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Sally stand wie ein scheuer Waldgeist vor meiner Tür, mit wirren dunklen Haaren und Koboldaugen in dem herzförmigen Gesicht. Ihre Haut war gebräunt; nur die Spitze ihrer Nase leuchtete weiß vor Aufregung. Erst später erfuhr ich, dass sie den Kosenamen »Pooka« hatte, ein keltisches Wort für Waldgeist.

»Hallo, Sally«, sagte ich. »Schön, dass du mich holen kommst.« Ich redete Englisch mit ihr. Englisch war immer schon mein Lieblingsfach gewesen. Ich hatte es spielend leicht gelernt, leichter als deutsche Grammatik. »Ohne dich würde ich mich wahrscheinlich hoffnungslos verirren und ihr würdet meine Gebeine eines Tages in irgendeinem Winkel finden.«

Sie lachte nicht und ich kam mir dumm vor. »Erinnerst du dich an mich?«, fragte ich, während ich die Tür hinter mir zuzog.

Sie nickte stumm. Dann fiel mir nichts mehr ein. Schweigend trabten wir nebeneinander her, durch Gänge und dämmrige Seitenflure, über Podeste und dazwischen immer wieder drei oder vier Stufen abwärts, bis ich ganz wirr im Kopf war.

»Hast du dich hier schon mal verlaufen?«, fragte ich, als wir die Galerie mit den finsteren Ahnen erreichten.

Sie schüttelte den Kopf.

»Du müsstest jetzt elf sein, nicht? Lass mich mal nachrechnen. Als ihr uns besucht habt, warst du ungefähr drei …«

Sie sah mich kurz von unten herauf an. Dann erwiderte sie mit heller, ein wenig rauer Stimme: »Zehneinhalb.«

Die Küche war am anderen Ende des Hauses. Meiner Schätzung nach brauchte ich von meinem Zimmer aus fast zehn Minuten, um sie zu erreichen. Sie war schön, eine geräumige, gemütliche Küche wie in alter Zeit, mit dunklen Deckenbalken, einer Glastür, die in den Garten führte, einem langen, glänzenden Eichentisch mit zehn steiflehnigen Stühlen drumherum und einem gewaltigen offenen Kamin.

Onkel Harald stand am Herd, einen Kochlöffel in der Hand. Rian kauerte auf einem Stuhl und verteilte das Besteck.

»Helen isst nicht mit«, sagte mein Onkel. Er hob den Topfdeckel und ließ ihn sofort wieder fallen. »Verdammt, ist das heiß! Wo ist der Topflappen hingekommen? Sie schläft jetzt. Ich hoffe, es geht ihr bald wieder besser. Diese Migräneanfälle können bei ihr bis zu drei Tage dauern. Übermorgen müssen wir schließlich los.«

Ich erschrak, als mir bewusst wurde, dass ich bereits in zwei Tagen mit den Kindern allein in diesem riesigen Haus Zurückbleiben würde. Zwar war da noch Mrs Potter, die offenbar fast täglich vorbeikam, um sauber zu machen und zu kochen, aber hatte mein Vater nicht gesagt, sie wäre etwas wunderlich?

»Setz dich doch«, sagte Onkel Harald. »Rian, reich mir Fannys Teller, bitte.«

Die Kinder nahmen rechts und links von ihrem Vater Platz, mir gegenüber. Während ich den Bohneneintopf löffelte, beäugten sie mich verstohlen. Der Eintopf schmeckte gut; nur die Hammelfleischstücke schob ich an den Tellerrand.

»Isst du kein Fleisch?«, fragte mein Onkel. Er redete jetzt Englisch mit mir, wohl, damit die Kinder unserer Unterhaltung folgen konnten.

Ich erklärte in einem etwas holprigen Satz, dass ich Tiere liebte und mich deshalb nicht von ihrem Fleisch ernähren wollte. »Ich esse meine Freunde nicht«, sagte ich.

Sally und Rian starrten mich an. »Aha. Du scheinst eine junge Frau mit Prinzipien zu sein.« Onkel Harald schmunzelte.

Dann fragte ich nach der Burg. Eigentlich hatte ich während der vergangenen halben Stunde an nichts anderes gedacht und konnte es kaum erwarten, so viel wie möglich über sie zu erfahren.

»Penruan meinst du? Ja, man sieht das alte Gemäuer von hier aus, wenn das Wetter klar ist. Manche behaupten, König Arthus wäre dort geboren worden, aber ich glaube nicht, dass es stimmt. Es ist eine normannische Festung aus dem zwölften Jahrhundert, also nicht alt genug, um zur Arthus-Legende zu passen.«

»Vielleicht steht die Burg ja auf den Überresten einer anderen, älteren Festung«, sagte ich.

Onkel Harald warf mir einen überraschten Blick zu. »Das könnte natürlich sein. Aber ich denke, die Archäologen hätten das sicher längst herausgefunden. Man hat nur die Reste eines keltischen Klosters ganz in der Nähe entdeckt, auf einer kleinen Insel; dort soll auch eine Burg gestanden haben. Das sind die ältesten Funde.«

»Da oben wohnen die alten Geister«, sagte Rian unerwartet. Es war das erste Mal, dass ich ihn reden hörte, wenn man von dem Gequengel und Geschrei absah, mit dem er mich als Baby genervt hatte.

Unsere Blicke trafen sich. In seinen großen moorbraunen Augen stand ein unkindlicher Ernst. Es war, als wüsste er etwas, ein Geheimnis, das mir noch verborgen war.

»Unsinn!« Onkel Harald runzelte die Stirn. »Hör auf mit deinen ewigen Gespenstergeschichten, Junge! Du weißt, ich will das nicht hören. Du steigerst dich da in etwas hinein, was nicht gut für dich ist.«

Rians Gesicht verschloss sich. Er gab keine Antwort.

Sein Vater fügte hinzu: »Penruan ist ein merkwürdiger Ort. Ich habe mich oft gefragt, was das für Menschen gewesen sein mögen, die dort gelebt haben, so hoch über dem Meer, den wildesten Stürmen preisgegeben, abgeschnitten von der übrigen Welt. Wenn sie unter Leute wollten, mussten sie diese steilen, schlüpfrigen Stufen hinunterklettern, und das war vor allem bei Sturm oder im Winter, wenn die Felsen vereist waren, eine gefährliche Sache. Ich denke sowieso, dass sie in den Wintermonaten die Burg kaum verlassen konnten.«

»Aber das Essen?«, fragte Sally. »Wie haben sie das da hochtransportiert? Haben sie’s über die steile Treppe geschleppt?«

»Sie hatten wohl so etwas wie Seilwinden«, meinte Onkel Harald. »Sicher haben sie alles irgendwie hochgezogen. Sie mussten ja auch Holz für die Kamine in die Burg bringen und Futter für die Hühner und Schweine, die sie bestimmt gehalten haben; vielleicht sogar Kühe.«

»Kühe? Wie haben sie die denn raufbekommen?«, fragte Rian.

Sein Vater lächelte. »Das ist eine gute Frage. Vielleicht auch mit der Seilwinde, so wie sie das manchmal auf Schiffen machen.«

»Sie müssen furchtbar einsam gewesen sein da oben«, murmelte Sally nachdenklich. »Sicher waren sie traurig.«

Onkel Harald erhob sich, um Teewasser aufzusetzen. »Habt ihr uns mal Fotos von Penruan gezeigt, als ihr bei uns zu Besuch wart?«, fragte ich.

Er drehte sich zu mir um. »Fotos von der Burg? Das glaube ich nicht. Helen interessiert sich nicht fürs Fotografieren und ich benutze meine Kamera nur beruflich. Nein, sicher nicht. Wieso fragst du?«

»Die Burg kommt mir so bekannt vor«, murmelte ich. »Vielleicht habt ihr uns damals ja einen Bildband von Cornwall gezeigt.«

»Nicht dass ich wüsste. Aber Penruan ist ein beliebtes Motiv, weil es so romantisch und malerisch ist. In Reiseführern stößt man immer wieder auf Fotos von der Burg. Hättest du lieber Kaffee als Tee?«

Rian beobachtete mich unter seinen langen Wimpern hervor. »Tee, danke«, sagte ich.

Später führten sie mich durchs Haus. Es war wie ein Gang durch ein Museum, ebenso weitläufig und verwirrend und voll mit alten Sachen. Sally versprach, einen Plan für mich zu zeichnen, damit ich es leichter hatte, mich zurechtzufinden. Sie taute zusehends auf, während Rian sich noch immer abseits hielt, misstrauisch wie eine kleine Wildkatze.

Wir beendeten unseren Rundgang im Wohnzimmer. Die Kinder setzten sich vor den Fernseher und Onkel Harald gab mir zwei Briefumschläge. In dem einen, sagte er, wäre mein »Gehalt«, im anderen ein Geldbetrag für alles, was wir so nebenher brauchten – für Busfahrten, Eis, Süßigkeiten und Ausflüge mit dem Schiff.

»Mrs Potter besorgt die Lebensmittel, darum brauchst du dich nicht zu kümmern«, erklärte er mir. Dann bekam ich noch einen Zettel, auf dem alle wichtigen Telefonnummern und Adressen standen, ganz oben die Nummern der Hotels, in denen er und Tante Helen wohnen würden, und des Senders, für den Onkel Harald arbeitete.

»Da kannst du jederzeit eine Nachricht für mich hinterlassen«, sagte er. »Ich werde sofort verständigt, wenn du mich brauchst. Und das ist die Nummer unseres Hausarztes. Er wohnt im Hafenort Penbury, nur ein paar Meilen von hier.«

»Wie kommen wir nach Penbury?«, fragte ich.

»Es gibt einen Bus, der dreimal täglich verkehrt, nicht weit von Rhiannon an der Hauptstraße. Die Kinder zeigen es dir. Und Mrs Potter kann euch mitnehmen, wenn sie nachmittags nach Hause fährt.«

Aus dem Fernseher erklangen spitze Schreie. Das Gesicht eines zähnefletschenden Vampirs erschien in Großaufnahme. Blut troff aus seinen Mundwinkeln.

Sally lachte, Rian aber kauerte auf dem Teppich und starrte wie gebannt auf den Bildschirm.

Mit ein paar Schritten war Onkel Harald beim Apparat und schaltete ihn aus. »Ich will nicht, dass ihr euch solchen Schrott anseht, das wisst ihr genau!«, sagte er verärgert. »Kein Wunder, wenn ihr nachts Albträume habt. Fanny, bitte sorg dafür, dass die beiden in unserer Abwesenheit nicht ständig vor der Glotze sitzen. Solche Filme sind absolut tabu für sie. Habt ihr gehört, ihr zwei? Fanny hat Anweisung von mir, euch zu verbieten, dass ihr euch derartige Sendungen anseht. Kapiert?«

Sally nickte, Rian aber machte ein verstocktes Gesicht und tat, als hätte er nichts gehört. Ich wusste, er würde sich von mir nichts sagen lassen, jedenfalls nicht in diesem Punkt.

Dann kam Tante Helen ins Wohnzimmer. Diesmal trug sie einen ausgebeulten Trainingsanzug. Sie nickte mir nervös zu und sagte: »Harry, ich kann meinen Pass nicht finden!«

»Hast du in der linken oberen Schreibtischschublade nachgesehen?«

»Sicher, und dort hätte er auch sein müssen, aber da ist er nicht.«

Die beiden verschwanden. »Hast du ihn versteckt?«, fragte Sally im Flüsterton, sobald ihre Eltern die Tür hinter sich geschlossen hatten.

»Hab ich nicht«, erwiderte Rian. »Sie sollen nur fahren, ist mir doch egal!«

Ich sah ihn an und er starrte zurück. »Wenn du ihn versteckt hast, sag’s«, forderte ich ihn auf und kam mir wie meine eigene Großmutter vor. »Oder findest du es fair, dass die beiden jetzt das ganze Haus absuchen müssen?«

Er gab keine Antwort. Das war seine Art von Widerstand, er blieb einfach stumm. Ich kannte das von meinem Bruder Tobias.

»Hast du ihn oder hast du ihn nicht?« Sally plusterte die Backen auf. »Sag die Wahrheit oder ich sperre mein Zimmer ab und mach nachts nicht auf, auch wenn du kommst und noch so vor Angst schlotterst und an meiner Tür rüttelst!«

Rian griff zur Fernbedienung und schaltete den Fernseher an. Der Vampir schwang sich gerade über eine Dachrinne und flatterte mit elegantem Schwung in ein offenes Fenster. Ehe er Zeit fand, sein nächstes Opfer in die Kehle zu beißen und ihm Blut abzuzapfen, ging ich hin und schaltete den Fernseher wieder aus.

Die Frau am Meer

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