ich ganz offen Zucker beim Braun. Alle Leute wirken irgendwie froh. Ich fragte Inge, ob ich auch eine Person sei. Sie überlegte, was man ihr immer ansieht, und sagte schließlich: „Na, man könnte sagen, dass Du eine halbe Person bist.“ Die halbe Person kommt jetzt in die Schule. Ich freue mich so.

Mein Vater arbeitet gelegentlich für andere Leute. Sie rufen ihn, wenn der Wasserhahn tropft oder überhaupt nicht läuft. Auch beim Hausbau hilft er. Da geniert er sich immer, bezahlt zu werden, ist aber trotzdem froh, wenn er was bezahlt bekommt. So ist er zu anderen Leuten. Mama ärgert sich immer darüber. Zuhause kann der Wasserhahn tagelang tropfen, das stört ihn nicht einmal. Ich weiß auch, warum; denn er nimmt mich manchmal zu den Leuten mit. Die sagen dann: „Das haben Sie aber prima hingekriegt, Herr Scholl“, und machen ihn damit ganz verlegen. Aber das machen die Leute nur, damit sie ihm weniger bezahlen müssen. Manchmal wird mir auch über den Kopf gestrichen mit dem üblichen: „Was hast Du für schöne Locken!“ Und wenn sie meinen Vater total einwickeln wollen, bekomme ich auch noch ein Stück Kuchen. Das drückt alles die Preise, meint meine Mutter, außerdem hätten wir's nötig. Wir müssen ja auch unsere Miete und die anfallenden Kosten pünktlich bezahlen.

Die Miete kostet zweiunddreißig Mark fünfzig und wir bringen das Geld an jedem Ersten zu Herrn Weigand, der am anderen Ende der Kaiserstraße wohnt. Mama gibt ihm dann immer seufzend das Geld, fein säuberlich abgezählt. Herr Weigand schreibt in ein großes schwarzes Buch, dass Scholls die Miete bezahlt haben, und seufzt dann ebenfalls, wie schwer die Zeiten seien. Auf diese Weise lerne ich alle Leute in Kattenbach kennen. Viele haben auch Kinder, mit denen ich spielen kann.

Eines Tages nahm mich mein Vater mit zu Wolfs. Da machte er auch irgendetwas an der Wasserleitung. Die Wolfs bestehen aus einer Mutter und vier Kindern. Der Vater ist im Krieg gefallen. Die zwei Mädchen sind in Inges Alter. Eine ist schwarzhaarig, ruhig und vernünftig. Die andere hat einen blonden Struwwelkopf und steckt voller Einfälle. Der ältere Junge ist wie seine vernünftige Schwester.

Aber der Paul, der ist wie seine struwwelige Schwester, einfach herrlich. Wir haben sofort gemerkt, dass wir zusammenpassen. Frau Wolf hat, wie sie sagt, am meisten Last mit ihm. Er stellt soviel an. Dabei will er doch gar nicht immer was anstellen, sagt er. Das glaube ich ihm auch; denn man kann ja nicht immer wissen, was aus einer guten Absicht wird. Ich kenne das ja auch aus Erfahrung. Erwachsene sehen das halt alles immer anders.

Die Schule ist auch nicht das, was ich gedacht habe. Stundenlang muss man still sitzen und auch noch genau zuhören, was der Lehrer erzählt. Dann will er auch noch von uns Kindern wissen, was er uns erzählt hat.

Dabei fing es so aufregend an. Alle hatten eine große bunte Schultüte voller Süßigkeiten. Damit wurden wir fotografiert. Dann kamen wir in unsere Klasse und der Lehrer las uns unsere Namen vor. Wen er aufrief, der musste den Finger in die Höhe strecken. Den Paul hat er dreimal aufgerufen, bis der merkte, er war gemeint. Bin ich froh, dass Paul in meiner Klasse ist. Auch Edgar und die Ursel von unserem anderen Hauseingang. Sie kann ich auch gut leiden. Sie hat blonde Zöpfe und massenhaft Sommersprossen. Sie ist immer fröhlich und trotzdem ist sie die Beste in unserer Klasse.

Das mit der Schultüte war auch so was. Kaum kam ich heim aus der Schule, habe ich sie aufgemacht, um die vielen guten Sachen anzugucken. Aber da gab`s nur ein paar Karamellen und eine Tafel Schokolade, eine Rolle Drops und eine Apfelsine. Alles andere war Zeitungspapier. Sehr viel Zeitungspapier!

Unser Lehrer ist zwar ein alter Mann, aber wir wissen nicht wie alt. Er hat viele Falten, aber er ist herzensgut und wir lieben ihn alle. Deshalb lernen wir auch für ihn, damit er nicht traurig ist. Aber ich kapiere die Buchstaben einfach nicht.

Mama will, dass Papa mit mir übt, weil sie ja jetzt auch arbeiten geht. Sie putzt mittags beim Bäcker. Frau Schmidt hat sie gefragt; nun ist sie von zwei bis um fünf dort. Sie hat sich auch geniert, als die Bäckersfrau sie fragte, was sie in der Stunde verdienen wolle. „Geben Sie mir halt fünfundsiebzig Pfennig“, hat meine Mutter gesagt. Ich bin dabei gewesen. Frau Schmidt hat sofort genickt. Jetzt bringt Mama oft übrig gebliebene Stückchen von gestern mit. Das finde ich gut. Naja, jedenfalls übt mein Vater jetzt mit mir, aber er verliert immer gleich die Geduld. In unserem Lesebuch sind viele kleine Geschichten. Ich möchte gerne wissen, wovon die handeln, weil mir auch die Bilder so gut gefallen. Papa liest sie mir vor und ich lerne sie auswendig. Wenn die richtige Geschichte in der Schule dran ist, die, welche ich auswendig kann, lese ich auch vor. Da wundert sich Herr Göring immer, wie fließend das geht.

Meine Schwester geht in Auenheim zur Schule. Da muss sie mit dem Fahrrad hinfahren. Da fahren die Wolfmädchen auch immer mit hin, und noch zwei andere Mädchen aus Kattenbach.

Sie kriegen auch Schulspeisung. Inge, die ganz dick mit der struwweligen Angelika Wolf befreundet ist, vergräbt die Schulspeisung öfter hinter den Bäumen am Schulhof. Sie wurden erwischt und es ist ein blauer Brief gekommen. Inge hat geheult, weil Mama sich so furchtbar aufgeregt hat. Da die Lehrerinnen alle schwarze Nonnen sind, haben sie von großer Sünde und so geschrieben. Aber Inge hat gesagt, lieber würde sie Pappe essen, so schrecklich sei das Zeug. Und wenn sie von dieser Schule müsste, so wäre das auch nicht so schlimm, die Schwestern wären auch nicht alle gerecht.

Die Mädchen aus Auenheim haben zuhause Bauernhöfe. Da bringen sie den Nonnen mal ein paar Eier, mal `ne Wurst oder einen Schinken mit. Annemarie Neumann hat neulich ihr Gedicht nicht gekonnt und unsere Inge konnte es ganz auswendig. Ich weiß das, weil sie es mir so schön dramatisch vorgetragen hat. Es war furchtbar lang und hieß „Der Knabe im Moor“. Sie hat das mit rollenden Augen gemacht und mit wilden Zuckungen, sodass mir ganz unheimlich wurde. Sie will später mal Schauspielerin werden. Jedenfalls hat sie für das Gedicht nur eine Drei eingetragen bekommen und die Annemarie, die nur so rumgestottert hat, ein Zwei! Aber, die haben auch einen großen Bauernhof. Sie brachte der Schwester Innozenz auch gerade an diesem Tag eine große Salami für das Gedicht mit.

Ich werfe meine Schulspeisung nie weg. Wir bekommen sie zwar auch von christlichen Seelen gespendet, aber die sind in Amerika. Komisch, ich glaube, die Amerikaner wissen besser, was Kinder mögen. Wir bekommen eine kleine Flasche Milch mit Strohhalm und ein Sandwich mit Schinken oder Erdnussbutter. Manchmal ist noch ein Riegel Schokolade dabei. Neulich gab es nur die Milch und statt des Brotes für jeden ganze fünf Rollen Drops. Wir haben uns alle riesig gefreut.

Es gibt also auch schöne Tage in der Schule. Am schönsten sind die Pausen. Da sitzen wir, die Gisi, die Ursel, die Barbara und ihre Schwester Maria, meistens auf der Bank im Schulgarten und spielen „Taler, Taler, du musst wandern“. Oder an der Wand hinter der Treppe „Abends, wenn der Mond scheint“. Das spiele ich besonders gern.

In der Schule kenne ich Paul kaum, weil er mich da auch nicht näher kennen will. Die Jungen sind ja alle blöd. Die sagen aber wieder über uns „Die blöden Kebsweiber“. Das ist alles andere als nett; denn ich bin kein Kebsweib und will auch nie eins werden. Meine Freundinnen auch nicht. Ich habe Mama gefragt, was ein Kebsweib ist, aber sie sagte nur, das brauchte ich noch nicht zu wissen.

Paul und ich sind aber nach wie vor dauernd zusammen. Wenn wir auf dem Hof spielen und seine Mutter ruft ihn, verstecken wir uns meistens in dem Baumhaus, das er gebaut hat. Da kommt Frau Wolf nicht hoch. Wenn sie ihn aber vorher erwischt, schickt sie ihn meistens zum Einkaufen. Er will aber nicht zum Braun. Da nimmt sie den Besen und versucht, ihn damit zu verhauen. Er ist aber sehr flink und entkommt dem Besen meistens. Da rennt er vorneweg, Frau Wolf mit dem Besen hinterher. Meistens langen sie gleichzeitig beim Braun an. Ich finde, da hätte Frau Wolf gleich selber einkaufen gehen können.

Bei ihm im Hof kann man wunderbar spielen. Wolfs haben ein Haus ganz für sich. Nur Tante Hermine wohnt im ersten Stock mit ihren Hunden und einem Mann, der jünger und sehr nett ist. Mit dem Mann, der bei den Amis arbeitet, ist sie nicht verheiratet. Meine Mutter hat mir aber erklärt, dass sie das darf, da sie Witwe ist und sonst kein Geld von ihrem Mann bekäme. Ich habe das nicht ganz verstanden, aber das ist uns auch egal.

Aus unserer Klasse kommen noch mehr zum Spielen hin. Im Hof kann man Murmeln spielen und auf Stelzen laufen. Manchmal kochen wir eine Suppe. Die Zutaten holen wir uns aus Wolfs Garten. Nachdem wir die Tomaten, Radieschen, Gurken und Kohlrabis in eine Schüssel mit Wasser geschnippelt haben, müssen wir die Suppe meistens wegwerfen. Niemand will sie essen.

Manchmal zeichnen wir uns mit Stöcken Wohnungen. Da spielen wir Hausfrauen. Es gibt aber nur einen Handfeger bei Wolfs und der steht mir zu. Neulich wollte Paul ihn für die länger als für jede Hausfrau vorgeschriebene Zeit der Barbara überlassen. Das hat mich richtig geärgert. Ich habe Paul ganz klar gesagt, dass ich heimginge, wenn ich den Besen nicht bekäme. Da hat er ihn der Barbara abgenommen. Das war ja auch richtig; denn ich bin ja immer noch seine beste Freundin.

Lockenkopf 1

Подняться наверх