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Royan, Montag, 5. Mai 2003

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Die Geschichte ist besser vorstellbar, wenn zuerst die Kulissen aufgestellt werden. Royan. Badeort mit kleinstädtischem Charakter an der französischen Westküste, genauer am nördlichen Ufer der Girondemündung gelegen, es ist nicht ganz klar, ob das Wasser bereits dem Atlantik oder noch der Gironde gehört, jedenfalls salzig, aber in der Ferne sieht man das gegenüberliegende Ufer. Achtzehntausend Einwohner und in der Badesaison über hunderttausend mehrheitlich französische Sommergäste. Vorzeigestadt für Fünfzigerjahre-Stadtarchitektur, fast in Reinkultur, fast museal. Architekturschulen studieren am Objekt die für den Wiederaufbau in den Fünfzigern entwickelte neue Architektursprache, royano-bré­silien. Eine Mischung von Bauhaus aus den Zwanzigern, Art déco aus den Dreißigern und dem brasilianischen Lyrismus eines Oscar Niemeyer aus den Vierzigern. Je­denfalls gewöhnungsbedürftig.

Doch die Vergangenheit geistert herum, will sichtbar werden. Jahrhundertwende, Belle Époque, die Eleganz des pompösen Grandhotels, der Casinos, Tennisplätze, gestreiften Strandkabinen, prächtigen Badehotels und Sommervillen. Im herrschaftlichen Seebad Royan traf sich die Welt, Künstler, Dichter, ganz Paris und die Reichen aus Bordeaux. Meerbäder kamen in Mode, die Perle des Ozeans, wuchs und glänzte während Jahrzehnten, überstand den Ersten Weltkrieg ohne Kratzer, aber nicht den Zweiten. Das Ende der luxuriösen Epoche kam in drei Schritten. Die sozialistische Regierung hatte 1936 in Frankreich zwei Wochen bezahlten Ur­laub eingeführt. Der Volkssturm auf die Seebäder brachten Royan die zweifelhaften Segnungen des modernen Massentourismus, der Einmarsch der deutschen Wehrmacht am 24. Juni 1940 nahm dem Badeort sodann allen Glanz. Aber endgültig beendet wurde die prunkvolle Vergangenheit mit der beinahe kompletten Zerstörung der besetzten Stadt durch alliierte Bomber am 5. Januar 1945.

Danach blieb nur ein resoluter Blick in die Zukunft. Etappenweise eine Stadt vom Reißbrett aufbauen, mutig im Zeitgeist der radikalen Moderne, weder geleitet von pragmatischer Ökonomie noch nostalgischer Res­tau­ration. Aber mögen muss man diesen Fünfzigerjahre­architekturstil schon. Zum Beispiel der berühmte Front de Mer, Symbol des eigenwilligen Wiederaufbaus von Royan in den Fünfzigern, mittlerweile mehrmals renoviert, Bausubstanz eher schlecht, und unübersehbar auf allen Ansichtskarten. Zwei je fast zweihundert Meter lange Gebäude mit Appartements, nur drei Stockwerke hoch, die in einer elegant gezogenen Kurve der Linie des Meers folgen und die dahinter liegende Stadt abschirmen. Aber eine imaginäre Wasserlinie, die ganze Anlage liegt nicht mehr am Meer. Das kleine Stadtzentrum, symmetrisch angelegt, dominieren großstädtisch doppelspurige, um nicht zu sagen großspurige Boulevards.

Hier trifft man auf JP. Er ist seit zwei Tagen in Royan, ein heller, heißer Nachmittag. Er schlendert den menschenleeren Cours de l’Europe hinunter, kneift die Augen zusammen, hält von Zeit zu Zeit die schützende Hand davor. Die Hitze schmerzt in den Augen, er drückt sich in den schmalen Schattenstreifen, den die Häuser gnädig noch bieten, aber immer wieder gezwungen, ei­nem Hindernis auszuweichen, einige Schritte in der Mit­te des grellen Trottoirs zu gehen, mal sind es die leeren Stühle eines Cafés, die Leute sitzen drinnen, mal parkt einfach ein Auto auf dem Gehweg, normale Sache hier, keinen störts, alle tuns. Die verrückten Hochsommertem­peraturen lähmen die Menschen, die noch auf Wärmesuche eingestellten Körper wissen nicht, wie das plötzliche Zuviel abwehren. Gereizt wischt er sich über die Stirn. Obwohl mit leichter Sommerhose und Kurzarmhemd bekleidet, leidet der aus der kühlen Schweiz Angereiste stärker als die Einheimischen.

Er zögert, unklar, in welche Richtung es ihn zieht. Es ist halb zwei, in Frankreich sitzt zu dieser Zeit bei Tisch, wer etwas auf sich hält, alles ruht, daran wird sich JP gewöhnen müssen. Er durchschreitet die breite Parkanlage, bemerkt die verlassenen Boulefelder unter Pinien und Akazien kaum und überquert die Fahrspur achtlos, bis er im Schatten der weißen Häuser auf der linken Seite angelangt ist. Man bemerkt sofort, dass er nicht zu den Zweitwohnungsbesitzern gehört, den frohgemuten Rentnern, die sich am Ende des Arbeitslebens in Royan eine kleine Wohnung leisten. Obwohl er etwa im gleichen Alter ist, fehlt ihm die lederne Sportlichkeit der junggebliebenen Senioren. Seine Kleidung zeigt aber auch keinerlei touristischen Missgriffe, er verkneift sich die Sonnenbrille, die ihn, Anfang Mai, ohne jeglichen Zweifel als Touristen deklassiert hätte. Er trägt eine mappenähnliche Umhängetasche und über die Schulter eine am Zeigefinger aufgehängte Wildlederjacke. Richtig, die gleiche Jacke und dieselbe Geste, nicht zu leugnen.

Einer, der in der Morgenkühle aus dem Haus gegangen ist und doch eindeutig kein Einheimischer, seinem Gang fehlt deren Zielstrebigkeit. Eine kaum merkliche Verzögerung beim Aufsetzen des Fußes, erwartungsfreu­dig, sofort bereit, die Richtung zu ändern, verrät den Neu­angekommenen. Intensiver Schwebezustand, er saugt das Fremde ein, labt sich am Unbekannten, es sprengt das Herz, die Freiheit ist zum Greifen, ein Luftsprung und ein Jauchzer sind jetzt das einzig Richtige. Nur innerlich, versteht sich, JP ist Schweizer. Das bisschen Exotik des Badeorts, das bisschen salzige Meeresbrise, das reicht noch nicht, um fünfzig Jahre Wohlbenehmen und Selbstkontrolle abzuwerfen wie ausgetragene Kleider. Es wird noch etwas dauern.

JP bleibt unschlüssig am Ende des Cours de l’Europe stehen. Alle Geschäfte geschlossen, teilweise sogar die Gitter heruntergelassen. Auch die Grünanlage ist ausgestorben, sie wird gegen Ende des Boulevards schmaler, Sträucher ersetzen die Pinien, Parkplätze bald diese und schließlich beendet ihn ein erhöhtes Asphaltdreieck mit Verkehrsampel und Wegweisern. Weiße Stille liegt über dem weiten Platz vor der Post. Warum ist er überhaupt jetzt und hier in Royan? Gute Frage. Eigentlich zwei Fragen.

Jetzt: weil er ausgelaugt ist, zynisch, jeder Schultag wurde unerträglicher. Sein Antrag auf ein Freisemester, Sabbatical klingt besser, ist ihm anstandslos bewilligt worden. Wiedersehen am Montag, 18. August, zum neuen Schuljahr. Er fährt sich über die feuchte Stirn. Vieles muss sich in diesen knapp vier Monaten ändern. Diese Leere, nicht einmal Schülerarbeiten kann er mehr beurteilen, alle Kriterien sind ihm abhanden gekommen. Keine Ahnung, was gut ist, was ungenügend, wer ist so anmaßend, das wissen zu wollen. Ihm ist einfach scheißegal, was die Schüler schreiben, denken, nicht denken, nicht überlegen, nicht wissen. Was hat das mit ihm zu tun?

Eine Zeitlang kann man noch so tun als ob, man hat ja schließlich Expertise nach so vielen Jahren Berufstätigkeit, die Phrasen sprechen und schreiben sich von allein, schlängeln sich gekonnt in die Beurteilungen, die aus luftigen Satzmodulen bestehen, die man mal so, mal so aneinanderreihen kann. Glauben muss das keiner. Leider wird nach einiger Zeit das Unbehagen schwer, würgt dich, ja schneidet dir die Luft ab. Spuck es endlich aus. Dass du genauso oberflächlich und uninteressiert geworden bist wie deine Schüler. Von Jahrgang zu Jahrgang schlimmer, ewiges Lamento der Kollegen. Oder dass nichts mehr in deinem Kopf ist, keine Meinung zu den Dingen, selbst nicht, ob du Meinungslosigkeit gut oder katastrophal findest. Altersweisheit ist es bestimmt nicht. Es gab nur eins – weg. Auszeit. Eine unbe­kannte Umge­bung verdampft zumindest für eine gewisse Zeit die breiige Langeweile, denn täglich sind unzählige banale Entscheidungen zu treffen, wenn alles neu ist, zum Beispiel, welche Straße er jetzt nehmen soll.

Endlich das Meer sehen. Wo liegt das Meer? Die blendende Helligkeit am Atlantik überrascht ihn auch diesmal wieder, grenzenloses Licht, es gibt keine hohen Ge­bäu­de, die Straßen offen, die Häuser weiß, über dem flachen Land der unbegrenzte Himmel. Keine Bergschranken. Als Schweizer ist man halt anfällig für die Weite. JP überquert zügig den breiten Boulevard.

Der erste Kurstag heute Vormittag hat sich ganz gut angelassen. In der Pause gab es Gelegenheit für den unvermeidlichen Smalltalk, eine kleine Kursgruppe mit acht Teilnehmern, drei männlichen, außer ihm noch ein Schweizer, Marco aus dem Tessin, und der Deutsche Sven, und fünf weiblichen, die Spanierin Gracia, eine etwas arrogant wirkende Mailänderin namens Chiara, zwei unkomplizierte Kanadierinnen aus Ottawa, Maureen und Pam, und die geschwätzige Monika aus Linz. Sie alle unterrichten Französisch an einem Gymnasium in ihrem Land, sie alle haben das Bedürfnis, ihr Französisch wieder à jour zu bringen, Fehler auszumerzen, die sich einschleifen, wenn man ständig nur mit Nichtfrankofonen spricht. Eine ganz angenehme Truppe, obwohl JP dieser Aspekt reichlich egal ist, ihm geht es nicht um neue Freundschaften, zudem ist er vermutlich einiges älter. Der Kurs dient bloß als offizielle Rechtfertigung für das Sabbatical, und wenn er dabei ein paar nützliche Sachen für den Unterricht lernt, tant mieux. Bis jetzt ist es allerdings mäßig spannend.

In der zweiten Hälfte des Vormittags hat jeder sein Projekt kurz vorgestellt, als Leistungsnachweis für das Kursdiplom wird eine selbständige Recherche zu einem lokalen Thema mit Präsentation in der Klasse verlangt. Einige haben sich bereits bei der Vorstellung ihres Vorhabens in Details verloren, das lässt Schlimmes für die Schlusspräsentation ahnen. Er selber hat auch ein bisschen ausholen müssen. Seit er vor Jahren in der Bre­tag­ne die ersten Bunkerruinen des ehemaligen Atlan­tik­walls entdeckte, habe er den Wunsch, mehr über das gigantische Küstenbefestigungsprojekt der Deutschen aus dem Zweiten Weltkrieg zu erfahren. Überall in den Dünen hier gebe es die Überreste der Bunker, die nun ma­lerisch im Sand versinken. Der Bau der Befestigungsanlagen sei auch der Grund für die katastrophalen Zerstörungen der französischen Küstenstädte durch die alliierten Bomber gewesen. Er wolle deshalb mehr über die Jahre der deutschen Besatzung und die Befreiungskämpfe hier in der Region wissen.

Mit Genugtuung bemerkte er, wie die Kursleiterin hellhörig wurde. Kein Wort selbstverständlich, dass der Atlantikwall nur als Vorwand dient. So kann er die Recherche gleich mit seiner Familiensuche verbinden. Sein Blick in die Runde ist am Schluss bei der Kursleiterin Françoise hängengeblieben, sie würde er gerne beeindrucken. Ein anspruchsvolles Thema, sie hat ihm aner­kennend zugenickt, gerne gebe sie ihm Tipps für Quellenmaterial, sie habe selber ausführlich dazu recherchiert. Sie lächelt. Nur für ihn. Seine Hände sind augenblicklich kaltfeucht, ein Wunder, dass er nicht stottert, und ein Glück, dass die zu langen Haare die glühenden Ohren verdecken.

JP konnte die Augen kaum von ihr lassen, die Frau ist einfach umwerfend. Ein nonchalanter Kleidungsstil, diese natürliche Eleganz der Französinnen sieht aus wie nicht beabsichtigt. Schmale Hose, kann sie mit ihrer Figur tragen, anschmiegende Bluse, man ahnt, was man sich vorstellen will. Für den Inhalt ihrer Ausführungen, es ging um Internetterminologie oder ähnliches, war er weniger empfänglich.

Ist sie eine schöne Frau? Nach gängigem Schönheitsideal eher nicht, aber ihr Gesicht ist lebhaft, dunkle volle Haare, trägt sie schlicht nackenlang, mit zufälligen (oder raffiniert platzierten?) grauen Mêches durchzogen. Welch erregender Kontrast zu ihren hellen Augen. Farbe unde­finierbar, vielleicht meerfarben, ja, alle Farbtöne des Wassers. Am meisten beeindruckt ihn ihre Sprechweise, ­geschliffene Formulierungen, druckreif, natürlich zu erwarten bei einer Französischlehrerin, trotzdem, er ist hingerissen. Ihr Alter fünfzig, fünfundfünfzig allerhöchs­tens, er ist schlecht im Schätzen

Aber er hat weder Lust auf Abenteuer noch auf Komplikationen. Vergiss nicht, warum du hier in Royan bist. Du hast nur wenige Wochen, die Zeit ist zu kostbar für Frauengeschichten.

Ungeheuer mutig ist es doch, nach bald zwanzigjähriger Ehe erstmals für fast drei Monate, elf Wochen, um es ganz genau zu nehmen, wieder allein zu leben, in ei­ner fremden Stadt und ohne vertrauten Arbeitsrhythmus. Immer mulmiger wurde ihm zumute in den letzten Monaten, als der Wunschtraum des Wegfahrens, das Wort Flucht war auch in Gedanken tabu, Schritt für Schritt Wirklichkeit wurde.

Und nun liegt der erste bedrohlich leere Nachmittag allein in einer fremden Stadt vor ihm. Vorsorglich hat er eine lückenlose Beschäftigung programmiert. Mit Listen, nach Prioritäten geordnet, bewältigt er zu Hause seinen Alltag, sie entfalten bestimmt auch hier ihre Wirkung:

Meer

nächstgelegene Bäckerei

Markthalle Öffnungszeiten

Maison de la Presse, deutsche Zeitungen?

Internetcafé

Das Internetcafé braucht er, weil es in der Ferienwohnung wie erwartet keinen Internetanschluss gibt und Internet für seine Recherchen unerlässlich ist. JP weiß seit dem Osterbesuch bei der Mutter, dass seine Herkunft mit großer Wahrscheinlichkeit hier in der Gegend liegt, seither ist er hochgradig beunruhigt. Hat er Royan wirklich nichts ahnend für seinen Weiterbildungsurlaub gewählt – alles war längst organisiert, als er an Ostern davon erfuhr –, oder lenkte eine Vorsehung perfide die Entscheidung? Wer zieht die Fäden, Schicksal oder Zufall?

JP ist sehr wohl bewusst, wie wahnwitzig die Idee ist, seine Familie zu suchen, ohne Fakten, ohne Geburtsdatum, ohne Namen. Er hat magere vier Anhaltspunkte: erstens ein Monogramm GQ, zweitens Herkunft Dépar­tement Charente, drittens vermutlich Bombardierungsopfer und viertens ein willkürliches Geburtsdatum, 31. März 1945. Mehr nicht. Aber die Hoffnung, dass es möglich wäre, sitzt als bohrender Stachel in seinem Kopf. Es gibt eine Nanowahrscheinlichkeit, er muss die bloß ­finden. Selbstverständlich hat er niemandem davon erzählt, die pragmatische Annet hätte es ohnehin nicht verstanden, seinen Plan bestimmt als hirnrissig und ihn als Fantasten bezeichnet. Sie hat nicht ganz unrecht. Wie immer. Seit er hier vor Ort ist, mehren sich die Zweifel, seine Familiensuche ist tatsächlich spinnert, zu Hause aus der Ferne schien alles machbar.

JP sucht immer noch das Meer. Er dreht den Stadtplan in Blickrichtung, das Meer muss sich links gleich hinter dem Pinienpark befinden. Er durchquert ihn, ein Rummelplatz mit einigen Schatten spendenden Bäumen, alle Schaubuden noch gnädig geschlossen. Eine luftig leichte Frühsommerstimmung liegt in den Gesichtern der Spaziergänger, keiner hat es eilig. Der Schweizer kontrolliert kurz die Uhr, von seiner Wohnung bis ans Meer braucht er knappe zehn Minuten, perfekt.

Hinter dem kleinen Pinienpark entdeckt er aber erst eine gigantische Sandfläche. Noch nie hat er dergleichen in einer Stadt gesehen, sie wird von einer bestimmt fünfhundert Meter langen Steinarena begrenzt, die von der Promenade auf der ganzen Länge in drei einladend breiten Stufen, auf die man sich gemütlich hinsetzen kann, zum Sand hinunter führt. Die Sonne scheint durch diffusen Dunst, das ist es, was das Licht so unerträglich macht, ohne Sonnenbrille. Auf den Stufen, im Sand, überall sitzen oder stehen Leute, Kinder tollen herum, Hunde bringen wedelnd Holzstücke zurück, die keiner will. Er setzt sich auf die mittlere Stufe, lehnt zurück, schließt die Augen. Da ist es wieder. Das aufregend Freie. Neuanfang ohne jegliche Last. Warm. Weit. Alle Poren öffnen sich. Alles auf Empfang. Endlich leben.

Keine Sorge, er sonnt sich einfach ein bisschen, alles unter Kontrolle. Vergängliche Sekunden von Leichtigkeit, ein Versprechen von Sorglosigkeit und Ruhe, niemand hat Ansprüche an ihn. Aber es ist nicht zu verhindern, dass Annet sich vor seine Augen drängt, schnell, bevor ihm zu wohl wird. Schwieriges Kapitel, die Beziehung zu Annet. Der Abschied von seiner Frau war merkwürdig, er ist nach wie vor ratlos, nicht gekränkt, vielleicht aber doch.

In den Tagen vor der Abreise lähmte ihn die Erwartung, die mit dem Unausgesprochenen wuchs, die karge Verabschiedung am Montagmorgen im Auto vor dem Bahnhof, sie hat ihn sogar nach Olten gefahren, eine verlegene Umarmung und der Versuch eines ehelichen Kusses. Was gab es noch zu sagen, nirgendwo lagen brauchba­re Wörter herum. Sie vermieden beide eine Abmachung, wie häufig sie miteinander in Kontakt bleiben wollten. Alles blieb ungesagt dumpf. Sie hat ihn nicht auf den Bahnsteig begleitet, in Eile und bereits verspätet für ihren ersten Termin. Kein kindisches Winken, das versteht sich; als er wider besseres Wissen doch zurückblickte, war ihr Auto verschwunden. Ja, er ist gekränkt.

Die Sonne verbrennt soeben den letzten Dunst und blendet nun erbarmungslos, er zieht die Sonnenbrille hervor, ein Tourist, tant pis. Keiner schaut ihn an, keiner nimmt es ihm übel, keinen interessierts. Vielleicht nimmt er sich ein bisschen zu wichtig.

Er steht auf, streckt sich mühsam, seit neuestem diese Steifheit in allen Gliedern. Dabei bräuchte er nicht weit zu suchen, reine Folge seiner faulen Unsportlichkeit. Soll er nach rechts oder links, dort beginnt der Strand. In weiter Ferne, offensichtlich herrscht Ebbe, sieht er es endlich, eine graubraune Fläche, das Meer ist zu seiner Verwunderung alles andere als blau. Welche Enttäuschung, JP wendet sich ab. Er will später an den Strand gehen. Wenn die Flut steigt.

Rechts erblickt er den berühmten Front de Mer. Die Gebäude wirken auch nach fünfzig Jahren sehr modern, er nähert sich über die Promenade, eine gedeckte Pas­sage führt der ganzen Länge entlang, überall mit Geschäften, Touristenfallen und billigen Snacks verbaut. Er schlendert in dem engen Markt von Geruch zu Duft und umgekehrt, Frittiertes, Waffeln, Räucherstäbchen, Meeresfrüchte, wieder Fast Food, das Getümmel in der Sommersaison will er sich lieber nicht ausmalen. Es wäre an der Zeit, die Liste hervorzuholen, es gibt noch einiges abzuarbeiten.

Das Telefon in der Hosentasche piepst kurz, SMS von Nadine, französischtest sosolala. wann kommst du zurück.

Er ist augenblicklich empört, was soll das. Jahrelan­ge Vatererfahrung ermöglicht ihm, sosolala sofort mit ungenügend zu übersetzen. Es ist hart, eigentlich kaum zu ertragen, dass die Tochter des Französischlehrers ei­ne Niete in Französisch ist. Er starrt auf das Telefon in seiner Hand, der Ärger verdrängt augenblicklich die Gedanken, die tausend Kilometer zwischen ihnen nützen nichts. Das Gymnasium ist eine permanente Streitquelle zwischen Vater und Tochter, sein langjähriger Arbeitsort und für ein paar Jahre die Schule von Nadine. Vielleicht, sie schlingert ständig knapp an der Grenze zur Nichtbeförderung in die nächste Klasse. Am meisten wurmt JP das heuchlerische Verständnis der Lehrerkollegen.

Tief durchatmen, ruhig bleiben, Urlaub ist auch Waf­fenruhe, kein Kommentar zum Französischtest. Er tippt ungelenk, bleibe 3 monate, das weißt du doch! du kommst mit mama mitte juli hier nach r, sommerferien.

Ihre Antwort kommt postwendend: r??

Ruhig bleiben, aufregen lohnt sich nicht, die Tochter hört immer erst zu, wenn ihr die Folgen nicht passen. royan, westküste frankreich, antwortet er kurz.

Diesmal dauert es einige Minuten mit ihrer Antwort: weiß noch nicht ob ich mitkomme.

Jetzt ist er stocksauer, die Ferienpläne haben sie ausführlich diskutiert und familiendemokratisch festgelegt. Er schaltet das Telefon aus.

Und jetzt wohin? Das kurze Intermezzo mit der Tochter hat ihm die Stimmung zerstört, die häuslichen Spannungen sprühen Funken in seinen Gedanken. Der stehengebliebene JP ist ein Hindernis im Passantenstrom und wird ständig angerempelt. Schon wieder schubst ihn jemand, zieht ihn am Arm. Lachend steht Gracia hinter ihm, die Kollegin aus Valencia, neben ihr hat er heute Morgen im Kurs gesessen, sie ist die temperamentvollste der kleinen Gruppe. Er strahlt, welch reizender Zufall, er ist hocherfreut über die Ablenkung. Sie setzen sich in ein Café an der frischen Luft zwischen den beiden Gebäudehälften des Front de Mer.

Was sie davon halte? Er macht eine ausholende Geste, die alles um sie herum einschließt, natürlich sprechen sie Französisch. Aufregend, Gracia ist beeindruckt von der riesigen Anlage, ihre Begeisterung erstaunt ihn, ihm kommt typisch schweizerisch nur Kritik in den Sinn. Er blättert in ihrem Führer und findet tatsächlich alte Fotos des Front de Mer kurz nach der Fertigstellung Ende der Fünfzigerjahre, damals eine elegante offene Galerienpromenade. Und heute alle Arkaden verschandelt mit Vorbauten und billigem Touristenkommerz.

Gracia sieht ihn verständnislos an, das Gewimmel störe sie nicht, im Gegenteil, alles wunderbar. Zu gern lässt er sich von ihrem Enthusiasmus anstecken. Man plaudert über die jeweiligen Unterkünfte. Gracia mietet ein Zimmer bei einem älteren, charmanten Ehepaar, ganz in der Nähe, ein ruhiges Quartier hinter der Kirche, mit Frühstück und wenn sie wolle, pension complète, aber zwei warme Mahlzeiten am Tag schaffe sie nicht, wieder lacht sie hell, sie wäre noch vor Ende des Kurses kugelrund.

Ein leichter Wind vom Meer schiebt regelmäßig Wolken vor die Sonne, wenn sie sich zeigt, brennt sie sofort, die Sonnenbrille ist in Gegenwart von Gracia angebracht, bei der Spanierin ist sie ohnehin fester Körperbestandteil, wenn nicht auf der Nase, dann im Haar. Gracia wedelt sich mit der Getränkekarte Luft über die erhitzten Wangen, bei uns haben sie angekündigt, dass 2003 ein Jahrhundertsommer werde. Selbst sie als Spanierin stöhnt, jetzt schon Hochsommerhitze, wie wird das bloß im Juli. Er hat seinen Stuhl längst unter den Sonnenschirm gezogen, keine Chance, mit der Südländerin in der brütenden Sonne mitzuhalten.

Seine schlechte Laune ist weggeblasen. Die Aufmerksamkeit eines attraktiven weiblichen Wesens genügt, und es liegt Übermut in der Luft. Man tratscht über dies und jenes, die Kollegen im Kurs, Lehrererlebnisse von zu Hause, und meint ganz anderes. Er fragt sich, wie lange das Kaffeetrinken schicklicherweise dauern darf. Ihr auf keinen Fall lästig werden. Verstohlen blickt er auf die Uhr, beinahe vier Uhr, der halbe Nachmittag wäre geschafft. Er zögert den Aufbruch hinaus, der Tag ist noch lang, es drohen einige leere Stunden.

Irgendwann kommt der unvermeidliche Moment, Gra­cia hat Besorgungen zu erledigen, er hat ebenfalls noch einiges auf der Liste, zum Beispiel Internetcafé. Ach, es eilt ja nicht mit seinen Recherchen. Gerade ist das Leben licht und heiter. Sie stehen auf, Küsschen auf die Wange links rechts, zwei oder drei oder vier, das ist offensichtlich landesspezifisch, ein kurzer Augenblick neckischer Verwirrung, bereits vertraut und leicht verlegen trennt man sich. Beschwingt schreitet er mit ausholenden Schritten über die Promenade Richtung Meer. Mannomann, seit Jahren nicht mehr so als Kerl gefühlt. Das erhoffte neue Leben beginnt.

Ein Uhr nachts, Fenster weit offen, ein kräftiger warmer Wind rauscht, Tauben gurren verschlafen in den Pinien, wieder dieses Knacken in der Zimmerdecke, woher bloß bei einem Betonbau aus den Fünfzigern. Geräusche voller Magie. Schwerelos, weit, alles ist leicht. Es wird gelingen. Nennt man einen solchen Zustand glücklich? Er weiß es nicht, seit Jahren nicht mehr gespürt.

Erst zwei Tage ist es her, seit er kurz vor Mitternacht, erschöpft von der zwölfstündigen Bahnfahrt, in Royan angekommen ist und erwartungsfreudig die Wohnungstür geöffnet hat, der Schlüssel lag wie vereinbart, und wie hätte es anders sein können, unter der Fußmatte. Die Unterkunft ist günstig, sie befindet sich in einem der typischen zweistöckigen Immeubles aus den Fünfzigern und sie hat ihm, dem ironischen Romantiker, auf Anhieb gefallen.

Die Wohnung könnte glatt als Mustereinrichtung für die Fünfzigerjahre in einem Museum stehen. Die Stube füllen ein Esstisch, wichtigstes Möbelstück in einer französischen Wohnung, und ein mächtig geschwungenes Buffet. In einer Ecke wartet ein Lehnstuhl mit Spitzendeckchen dort, wo der Kopf mit schuppigem Haar an­zulehnen pflegt, ausgerichtet auf den Servierwagen mit dem Fernseher drauf, er zweifelt, ob das Ungetüm bereits Farben kennt. Ein abgewetztes Perserimitat deckt schonend das hübsche alte Parkett aus schmalen Eichenbrettchen. Die Tapeten mit ihrem geometrischen Design in Braunorange und Grün sind vermutlich in den frühen Siebzigern zum letzten Mal erneuert worden.

Sorgfältig über die Wohnung verteilt hängen Kunstdrucke, Monets Seerosenteich, van Goghs Sonnenblumen, Rosenbilder, zwei düstere Stillleben und ein echtes Ölbild mit flammendem Sonnenuntergang hinter schwarzer Kirch­turmsilhouette und schwankenden Schiffsmas­ten davor. Ohne Zweifel Royan, gemalt von einem lokalen Hobbykünstler. Die kleinen Schlafzimmer vollgestopft je mit einem dunklen Eichenschrank voller rustikaler Schnitzereien, die sich an Bettstatt und Nachttischchen wiederholen. Zweifel haben ihn beim Anblick der soge­nannten französischen Betten beschlichen, je eins in je­dem Schlafzimmer und kaum breiter als eins dreißig, unvorstellbar, zu zweit darin zu schlafen.

Wie nicht anders zu erwarten, hat er dann auch miserabel geschlafen, die müden Sprungfedern im Bettrost gaben unter seinem Gewicht nach und ließen ihn in ei­ner tiefen Kuhle liegen, jede Spirale unter der dünnen Matratze drückte wahlweise in den Rücken oder in die Rippen. Aber er verfügt ja über Auswahl. Gestern Nacht hat er das zweite Bett getestet und sich, da leicht weniger gerädert heute Morgen, in diesem Zimmer häuslich eingerichtet. Er hat bis Mitte Juli Zeit, das Bettproblem zu lösen, dann kommen Frau und Tochter.

Mager, was er bisher unternommen hat. Heute Abend erstmals im Cybercafé, wie sich das Internetcafé hier nennt, erst vor kurzem eröffnet. Alles voll, er hat eine Ewigkeit auf einen freien Computer gewartet, dann hat er Glück angesichts der knappen Zeit, um Mitternacht schließen die das Café. Er will für die Resultate der Recherchen eigene Dateien anlegen, je eine Datei zu den vier Anhaltspunkten. Raus damit aus dem persönlichen Journal. Man weiß nie.

Blindgänger

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