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Das Haus hieß Rhiannon Hall nach einer alten walisischen Göttin, die eine weiße Stute besaß und selbst Pferdegestalt annehmen konnte. Das erklärte mir Onkel Harald, während wir aus dem Wagen stiegen.

Es war viel größer, als ich vermutet hatte, ein lang gestrecktes Gebäude aus grauem Naturstein, mit grauem Schieferdach, sieben Kaminen und einer Menge weiß gestrichener Fenster.

Der Rasen, der das Haus umgab, wirkte ungepflegt. Er war begrenzt von wild wuchernden Rhododendronbüschen und Hecken aus Lorbeer, Stechpalmen und schwarzgrünen Eiben. Abends, wenn ich aus dem Fenster schaute, musste ich oft zweimal hinsehen, um sicher zu sein, dass diese gespenstischen Schatten keine Monster waren. Auch die Kinder hatten es bei Einbruch der Dunkelheit immer eilig, die Vorhänge zuzuziehen, um »sie« auszusperren.

»Da draußen lauern sie«, sagte Rian manchmal; keiner konnte ihm ausreden, dass das Haus von jeder Menge schauriger Wesen umgeben war, sobald es finster wurde.

Jetzt, bei hellem Tageslicht, wirkte alles nur etwas vernachlässigt, so als wäre das Anwesen schon seit längerem unbewohnt. Doch während wir über den Trampelpfad gingen, der von der Auffahrt zur Gartenseite des Hauses führte, tat sich eine der Terrassentüren auf, und Tante Helen erschien auf der Schwelle.

Sie trug einen Kimono aus blauer Seide, der sie wie einen Schmetterling aussehen ließ. Neben ihr tauchte rechts und links je ein Kinderkopf auf. Zwei dunkle Augenpaare spähten mich aus sicherer Deckung hervor an.

»Hi!«, sagte ich, aber sie antworteten nicht.

»Entschuldige«, sprudelte Tante Helen hervor. Ihre Haare waren zerzaust und türmten sich wie ein Vogelnest abenteuerlich schief auf ihrem Kopf. »Ich bin nicht besuchsfein. Mein Kopf schmerzt mir heute so, ich habe gerade erst aus die Bett gekrochen.«

Sie blinzelte in die Helligkeit wie eine verirrte Eule. Wir umarmten uns. Sie roch ganz wie früher, als ich noch ein Kind war, nach Zitrone und italienischem Puder. Auch ihr Deutsch war genauso witzig wie damals. Sie und Onkel Harald hatten mehrere Jahre in Bonn gelebt, ehe sie in Tante Helens Heimat zurückkehrten; daher stammten Tante Helens Deutschkenntnisse.

Rian und Sally waren verschwunden. »Meinetwegen brauchst du nicht hier herumzuwandern«, sagte ich. Sie war wirklich sehr blass. Ihr zartes, dünnes Gesicht wirkte fast durchscheinend, die Augen lagen tief in den Höhlen und waren von einem Kranz feiner Fältchen umgeben. »Leg dich wieder hin. Soll ich Tee für dich kochen?«

»O nein!«, erwiderte sie entsetzt. »Harry zeigt dich jetzt dein Zimmer und du packst deine Rucksack aus. Du schaust auch nicht gerade sehr fit aus, Darling.«

»Sie hat das Fliegen nicht vertragen«, erklärte Onkel Harald, nahm sie um die Schultern und zog sie ins Haus. »Wo sind die Kinder hin?«

»Die haben sich versteckt, denke ich. Dabei sind sie so neugierig auf dir, Fanny.«

Nach einigem Sträuben ließ sich Tante Helen überreden, wieder ins Bett zu gehen. Barfuß tappte sie über die Steinfliesen der Halle und flatterte in ihrem blauen Kimono die Treppe hinauf, während Onkel Harald und ich mit meinem Rucksack folgten.

Allein der Hausflur und der breite Treppenaufgang waren ungefähr so geräumig wie ein normales Einfamilienhaus, voll gestellt mit dunklen Möbeln. Überall hingen Spiegel und Wandteppiche und Bilder, Porträts irgendwelcher Leute, die ich ziemlich finster und hässlich fand. Ein Geruch von Staub und Moder und Mäusedreck hing in der Luft.

Während wir nach oben gingen, wurde ich das Gefühl nicht los, aus jedem Winkel und hinter jedem Schrank hervor von Kinderaugen beobachtet zu werden. Wahrscheinlich hielten sich Rian und Sally irgendwo verborgen und musterten mich, wie ich an der Seite ihres Vaters über die Galerie ging, von der man in die Halle hinuntersah, und weiter durch verwinkelte Gänge, über Stufen, Zwischengeschosse und um dunkle Ecken herum. Tante Helen war längst hinter einer der vielen Türen verschwunden.

»Wie viele arme Teufel haben sich hier schon verirrt und sind irgendwo in einem Winkel verschmachtet?«, fragte ich.

Onkel Harald lachte laut. »Man gewöhnt sich daran«, sagte er. »Aber du könntest anfangs Reis oder Brotkrumen streuen, bis du den Weg nach unten kennst.«

Das Zimmer, das ich während der kommenden Wochen bewohnen sollte, wirkte jedenfalls sehr hell und gemütlich, trotz des dumpfen Geruchs, der auch hier in der Luft hing.

Es war ungefähr fünfmal so groß wie mein Zimmer zu Hause. In einer Nische stand das Bett, ein Himmelbett mit gedrechselten Säulen und einer Art Baldachin aus durchsichtigem weißen Stoff. Es gab einen Schreibtisch mit vielen Schubladen, ein Sofa, zwei geblümte Polstersessel und einen offenen Kamin. Die helle Tapete mit dem Muster aus Heckenrosenblüten gefiel mir; das Muster wiederholte sich in den Vorhängen, die in üppigen Falten bis zum Boden reichten. Mein Zimmer hatte drei hohe Fenster. Vor dem mittleren stand ein Bambustisch mit einer Vase voller Wiesenblumen.

»Schön«, sagte ich, während Onkel Harald meinen Rucksack abstellte.

Er nickte flüchtig, ehe er sich zur Tür wandte. »Das Bad ist am Ende dieses Flurs«, sagte er noch. »Du teilst es mit den Kindern. In ungefähr einer halben Stunde gibt’s Essen. Mrs Potter hat Eintopf vorbereitet, glaube ich. Käse müsste auch noch im Kühlschrank sein.«

»Und wie finde ich das Speisezimmer?« Ich nahm an, dass in einem Haus wie diesem immer im Speisezimmer gegessen wurde, doch er erwiderte: »Wir essen in der Küche, wenn nicht gerade Gäste da sind. Sally wird dich abholen, damit du dich nicht verirrst.«

Als er verschwunden war, ging ich durchs Zimmer und schob eines der Fenster hoch. Sofort strömte wunderbar frische, prickelnde Luft herein, die nach feuchtem Laub und Seetang roch; und als ich den Kopf aus dem Fenster streckte, sah ich, dass jenseits des Gartens, hinter den Rhododendronhainen und einem Eichenwäldchen, das Meer war, eine steil abfallende Küste mit zerklüfteten Klippen und sandigen Buchten, die das Wasser aus den Felsen gespült hatte.

Das Rauschen und Tosen der Wellen war von hier kaum zu hören. Seevögel kreisten am Himmel, getragen vom Wind. Als ich mich weiter über den Fenstersims beugte und den Kopf nach rechts drehte, bemerkte ich in der Ferne, am Ende des Küstenstreifens, einen Felsen. Er ragte wie ein Turm aus dem Meer, gekrönt von den Mauerresten einer alten Burg.

Ich erkannte sie auf den ersten Blick. Obwohl ich nie zuvor an Cornwalls Küste gewesen war, hatte ich die graue Festung über dem Atlantik schon viele Male gesehen. Es war die Burg aus meinem Traum.

Die Frau am Meer

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