Читать книгу Sturm über Ravensmoor - Ursula Isbel-Dotzler - Страница 8

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Ich war entschlossen, gleich am Morgen mit Mama zu reden, doch daraus wurde nichts. Sie und Paps mussten Granny bei Tagesanbruch nach Falmouth in die Notaufnahme des Krankenhauses bringen.

Granny klagte über furchtbare Bauchschmerzen. Paps wollte nicht allein fahren, denn er fürchtete, dass es Granny unterwegs noch schlechter gehen könnte. Sie war überzeugt davon, dass sie entweder eine schwere Gallenkolik oder eine Fischvergiftung hatte, weil sie am vergangenen Abend Fisch gegessen hatte.

Während Niko und ich den Frühstückstisch abdeckten, sagte Niels: »Du musst abwarten, Kathi. Es ist eben noch nicht der richtige Zeitpunkt. Geduld ist die Tugend des Indianers.«

Meine Tugend war es ganz bestimmt nicht. Niko hatte die Ohren gespitzt. »Der richtige Zeitpunkt für was?«, fragte er.

»Wofür«, verbesserte ich. »Das kann ich dir jetzt noch nicht sagen.«

»Kaum ist Niels mal wieder zu Hause, gluckt ihr schon wieder geheimniskrämerisch zusammen«, beschwerte sich Niko. Dann klingelte das Telefon. Es war Mama.

»Es ist nichts Schlimmes«, berichtete sie. »Granny hat nur eine leichte Darmgrippe. Sie sagen, wir können sie wieder mit nach Hause nehmen.« Ich hörte sie seufzen. »Das war mal wieder viel Lärm um nichts.«

Als wir die Ponys fütterten und tränkten, fragte mich Niels, ob ich mit nach Little Eden fahren wolle. Ich tat so, als müsste ich überlegen. Dabei konnte ich mir nichts Besseres vorstellen, als Stevie zu besuchen.

Wir füllten eine Schachtel mit Pferdepellets, wuchteten den Hafersack in den kleinen Kofferraum von Mamas Mini Cooper und packten Karotten für Stevies Reh in eine große Tüte.

»Wieso fragt mich keiner, ob ich mitkommen will?«, brummelte Niko.

Niels hörte ihn nicht, denn er war gerade in der Küche. Ich gab keine Antwort. Stevie mochte es nicht, wenn zu viele Gestalten auf einmal über ihn hereinbrachen, das wusste ich.

»Du kannst dich ausnahmsweise mal nützlich machen und dich um die Ponys kümmern«, sagte ich nur, während ich meine gefütterte Windjacke anzog. »Smilla braucht dringend Bewegung und Kringles Hufe müssten ausgekratzt werden. Hast du meine Handschuhe gesehen?«

Niko murmelte etwas Unverständliches. Dann versenkte er seine große Nase wieder in ein Comic-Heft.

Wir hatten Glück mit dem Wetter. Nach einer kalten, regnerischen Woche schien endlich wieder die Sonne. Mein Herz klopfte voll freudiger Erwartung, als wir Old Sailors’ Rest, den alten Seemannsfriedhof, in der Ferne auftauchen sahen. Still und verlassen träumte er auf einer Felsnase hoch über der See vor sich hin, umgeben von Mauern aus aufgeschichteten Steinen. Hier hatten zahllose ertrunkene Matrosen, die von den Wellen ans Ufer gespült worden waren, ihre letzte Ruhe gefunden.

In einer geschützten Mulde hinter dem Friedhof lag Stevies Reich. Little Eden wirkte wie eine kleine Insel, auf der eigene Gesetze herrschten, eine Zuflucht für kranke, ausgesetzte und verwahrloste Tiere, die bei Stevie ein liebevolles Zuhause gefunden hatten.

Das niedrige, weiß gekalkte Wohnhaus mit den vier Nebengebäuden duckte sich unter windzerzausten Bäumen. Wir hielten vor dem Gartentor. Eine der beiden Rabenkrähen, Dagobert oder Donald, schaukelte auf dem Schild mit der Aufschrift Little Eden.

Niels zog am Glockenstrang. Der scheppernde Ton lockte die Hunde herbei. Mit durchdringendem Gekläff kamen sie um die Hausecke gedüst – Grizzly, der wie ein Braunbär aussah, Puccini mit den verfilzten Dreadlocks und die Dalmatinerhündin Arabella.

Ich zog Hundekekse aus der Tasche meiner Windjacke und sah mich dabei nach Stevie um. Niels öffnete das Gartentor. Sofort war ich von Hunden umringt. Grizzly warf mich fast um, so gierig war er auf die Leckerlis. Von der kleinen Weide her hörte ich Cinnamons helles Gewieher. Die Schafe blökten.

Enttäuscht dachte ich: Stevie ist nicht da. Wir sind umsonst gekommen! Und es gefiel mir überhaupt nicht, dass ich dabei ein Gefühl in der Brust hatte, als würde ich in ein Sumpfloch fallen.

»Hast du nicht angerufen und gesagt, dass wir kommen?«

Niels lächelte. »Keine Panik. Er weiß, dass wir im Anflug sind. Wahrscheinlich ist er auf einer der hinteren Weiden oder er hängt am Telefon.«

Dass der wortkarge Stevie länger als drei Minuten »am Telefon hängen« sollte, konnte ich mir nicht vorstellen. Arabella leckte meine Hände ab. Dreadlocks, wie ich Puccini nannte, stellte sich auf die Hinterbeine und versuchte mich zu küssen. Dagobert oder Donald verbeugte sich auf dem Dachfirst und krächzte etwas, was wir nicht verstanden. Dann ging die Haustür auf und Stevie erschien.

Sofort tauchte mein Herz aus dem Sumpfloch auf und schwang sich wie ein Vogel in die Luft.

Niels ging voraus. »Hi, Bruder!«, sagte er und legte die Hand auf Stevies Schulter. »Ich hab dich vermisst.«

Zwischen den beiden bestand eine Art Wesensverwandtschaft, das hatte ich schon in dem Augenblick gespürt, als sie sich kennengelernt hatten. Niels bewunderte die Art, wie Stevie lebte – frei von Konsumzwängen, in allem einfach nur seinem Herzen und seinem Gewissen folgend. Für meinen Bruder war Stevie ein »cornischer Indianer«, von dem er eine Menge lernen konnte.

»Hi, ihr zwei!« Ein Lächeln erhellte Stevies haselnussbraune, schimmernde Augen, die mich immer an einen Vogel erinnerten. Jeder Schauspieler hätte Stevie um sein Aussehen beneidet: den schön geschwungenen Mund, sein dunkles, schulterlanges, leicht gewelltes Haar, seine hochgewachsene Gestalt und die geschmeidigen Bewegungen. Doch so etwas wie Eitelkeit kannte Stevie Trelawny nicht. Ich glaube, ihm war nicht einmal bewusst, welchen Zauber er ausstrahlte.

Das seltene Lächeln galt natürlich Niels. Doch als er beobachtete, wie Dreadlocks mein Handgelenk vorsichtig und zärtlich zwischen die Zähne nahm, kreuzten sich für einen Moment unsere Blicke und Stevies Gesicht wurde weicher. Oder bildete ich mir das nur ein? »Wishful thinking« hätte Granny vielleicht gesagt, Wunschdenken.

»Wir haben Hafer für die Ponys mitgebracht«, sagte ich. »Und Karotten für das Reh.«

Stevie und Niels holten die Sachen aus dem Mini Cooper und brachten sie zum Stall. Hinter dem Weidezaun standen die beiden alten Zirkusponys Pepper und Cinnamon.

Pepper, der graue Wallach, scharrte bettelnd mit dem Vorderhuf. Er wusste, wenn ich auftauchte, gab es immer einen Leckerbissen für ihn und die schmächtige rotbraune Stute Cinnamon.

Speichelfäden liefen aus ihren Mundwinkeln, als ich sie mit den Pellets fütterte. Ich streichelte Cinnamons verfilzte Stirnlocke und sah mich dabei nach dem jungen Reh um, das im Herbst mit einer Schussverletzung nach Little Eden gebracht worden war. Dr. Muir, der Tierarzt, hatte ihm das rechte Vorderbein abnehmen müssen. Jetzt lebte es bei Stevie und hinkte schon ganz geschickt auf drei Beinen umher.

Auch heute stand es an seinem Lieblingsplatz, einem Gehölz aus knorrigen Holzapfelbäumen, Holunderbüschen und Weißdornsträuchern am Ende der Schafweide. Stevie hatte es Puck genannt. Für mich war und blieb es immer nur »Dreibeinchen«, ein sanftes, anmutiges Geschöpf, das mich an eine verzauberte Gestalt aus einem Märchen erinnerte.

Hinter mir tauchten Stevie und Niels auf. »Brauchst du Hilfe bei irgendetwas?«, hörte ich meinen Bruder fragen. »Ich weiß ja, du meinst immer, du müsstest mit allem allein klarkommen, aber wir helfen dir gern, was, Kathi?«

Ich drehte mich um und nickte. Stevie zögerte einen Augenblick. Dann erwiderte er: »Das Stalltor müsste repa riert werden. Eine von den Angeln war so verrostet, dass sie ausgebrochen ist. Ich wollte ein Stück Holz einsetzen und eine neue Angel anbringen, aber das Tor ist so verdammt schwer … «

Gemeinsam hängten wir das Tor aus. Während Niels und Stevie sägten und hämmerten, brachte ich den Schafen Heu und füllte sieben Katzenschälchen und die Näpfe der Hunde mit Futter.

In Stevies Küche kochte ich Eier für die Rabenkrähen und säuberte und schnitzelte die Karotten für Dreibeinchen und die beiden Ponys. Daisy, das Eichhörnchen, turnte auf der Gardinenstange herum. Ein junges Kätzchen, das Stevie mit der Flasche aufgezogen hatte, lag zusammengerollt zwischen Kissen, zerrissenen Socken, Hundedecken und einer Schachtel mit Verbandszeug auf dem Sofa und schlief.

Ein paar Minuten nahm ich mir Zeit, um mich zu ihm zu setzen und sein weiches Köpfchen und die winzigen Ohren zu kraulen. Es schnurrte wie eine kleine Maschine.

Das alte Spülbecken, das wie ein Stalltrog aussah, quoll über von schmutzigem Geschirr. Ich spülte rasch einen Teil davon ab, kochte nebenbei Tee und füllte ihn in die Thermoskanne. Die harten Eier mussten gehackt und mit Katzenfutter vermischt werden. Eine Weile suchte ich nach Dagoberts und Donalds Futternäpfen und fand sie endlich auf dem Holzstoß hinterm Haus.

Aus der Ferne klang das Tuten eines Fährschiffs zu uns herüber. Ein Schwarm Möwen kreiste über dem Dach. Sie versuchten immer, den Tieren etwas von ihrem Futter abzujagen. Wenn man nicht aufpasste, klauten sie den Ponys den Hafer und vertrieben die Katzen von ihren Schüsseln.

Nur Dagobert und Donald ließen sich nichts wegnehmen. Kaum hatte ich ihre Blechnäpfe gefüllt, kamen sie auch schon angeflogen und krächzten angriffslustig, wenn eine der Möwen frech genug war, nach unten zu stoßen und in ihrer Nähe zu landen.

Das Tablett mit der Thermoskanne und den Bechern in der einen Hand, den Eimer mit den geschnitzelten Äpfeln und Karotten in der anderen, begleitet von Puccini und einer Katze, bog ich um die Hausecke. Dort stieß ich fast mit Stevie zusammen.

Die Thermoskanne wackelte. Weil ich keine Hand frei hatte, versuchte ich sie mit dem Kinn festzuhalten. Gleichzeitig streckte Stevie eine Hand nach der Kanne aus. Dabei berührten seine Fingerspitzen meine Wange.

Sofort zog er die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. Ein verwirrter Ausdruck trat in seine Augen. In meinem Bauch flatterten Schmetterlinge und hüpften Heuschrecken wild durcheinander.

»Verzeihung!«, murmelte er.

»Nichts passiert«, murmelte ich zurück.

»Der Schraubenzieher ist abgebrochen. Hoffentlich finde ich noch einen anderen in meinem Krempel.« Verlegen sahen wir aneinander vorbei. »Kim hat vorher angerufen. Sie ist total daneben.«

»Wegen Flora, ja.« Ich drückte das Tablett fester an mich. »Diesmal kann sie sie nicht bei dir verstecken.«

»Nein, das sicher nicht. Ihr hochwohlgeborener Vater würde sofort hier aufkreuzen. Nicht dass ich Angst vor ihm hätte, aber er hat eine Menge Einfluss in unserer Gegend und könnte mir allerhand Schwierigkeiten machen. Er könnte mir die Leute vom Veterinäramt auf den Hals hetzen und solche Sachen.«

»Deinen Tieren geht’s doch total gut auf Little Eden!«

»Schon. Nur gibts eine Unmenge Vorschriften und Bestimmungen über Tierhaltung. Wenn sie wollen, finden sie immer was. Klar geht es meinen Tieren besser als anderen, die ihr ganzes armseliges Leben lang in keimfreien Ställen stehen und sich nicht umdrehen können und nie das Tageslicht oder eine Wiese sehen. Das ist Tierquälerei, aber es entspricht den Gesetzen, verstehst du? So abartig ist das.«

Ich wäre gern noch länger stehen geblieben, mit dem Futtereimer und dem Teetablett, doch er wandte sich ab und ging mit langen Schritten ins Haus.

Vor dem Stall kniete Niels neben dem ausgehängten Tor und wühlte in einer alten Kiste herum.

»Zu Weihnachten schenke ich Stevie einen Werkzeugkasten mit allem Drum und Dran«, sagte er. »Diesen vorsintflutlichen Schrott kann man vergessen.«

»Die Indianer haben bestimmt auch keine Werkzeugkästen vom Baumarkt in ihren Tipis«, erwiderte ich.

Stevies Stall entsprach vielleicht nicht den Vorschriften, aber er war sauber und warm und gemütlich wie eine Höhle, und ich hätte schwören können, dass sich die Tiere darin wohlfühlten. Im dunklen Gebälk nisteten im Frühling die Schwalben. Jetzt, im Winter, kuschelten sich auch die Katzen manchmal in die Streu, dicht bei den Ponys und den Schafen. Es roch nach Heu und Pferden, nach Staub und den verschrumpelten Äpfeln, die Stevie unter dem Dach gelagert hatte. Die Mischung aus Düften war wunderbar. Ich hätte sie am liebsten in ein Glas gefüllt und mitgenommen.

Ich stellte das Teetablett auf eine der alten Futterkrippen. Dann ging ich mit dem Eimer auf die Weide und schloss das Gatter vor Puccinis Nase.

Die Ponys tauchten hinter einer Baumgruppe auf und verdrückten schmatzend ihre Apfelschnitze. Von irgendwo kamen die Schafe angetrappelt und umringten mich, voran Quannik, die kleine »Schneeflocke«, die inzwischen fast schon ein erwachsenes Schaf war.

Viel zu rasch war der Eimer leer bis auf einen Rest für Dreibeinchen, das noch immer unter den Weißdornbüschen stand und mich beobachtete. Ich wusste, es würde nicht zu mir kommen, dazu war es noch nicht zahm genug. Nur zu Stevie hatte es inzwischen Zutrauen gefasst. Es ließ sich von ihm streicheln, aß ihm aus der Hand und kam, wenn er es rief.

Die Ponys und zwei von den Schafen folgten mir zum Gehölz. Ich musste sie davon abhalten, sich auf das Häufchen Äpfel und Karotten zu stürzen, das für Dreibeinchen bestimmt war, denn es aß nicht, solange ich in seiner Nähe war. Doch wenigstens flüchtete es jetzt nicht mehr vor mir.

Mit leiser Stimme redete ich zu ihm, hielt Cinnamon und Pepper am Halfter fest und verstellte den Schafen den Weg.

Wie immer flog mein Herz dem jungen Reh zu. Es war so wunderschön und rührend mit seinem sanften, unschuldigen Blick, dem hellbraunen Fell und der feuchten dunklen Nase.

Ich vermied es, seinen Beinstumpf anzusehen. Sonst war es derart vollkommen, anmutig und bezaubernd, dass ich mich jedes Mal zusammennehmen musste, um nicht niederzuknien und die Arme um seinen Hals zu schlingen.

Niels und Stevie saßen nebeneinander auf einer Kiste im Stall, die Becher mit dem dampfenden Tee in den Händen. Ich ließ mich neben Stevie nieder, denn er war ein Stück zur Seite gerückt, um mir Platz zu machen. Bei ihm bemerkte ich jedes kleine Zeichen, jede winzige Geste, die zeigte, dass er mich mochte und mich nicht als lästig empfand wie die meisten anderen Zweibeiner.

Mein Ellbogen berührte Stevies Arm. Seine Nähe machte, dass sich mein Kopf irgendwie benebelt anfühlte. Ich verschluckte mich am Tee, und Stevie klopfte mir auf den Rücken, während Niels sagte: »Der springende Punkt ist, wie viel sie für die Stute haben wollen. Wir schwimmen nicht gerade im Geld.«

Sie hatten also über Flora gesprochen. Stevie erwiderte: »Ich bin nicht sicher, ob Seine Hochwohlgeboren sich herablassen würde, eins seiner Pferde an Leute aus der Nachbarschaft zu verkaufen. Die Tatsache, dass er dringend Geld braucht und sich nicht mal mehr zwei Pferde leisten kann, nagt bestimmt an seinem Stolz. Am liebsten wäre ihm wohl ein Käufer aus einem ganz anderen Teil des Landes, der die Ravensmoors nicht kennt und in einer anderen Gesellschaftsschicht verkehrt.«

»Wir verkehren auch nicht in seiner Gesellschaftsschicht«, wandte ich ein.

»Ja, aber ihr lebt hier, und eure Großmutter kennt fast jeden in dieser Gegend.«

Es würde nicht einfach werden, das war es, was Stevie uns sagen wollte. Die erste Hürde, die wir nehmen mussten, waren unsere Eltern – vor allem Paps. Mama war leicht zu überreden, wenn es um ein Pferd ging, und sie mochte Kim.

Ich war entschlossen, die Sache anzupacken, solange Niels noch zu Hause war. Auf seine Unterstützung konnte ich zählen. Außerdem hielt Paps viel von seiner Meinung.

Da mein Bruder noch heute Abend ins College zurückkehren musste, blieben uns nur wenige Stunden Zeit.

Sturm über Ravensmoor

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