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Royan, Freitag, 23. Mai 2003

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Eine griffige Definition von Heimat wäre jetzt hilfreich. Das Problem: diffuse Heimatlosigkeit. Der Mensch gewöhnt sich an alles, an Wohnorte, an Häuser, an Orte, selbst an andere Menschen. Winkt am Ende des Gewöhnens dann Heimat? Sind Kinder und Familie Heimat? Braucht das einer (wie er)? Er hat im Unterschied zu all den andern im Leben Herumstolpernden doch eine bequeme Entschuldigung für seine Verlorenheit. Wer seine Herkunft nicht kennt, hat auch keine Heimat.

Heute weiß er, warum die Tatsache seiner Adoption ihn so aus der Bahn geworfen hat, damals. Er war nicht mehr in den Zeitstrom der Generationen eingefügt, wurde brutal hinausgeworfen. Erst die Geburt von Nadine half ein bisschen. Damit steht er am Anfang einer Ge­nerationenkette, ein Adam. Seine Tochter führt sie fort, und für alle nach ihr wird es immer unbedeutender, dass hinter ihm, dem Gründer, nur Leere ist. Annet wirft ihm vor, er weiche immer aus, würde keine Verantwortung für sein Leben übernehmen. Unsinn. Wahr ist, dass das Nichts hinter ihm oft eine praktische Ausrede liefert, wenn die Dinge falsch laufen. Die Schuld der unbekannten Gene, manchmal ganz praktisch. Ein kleiner Vorteil sei ihm vergönnt.

Die irrationale Sehnsucht, eine Geschichte zu haben, schmerzt manchmal richtig körperlich, wie jetzt. Ein Brennen hinter dem Brustbein. Ja, ein Heimweh nach Fa­miliengeschichte. Aufgehoben sein in Geschichten, Anekdoten, über Generationen erzählt. Die Familiensagen der Martys gehen ihn nichts mehr an, nicht seine Vorfahren. Ist so verdammt wichtig, dass es seine Blutsverwandten sind. Alles, was sie taten, war notwendig und richtig, weil es zur Existenz seines Vaters und seiner Mut­ter geführt hat. Was die Voraussetzung für seine Zeugung und sein Leben war. Voilà. Von seinem Leben aus gesehen, ist die ganze Ahnenreihe nur dazu da, damit er gezeugt wurde. Er will wissen, welche Zufälle oder Schicksalsfügungen es brauchte, um seine Existenz zu ermöglichen. Wessen Gene seinen Körper so geformt haben, wie er ist.

Wie sah eine Frau, wie ein Mann aus, damit ein Kind wie er entstehen konnte: dunkle Haare (als Kleinkind blond), helle Augen, etwas zwischen blau und grün. An die Vererbungslehre müsste man sich erinnern, dominan­te und rezessive Merkmale, braune Augen dominieren blaue, schwarze Haare blonde. Haben aber zwei braun­äugige dunkelhaarige Elternteile beide ein rezessives blaues Auge und verstecktes Blondhaar, besteht ein Viertel Chance, dass das Kind helle Augen und Haare hat. Also gab es in seiner Ahnengalerie blonde, helläugige Vorfahren. Ist er das Viertelskind, hatten die Eltern braune Augen. Ist er aber ein Dreiviertels­kind, hatten Vater oder Mutter oder beide helle Augen. Alle Kombinationen sind möglich, er steht mit seiner lächerlichen Laiengene­tik wieder am Anfang.

Wie steht es mit Körperbau und Charakter: mittelgroß, eher feingliedriger Körperbau, lange, schmale Hän­de, eher unmusikalisch, unsportlich, unsicher, untüchtig im Leben, aber scharfer, manchmal zersetzender Intellekt und so weiter. Anzufügen wären noch die zerfleischenden Selbstzweifel. Was angeboren, was anerzogen – nicht zu beantworten.

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