Читать книгу Sturm über Ravensmoor - Ursula Isbel-Dotzler - Страница 5
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ОглавлениеIch kann nicht behaupten, dass ich gern in die neue Schule ging. Natürlich hatte ich Schwierigkeiten mit dem Unterrichtsstoff. In einigen Fächern, zum Beispiel in Geografie, war ich voraus. In anderen wieder hinkte ich hoffnungslos hinterdrein.
So beschränkten sich meine Kenntnisse in englischer Geschichte auf ein paar Figuren wie Heinrich den Achten, der zwei seiner Frauen hinrichten ließ, und seine berühmte Tochter Elizabeth. Von Königin Victoria wusste ich, dass sie mit Albert, einem deutschen Prinzen, verheiratet gewesen war, den sie abgöttisch geliebt hatte. Sie trug nach seinem Tod nur noch schwarze Kleider und war total pummelig, mit hervorstehenden Fischaugen und Hängebacken.
Mein Vater gab mir einen dicken Wälzer über die Geschichte Englands. Doch er war so knochentrocken und schnarchlangweilig geschrieben, dass ich es nicht schaffte, mich durchzubeißen. Schon nach den ersten beiden Kapiteln gab ich entnervt auf.
Zum Glück hatte Mr Wall, unser Geschichtslehrer, Mitleid mit mir. Er besorgte mir ein paar Videofilme, in denen die wichtigsten Ereignisse und historischen Gestalten witzig und spannend vorgestellt wurden.
Dafür sollte ich einen Vortrag über Hitler und die NSZeit in Deutschland halten. Natürlich hatten wir zu Hause in meiner alten Schule einiges darüber gelernt und auch Filme dazu gesehen. Als ich aber daranging, den Vortrag vorzubereiten, merkte ich, wie wenig ich wusste.
Mama half mir. Sie holte ein paar Geschichtsbücher aus ihrem Regal und setzte sich einen Nachmittag lang mit mir zusammen. Wir überlegten, wie ich den Vortrag aufbauen und abfassen sollte.
»Eigentlich schäme ich mich«, sagte ich zu ihr. »Paps ist zwar Engländer, aber ich bin doch zur Hälfte Deutsche. Die Deutschen haben englische Städte bombardiert und Leid und Elend über Millionen Menschen gebracht.«
»Dafür schäme ich mich auch«, erwiderte Mama ernst. »Obwohl ich nichts damit zu tun hatte, sondern die Generation meiner Eltern und Großeltern. Aber es geht gar nicht darum, sich für etwas schuldig zu fühlen oder zu schämen. Es geht darum, zu erkennen, was falsch gemacht wurde. Wir dürfen nicht die Augen vor dem verschließen, was passiert ist, damit es sich nicht wiederholen kann – weder in Deutschland noch sonst wo auf dieser Welt.«
Ich beschloss, genau das in meinem Vortrag zu sagen. Es lief auch ganz gut. Hinterher hatten wir eine Gesprächsrunde, bei der ein Junge sagte, er habe bisher ziemlich schlecht von den Deutschen gedacht. Jetzt sei ihm klar geworden, dass man die Verbrechen der Hitlerzeit nicht den jungen Deutschen zur Last legen dürfe.
»Aber es gibt doch noch immer eine rechtsradikale Szene in Deutschland!«, wandte ein Mädchen ein.
»Die gibt es bei uns auch«, sagte Mr Wall ruhig. »Rechtsradikale gibt es leider überall.«
In der Pause kam Keith zu mir, ein Junge, der bisher noch nie mit mir gesprochen hatte. Er sagte, sein Großvater sei bei der Royal Air Force gewesen.
»Er flog im Krieg bei den Angriffen auf deutsche Städte mit. Mein Granddad meint, wir Engländer hätten uns auch nicht gerade mit Ruhm bedeckt, als wir Dresden in Schutt und Asche legten und Brandbomben auf unschuldige Menschen abwarfen. Er fühlt sich deswegen heute noch schuldig, weißt du. Granddad hat auch Geld für den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche gespendet.«
Nach diesem Tag ging es mir irgendwie besser in der neuen Schule. Mein Bruder Niko hatte mehr Stress als ich. Für ihn gab es keine Kim, die neben ihm saß. Er war völlig fremd in seiner Klasse und musste erst Freunde finden. Im Schulbus war er immer mit Kim und mir zusammen. Keiner kümmerte sich um ihn oder rief ihm etwas zu, wenn wir ein- oder ausstiegen.
»Ich wünschte, ich könnte wieder nach Hause!«, sagte er jeden Tag mindestens einmal.
Auch ich hatte ab und zu Anfälle von Heimweh. Ein Teil von mir sehnte sich noch immer nach unserem kleinen Dorf mit den vertrauten Menschen, vor allem nach meiner Freundin Svenja.
Mama mahnte Niko zur Geduld. »›Gut Ding will Weile haben‹, hat eine von meinen Tanten immer gesagt. Plötzlich findest du einen Freund oder eine Freundin, dann löst sich der Knoten von allein.«
Doch ich merkte, dass sie sich Sorgen um ihn machte. Er war richtig schlecht drauf, hatte »voll die Krise«, wie er das selbst nannte. Dazu kam, dass ihm Niels fehlte, unser ältester Bruder, der Dritte im Bund. Dabei waren die beiden nicht gerade immer ein Herz und eine Seele gewesen. Seit Niels auf ein englisches College ging und nur noch manchmal übers Wochenende nach Cornwall kam, wurde ihm von der ganzen Familie ein Glorienschein verpasst.
Insgeheim hoffte ich darauf, dass er eines Tages mit seinem Rucksack vor der Tür stehen und sagen würde: Das passt mir alles nicht, es ist einfach zu eng für mich mit all den Typen, die ständig um mich herumschlappen.«
Denn das hatte Niels im Herbst angekündigt: dass er zurückkommen würde, falls es ihm auf dem College nicht gefiele.
Doch es schien ihm zu gefallen. Am vorletzten Novemberwochenende holte ihn Mama vom Bus ab. Er schwärmte den ganzen Abend lang von einem Professor, der Vorlesungen über die Geschichte und Glaubensvorstellungen der Kelten hielt.
»Keltenforscher, das wäre ein Beruf, der mich reizen könnte!«, sagte er.
Mama fragte ihn, wie er damit seinen Lebensunterhalt verdienen wolle. Ich saß neben Niels auf dem Sofa und war glücklich, dass ich wieder seine Stimme hörte, die vertrauten Bewegungen seiner Hände sah, seine Haare, die gewachsen waren und die er im Nacken mit einem Lederband zusammengefasst hatte. Am liebsten hätte ich ihn irgendwo festgebunden, damit er nie wieder von uns fortgehen konnte.
Schließlich erkundigte er sich, wie es Stevie Trelawny ging.
Seine Frage war eindeutig an mich gerichtet. Ich ärgerte mich, weil ich merkte, dass ich rot wurde.
»Ganz okay«, sagte ich möglichst cool. »Glaub ich wenigstens. Ich hab ihn ungefähr zwei Wochen lang nicht gesehen.«
Eigentlich wusste ich es genau. Es waren zwölf Tage, seit ich ihn mit Kim in seinem kleinen privaten Tierheim auf Little Eden besucht hatte. Jetzt im Winter war es schwierig hinzukommen.
Wir konnten die weite Strecke weder reiten noch mit dem Rad zurücklegen und eine direkte Busverbindung gab es nicht. Stevie telefonierte auch nur, wenn es unbedingt nötig war. Ich war nie sicher, ob er sich freute, wenn man ihn anrief.
»Ich dachte, ich fahre morgen mal bei ihm vorbei«, sagte Niels.
»Nimm eine Tüte Pellets für die Pferde mit.« Das kam von Mama. »Und Hafer. Der arme Junge weiß ja kaum, wie er alle seine Tiere ernähren soll. Ich wollte, er würde Geld von uns annehmen. Diese ständigen Ausgaben für das viele Futter und den Tierarzt … Wenn er sich nur mehr helfen lassen würde!«
»Er ist zu stolz«, sagte ich.
Ja, das war er, Stevie Trelawny von Little Eden. Ich kannte keinen, der so stolz war wie er. Und es gab auch keinen, den ich mehr bewunderte. Nicht nur weil er aussah wie ein moderner Robin Hood, sondern weil er sich so für Tiere einsetzte, die sonst keiner haben wollte. Weil er all die verletzten, kranken, alten, verstoßenen Vierbeiner, die zu ihm gebracht wurden, liebevoll aufpäppelte und versorgte und ihnen ein geschütztes Zuhause gab.
»Stevie ist ein wunderbarer Junge!« Mamas Stimme klang fast schwärmerisch.
Paps lachte und sagte: »Gut, dass er so jung ist, sonst würde ich eifersüchtig werden.« Und Mama lachte zurück.
»Ja, das müsstest du wohl, Erik.«
Niko zerrte an seiner Nase. »Insgeheim hast du dir natürlich immer einen Sohn wie Stevie gewünscht, gib’s zu«, murmelte er.
Obwohl er dabei grinste, hatte ich den Verdacht, dass er es nicht witzig meinte. Mama sah ihn an. »Ich bin ganz zufrieden mit dir und Niels. Meistens jedenfalls.«
»Lass deine Nase in Ruhe!«, mahnte Paps. Es kam fast schon automatisch, er sagte das täglich mindestens dreimal zu Niko.
»Mit meiner Nase kann ich machen, was ich will!«
Ich musste aufpassen, dass ich nicht lachte. Wenn es um seine Nase ging, war Niko empfindlich. Er nannte sie »das Knollengewächs« und hasste sie aus tiefstem Herzen.
Mama versprach Niels, dass er ihr Auto haben konnte, wenn er nach Little Eden fuhr. Sie hatte sich im Oktober einen gebrauchten Mini Cooper gekauft. Paps fuhr täglich mit unserem alten Volvo nach Exeter in die Uni, und wir wohnten so abgelegen, dass wir ohne ein Zweitauto nicht ausgekommen wären.
»Aber fahr vorsichtig!« Das war Paps. »Du hast den Führerschein erst seit Kurzem. Denk an Duncan Ravensmoor … «
»Ich brettere nicht wie ein Geistesgestörter durch die Gegend, das müsstest du eigentlich wissen.«
»Du kannst Niels echt nicht mit Kims Bruder vergleichen, diesem aufgeblasenen, tierquälerischen Wicht«, sagte ich.
»Vielleicht hat er sich durch den Unfall verändert.« Mama war aufgestanden. »Hilft mir einer die Pferde zu füttern?«
Niels sagte, er sei froh, mal etwas tun zu können, wobei man die Nase nicht in Bücher stecken musste. Ich folgte den beiden, weil ich jede Minute ausnützen wollte, die ich mit Niels zusammen sein konnte.
Der stämmige braune Kringle und Smilla, das helle Norwegerpony, standen im Gebüsch. Sie steckten die Köpfe zusammen und wendeten ihre prallen Hinterteile dem kalten Seewind zu.
Smillas weizenblonde Mähne flatterte steil nach oben. Mama rief nach ihnen, in diesem lockenden, zärtlichen Ton, der nur den Ponys galt. Sie kamen sofort und stürzten sich auf ihre Futtereimer, voran Kringle. Er war unglaublich verfressen und schlang immer alles in Rekordzeit in sich hinein, weil er hoffte, er könnte Smilla anschließend noch von ihrem Eimer verdrängen.
Über den Baumwipfeln, die sich jetzt kahl und schwarz gegen den Himmel abzeichneten, ragte der Eckturm von Ravensmoor auf. Dohlen und Krähen umkreisten ihn und ließen sich vom Wind tragen. Die Luft war erfüllt von ihrem Krächzen und ihrem harten Tschäk-Tschäk-Geschrei.
Ravensmoors Turm war der höchste Punkt weit und breit. Von dort oben konnte man den ganzen Küstenstrich bis hinunter nach Land’s End überschauen. Einst hatten auf dem Turm Wächter gestanden, um Burgherrn und Küstenbewohner vor dem Herannahen feindlicher Schiffe zu warnen.
Niels hob den Kopf. In das Schmatzen der Ponys und das Pfeifen des Windes mischte sich Hufgetrappel.
»Feindliche Indianer!«, murmelte er.
Ich musste lachen. Die Ponys hoben ihre Nasen aus den Eimern und wieherten. Von der anderen Seite der Hecke erklang Antwortgewieher, hell und durchdringend wie ein Trompetenstoß.
Hinter dem kahlen Gestrüpp wehte eine fuchsfarbene Mähne, verschwand und tauchte wieder auf. Ich wusste, dass es Flora war, noch ehe ich ihren schmalen, edlen Kopf sah.
Kim saß im Sattel, über den Hals ihrer Stute gebeugt wie eine Springreiterin. Einen Moment lang glaubte ich, sie würden über die Hecke hinwegsetzen, die mehr als mannshoch war, doch sie ritten weiter zur Auffahrt. Vielleicht hatte Kim uns nicht einmal bemerkt.
Während ich mich umwandte, um ihnen entgegenzulaufen, hörte ich Mama sagen: »Da ist irgendwas passiert, darauf wette ich.«
Ich erreichte die Garage, als Kim sich aus dem Sattel schwang. Ja, die Zeichen standen auf Sturm, denn ihre Augen waren fast schwarz. Ihre Füße in den Gummireitstiefeln berührten den Boden und sie stolperte.
»Was ist los?«, fragte ich.
Sie atmete stoßweise. Die Stute schnaubte angstvoll. Kims Hand zitterte, als sie ihr über die Flanke strich. »Meine Eltern haben beschlossen Flora zu verkaufen!«