Читать книгу Verspottet, geachtet, geliebt - die Frauen der Reformatoren - Ursula Koch - Страница 11

Wie die Pest das Land verheerte

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»Ihr wisst es, Schwestern, der Tod war mir vertraut wie ein Bruder. Ich wusste, er kommt, wann er will, er klopft nicht an, er ist da und nimmt, wovon er meint, es sei sein Recht. Nur meine Mutter und mich hat er über lange Zeit verschont. An uns ging er vorbei, auch wenn wir sterbensmüde waren. Manches Mal habe ich ihn gefragt: Warum nimmst du nicht mich? Aber er tat, als hörte er nicht.

Zwei Jahre lebte ich als eine glückliche junge Frau – doch mein Cellarius starb, mein kluger Ehemann, und mit Wibrandis, unserer Tochter, blieb ich zurück. Da kam der Pfarrer Oekolampad, zweiundzwanzig Jahre älter als ich und auch schon recht gebrechlich. Sie haben viel hinter unserm Rücken gelästert, als er mich zur Frau nahm. Bis dahin hatte Oekolampad bei seiner Mutter gewohnt, die ihn versorgte, sodass er sich ganz und gar seinen Studien widmen konnte. Nun war sie gestorben, ließ den Vater Oekolampads als hilflosen Greis zurück, und der Sohn saß über seinen Büchern und wusste nicht, was er essen sollte, konnte Erbsen und Linsen nicht unterscheiden und vergaß, seine Kleider zu wechseln. Mit der Betreuung und Pflege des alten Vaters war er gänzlich überfordert. Wie sollte eine Haushälterin das alles bewältigen? Und so rieten die Freunde dem Pfarrer dringend zu heiraten.

Ich war noch jung und hatte Kraft. Es hieß, ich sei schön. Und ich wusste, wie es ist, mit einem Mann verheiratet zu sein, der griechisch denkt und lateinisch spricht. So fiel es mir nicht schwer, mich auf seine Eigenheiten einzulassen. Meine kleine Tochter hatte damit eine neue Heimat gefunden, ebenso wie meine Mutter. Die war zwar noch rüstig, aber sie setzte sich gern einmal neben den alten Vater ans Fenster, und dann sprachen sie von vergangenen Zeiten.

Ich brachte Leben ins Haus. Es dauerte nicht lange, da hielt der Pfarrer Oekolampad mit staunender Freude seine Kinder im Arm. Das Wunder des neuen Lebens spornte ihn in seiner Arbeit an. Die vielen Gäste, die Unruhe, der Lärm – das alles war er nicht gewohnt, doch er ertrug es geduldig. So hat er in unserer Stadt Basel segensreich für die Reformation gewirkt, ja, zusammen mit deinem lieben Mann, Anna, den Gang der Gespräche über das Abendmahl mit bestimmt. Aber nach nur drei Jahren war seine Kraft verbraucht. Im selben Unglücksjahr, in dem Zwingli in Kappel fiel, starb Oekolampad, und ich war mit vier Kindern und meiner Mutter allein. ›Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei …‹ steht im ersten Buch Mose, und der gute Doktor Martin Luther hielt alle Geistlichen an, es ihm gleich zu tun und eine Frau zu nehmen. Aber was, wenn dem Mann die Frau, der Frau ihr Mann starb?

Unsere Freunde suchten Rat – einen Ernährer für mich und meine Kinder und gleichzeitig eine verständnisvolle Ehefrau für den Pfarrer Capito in Straßburg, dem die Frau gestorben war. Zellin, du kennst den Capito, ein kluger, aber ein schwieriger Mann. Viele Gespräche gab es bei euch in Straßburg und bei uns in Basel: Ob er denn wohl …? Ob ich denn wohl …? Denn das wisst ihr: Gezwungen haben uns die evangelischen Freunde nicht. Sie wussten auch: Dieser Ehemann war sechsundzwanzig Jahre älter als ich. Es graute ihm vor der großen Familie, die ich mitbrachte. Und ich musste meine Heimat verlassen, mein liebes Basel. Doch hatte ich die Wahl, mittellos und für vier Kinder verantwortlich? Man hat mich gewarnt. Und Capito hatte zuerst eine andere Frau im Sinn. Aber es war Gottes Wille. So zog ich mit meinen Kindern und meiner immer noch rüstigen Mutter nach Straßburg und fand dort Frauen voller Kraft und Eifer für das Evangelium, wie dich, Zellin, die uns mit großer Herzlichkeit aufnahmen. Das war ein fröhliches Kommen und Gehen zwischen unseren Häusern, denen des Pfarrers Zell, des Pfarrers Capito und des Pfarrers Bucer.

Wir hatten eine gute Zeit miteinander, mochte Capito auch schwierig sein: Unser Haus war voller Leben und Lachen. Oft, liebe Zellin, hast du mir im Verborgenen geklagt, dass Gott dir deine beiden kleinen Kinder genommen hat. Bei uns erlebtest du mit, welche Freude das war, wenn sie miteinander spielten und sangen, manchmal tobten und manchmal andächtig beteten. Aber auch wir mussten ein Kind gehen lassen, die kleine Irene, Oekolampads jüngste Tochter, geboren, kurz bevor Oekolampad starb. Sie war ein fröhliches kleines Mädchen und wir hörten oft ihre Stimme durchs ganze Haus rufen. Dann kam im Winter das Fieber und sie hustete Tag und Nacht. Immer schwächer und stiller wurde sie, ihre Hände lagen auf der Decke wie zwei herabgefallene Blütenblätter und rührten sich nicht mehr. Wir legten sie in die Erde, und die anderen Kinder standen in weißen Kleidern um ihr Grab.

›Ist Irene nun ein Engel?‹, fragte Eusebius, der älteste Junge.

›Ja‹, sagte ich, ›sie ist nun ein Engel und steht vor Gottes Thron. Da darf sie beten und singen mit all den andern Engeln, und der Herr Jesus sieht sie liebevoll an.‹

›Dann ist es ja gar nicht schlimm zu sterben.‹

›Nein, Eusebius, es ist nicht schlimm für den, der stirbt, aber die, die zurückbleiben, sind sehr traurig wie wir auch. Denn wir haben Irene lieb gehabt.‹

Die Kinder durften im Haus nie laut sein, das vertrug Capito nicht. Er hatte auch manche Eigenart, stand, wenn ihn die Schwermut drückte, erst am späten Vormittag auf und ging klagend durchs Zimmer, dass ihn niemand schlafen lasse. Er arbeitete an seinen Predigten bis in die Nacht und zerriss am Morgen die vollgeschriebenen Blätter. Du hast mir geholfen, Zellin, und die Kinder zu dir geholt, wenn er in seiner Trübsal versank und ich sie nicht ruhig halten konnte. Oder wenn ich in den Wehen lag und die Hebammen halfen, ein neues Kind auf die Welt zu holen, damit es die Liebe Christi und die Gnade des himmlischen Vaters erfahre und weitergebe. In mancher schweren Geburtsstunde hast du mir beigestanden, und wir haben gemeinsam gedankt und Gott gelobt für das neue Leben. Fünfmal war ich schwanger, fünf gesunde Kinder wurden uns geschenkt. Und so waren es sieben Kleine, die bei uns am Tisch saßen zusammen mit meiner Mutter, Wibrandis, meiner großen Tochter, und den vielen Gästen, die aus und ein gingen.

Nur an Geld fehlte es uns, sodass ich mich oft in großer Sorge zu Bett legte und am Morgen früh wach lag und den Herrn bat, uns zu helfen. Capito hatte in früheren Jahren für einen Betrüger eine Bürgschaft übernommen. Es fehlte ihm an Menschenkenntnis und Vorsicht. Die inständigen Beteuerungen eines Mannes, der ein neues Leben anfangen wollte, überzeugten ihn, etwas Gottgewolltes zu tun. Das brachte uns in Not, denn der Mann verschwand aus der Stadt, und was er sich geliehen hatte, musste Capito zurückzahlen. Das heißt, eigentlich musste ich es zurückzahlen, denn es blieb kaum genug, um uns alle satt zu bekommen – und auch noch die Hilfsbedürftigen, die an unsere Tür klopften. Capito rechnete nie und verstand nicht, warum es bei uns so selten ein Stück Braten und so oft nur Haferbrei gab.

Trotz allem, Schwestern, war es ein gutes Leben, bis die Pest in Straßburg einbrach. Erst war es nur ein Gerücht aus den Häusern der Armen: Man habe Tote mit schwarzen Beulen zu Grabe getragen.

Dann stand eine Frau aus der Gemeinde weinend vor unserer Tür. Es war Abend, die Kinder schliefen schon, und Capito öffnete und ließ sie herein: ›Mein Kind stirbt, Herr Pfarrer, mein Mann liegt im Fieber …‹

Capito ging. Was sollte er tun? Wir konnten doch Sterbenden nicht den Beistand verweigern. Ich lag wach, als er spät in der Nacht zurückkam. Bleich und erschöpft lehnte er an der Tür. Und die Tür war noch einen Spalt offen. ›Ich werde besser fortgehen.‹

›Aber wohin, wohin willst du gehen? Sie ist überall.‹

Er sah mich an und begann zu weinen. ›Wir werden alle sterben.‹

›Wir sind in Gottes Hand‹, sagte ich und führte den zitternden Mann in die Küche. Die Tür fiel zu, und ich wusste: Sie ist jetzt bei uns.«

– »Hast du nicht daran gedacht zu fliehen?«

»Wohin hätte ich fliehen können, Lutherin? Irene – wir hatten Capitos dritte Tochter nach unserer verstorbenen kleinen Irene genannt – war erst ein halbes Jahr alt. Meine große Tochter Wibrandis bereitete sich auf ihre Hochzeit vor, ich schickte sie aus dem Haus. Und dann waren da noch die anderen fünf Kinder: Eusebius war 13, seine Schwester ein Jahr jünger, die Mädchen von Capito acht und fünf, die beiden kleinen Jungen zwei und vier Jahre alt. Und meine Mutter lebte bei uns, kümmerte sich wohl um die Kleinen, aber war doch inzwischen auch viel zu alt und schwach, um fortzugehen. In Bucers Haus gab es fünf Kinder, und auch sie blieben alle, denn unsere Männer gingen zu den Kranken und beteten mit ihnen.«

– Erschöpft hält Wibrandis inne.

Die Lutherin bricht nach einiger Zeit das Schweigen:

»Als die Pest zum ersten Mal nach Wittenberg kam, sind wir auch geblieben. An dem Abend, an dem im Schwarzen Kloster die alte Magd Therese starb, habe ich meinen Herrn Doktor gefragt: ›Ist es Sünde, vor der Pest zu fliehen?‹

Er ging in sein Arbeitszimmer, während wir unten die Stuben der Mägde ausräucherten und Therese hinübergetragen wurde zum Friedhof. Nach einigen Stunden kam er die Treppen hinunter und sagte: ›Nein, es ist keine Sünde. Wenn du um der Kinder willen die Stadt verlassen willst …‹

Da hab ich geschrien: ›Nie und nimmer gehe ich ohne Euch!‹ Und so blieben wir.

Ein paar Tage später bekam unser kleiner Hans Fieber und weinte die ganze Nacht. Ich saß bei ihm, hielt ihn auf dem Schoß und spürte, wie sich mein zweites Kind, die kleine Elisabeth, in mir regte.

Da knarrte auf einmal die Tür und meine Tante Lene kam herein, stand im weißen Hemd an Hänschens Bett und seufzte nur: ›Ach, Käthe!‹ Es war damals gerade erst ein paar Monate her, dass der gute Leonard Koppe sie aus dem Kloster zu uns gebracht hatte. In dieser kalten Nacht erschien sie mir wie ein Engel. Ich begann zu weinen. Sie nahm mir das Kind aus dem Arm und wiegte es, leise singend. ›Geh schlafen, Käthe‹, sagte sie.

›Ich habe Angst.‹

›Es sind die Zähne, Käthe. Es ist nicht die Pest. Es sind ganz bestimmt die Zähne.‹

Als hätte er es gehört, schrie Hans noch kräftiger und presste die kleine Faust in den Mund. Da stand Tante Lene auf und ging mit ihm durch die Kammer auf und ab, auf und ab. Langsam beruhigte er sich, und ich spürte plötzlich, wie müde ich war. So ging ich, legte mich neben Luther, der laut schnarchte, und schlief sofort ein.

Am Morgen kam ein Bote: Der Doktor Augustin, der die Kranken besuchte und pflegte, würde uns seine Frau bringen …

Unser Haus wurde in den Bann getan. Auf dem Markt erregten sich die Frauen, dass wir Kranke aufgenommen hätten, die uns den Tod bringen würden. Ich ging, schwer atmend unter der Last des Ungeborenen, an ihnen vorbei, sprach mit niemandem, holte aus unserm Garten, was noch möglich war, gab den Kindern Milch und Äpfel – und wartete. Nach ein paar Tagen spielte Hänschen wieder und zerriss unterm Schreibtisch des Vaters Papiere. Und Anfang Dezember kam Elisabeth zur Welt. Gott hat uns verschont – damals.

Aber als mein Herr Doktor gestorben war und nur noch Paul und Maruschel bei mir lebten, da hatte ich kein Vertrauen mehr, zumal die ganze Universität nach Torgau aufgebrochen war und die Professoren dort ihre Vorlesungen hielten, an denen auch unser Martin teilnahm. Ich ließ die Pferde anspannen, wir packten, was wir noch besaßen – viel war es ja nicht mehr –, und ein paar Studenten saßen mit auf. Ich war schon alt, ja, aber ich meinte, die Zügel könnte ich schon noch besser halten als Paul oder der alte Urban. Ich war es ja gewohnt, nachdem wir zweimal vor dem Krieg geflohen waren. Doch die Straßen waren

aufgeweicht, wir kamen kaum voran, die Pferde scheuten und ich konnte sie nicht mehr halten. Ich stürzte vom Kutschbock und rutschte in den Wassergraben am Rande der Straße. Alle schrien durcheinander, sie wollten mich herausziehen und mir auf die Beine helfen, aber ein rasender Schmerz machte mich fast bewusstlos. So zerrten sie mich mit Mühe aus dem Wasser, lagerten mich auf der Erde und hoben mich dann, so behutsam es ging, auf den Wagen. Nun musste doch der alte Urban die Pferde lenken. Bei jedem Stein, über den die Räder fuhren, schrie ich vor Schmerz.

Endlich, endlich erreichten wir Torgau. Sie trugen mich in eine Stube auf ebener Erde nicht weit vom Schloss und holten den Arzt des Kurfürsten herüber. Aber was sollte er tun? Meine Knochen waren gebrochen. Die Schmerzen quälten mich Tag und Nacht. In meiner Not schrie ich zu Gott: ›Verzeih, dass ich fliehen wollte!‹ Die Freunde, die dann kamen, um mich zu trösten, sprachen mir gut zu, dass es wohl Gottes Wille sei, aber nicht eine Strafe, denn ich hätte doch nichts Unrechtes getan und meine Kinder am Ende in Sicherheit gebracht.

So ist es mir ergangen. Zwei Monate habe ich gelitten, bis unser Vater mich erlöste und in sein Reich aufnahm. Aber die Kinder lebten.«

– Wibrandis seufzt. Es fällt ihr schwer, weiterzuerzählen.

»Ich musste einen anderen Weg gehen. Als das Sterben begann, bat ich Gott, er möge mich bis zum Schluss aufsparen, damit ich den andern beistehen könnte. Er hat mich erhört, anders, als ich es meinte … Aber so konnte ich wenigstens bei ihnen sitzen, ihre Stirne kühlen, ihnen Wasser einflößen, sie waschen oder wärmen und mit ihnen beten. Eusebius warf es zuerst nieder, aber da wusste ich: Nun würde der Tod durch alle Stuben gehen. Ich bekenne euch, Schwestern, wie ich es auch Gott bekannt habe: An seine Liebe habe ich nicht mehr glauben können. Es hat mir das Herz zerrissen, ihr Leiden anzusehen. Die tief eingefallenen Augen, die verzerrten kleinen Gesichter, das Weinen, die Schmerzen: ›Muss ich denn sterben, Mutter? Warum?‹ Ja, warum? Meine Kinder! Unter so viel Schmerzen zur Welt gebracht, aus Gottes Hand dankbar empfangen, gestreichelt und gesäugt. Sie hatten doch jeden Abend im einfältig-frommen Gebet ihre kleinen Sünden bekannt. Und es war keines unter ihnen, das nicht gehorsam und fromm war, selbst wenn es manchmal Geschrei und Zank gab: Sie hatten einander lieb und passten aufeinander auf. Als dann Eusebius so elend lag und niemand außer mir zu ihm durfte, da sah ich die Angst und das Entsetzen in den Augen der Mädchen. Und schon bevor wir Eusebius aus dem Haus trugen, erkannte ich die Male der Krankheit in dem Gesicht der kleinen Dorothea. Erbärmlich hat sie geweint und ich lief von einer Kammer in die andere, um zu trösten. Wibrandis schickte ich aus dem Haus, sie sollte Hochzeit feiern und nicht sterben. Meine Mutter lief klagend hinter mir her. Ich bat sie, an die Betten der Kinder zu gehen, denn als wir Eusebius begraben hatten, lag auch Wolfgang im Fieber.

Nächtelang habe ich kein Auge zugetan. Und als der kleine Wolfgang seinen letzten Atemzug getan hatte, stand Capito vor mir, bleich – und ich wusste: auch er!

Damals, Zellin, habe ich dich fast beneidet, dass du keine Kinder hattest. Es bereitet Schmerzen, sie auf die Welt zu bringen, aber es bereitet noch viel mehr Schmerzen, sie dem grausamen Tod zu überlassen, der die schönsten Blumen tötet. Wie viel Lachen, wie viel Freude, wie viel fröhliches Gottvertrauen ist mit den Kindern gestorben! Du kamst, Zellin, und hast mit mir geweint und hast geholfen, wo einer helfen konnte, und du brachtest Nachricht von draußen: Bei Bucers sind vier Kinder gestorben! Und unsere treue Freundin, Bucers Elisabeth, hatte doch schon vorher Kinder loslassen müssen, die im zarten Alter starben. Da blieb nur einer übrig, mich fasste ein Schauer, als ich es hörte: Nathanael, ein schmächtiger Junge, der nichts behielt, kaum der Sprache mächtig war. Auch meine alte Mutter blieb unangetastet – und ich. Wollte der Tod nur die Schönen, Gesunden haben? Was für ein böser Gedanke! Aber in jenen Nächten haderte ich mit meinem Vater im Himmel.

Dann stand ich an Capitos Sterbebett. Er streckte in seiner Qual die Hand nach mir aus und drückte meine mit seiner letzten Kraft. Etwas von Gottes unerforschlichem Willen brachte er über die Lippen und einen Dank. Sein Todeskampf war kurz, die Kraft schon schwach. Und ich saß an seinem Lager und hörte, wie es in mir sprach: ›Der nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.‹ ›Ja‹, antwortete ich, ›ja, mein Herr Jesus, aber du musst mitgehen, sonst kann ich nicht.‹ Ich war das dritte Mal Witwe.«

– Die Zellin streicht sanft ihre Hand und fügt hinzu: »Am nächsten Tag bin ich zu euch gekommen und habe dir gesagt, was im Hause Martin Bucers geschehen war. Elisabeth bereitete sich darauf vor, ihren Kindern zu folgen, ihre Kraft war gebrochen, aber noch nicht ihre Liebe. Als sie hörte, dass Capito gestorben war, beschwor sie ihren Mann, dich zu heiraten, damit deine Kinder versorgt seien, Nathanael eine Mutter habe und er selbst eine Gefährtin. Der treue Mann konnte sich damit nicht abfinden und hoffte immer noch auf ein Wunder. Elisabeth flehte mich an, dich zu holen.«

»Ich hatte meinem Mann kaum das Sterbehemd angezogen, da sollte ich über eine neue Heirat nachdenken! Ich wehrte mich ebenso wie Bucer dagegen. Aber der treuen Freundin konnte ich nichts abschlagen. So schlich ich mich in der Dunkelheit hinaus und trat wieder an ein Sterbebett. Die Welt kam mir vor wie ein Friedhof, von den grellen Blitzen der Hölle erleuchtet. Mit Bucer stand ich vor der Schwerkranken und sie beschwor uns, sie könne nicht in Frieden sterben, wenn wir nicht zusagten. Und so geschah es. Wir sahen einander nicht an, Martin Bucer und ich, wir sahen nur auf unsere geliebte Tote, die sich mit einem Lächeln verabschiedet hatte.

Lange Zeit später beichtete ich meinem Mann, dass ich nicht bereit gewesen war, mich in Gottes Willen zu fügen.

Und Bucer, dieser hochgelehrte Theologe und Reformator, den sie in ganz Europa priesen und später nach England holten, um die neue Kirche aufzubauen – Martin Bucer nahm meine Hand und sah mich fest an: ›Liebe, teure Frau‹, sagte er, ›nicht nur du, auch ich habe in jenen Tagen meinen Gott verklagen wollen, wie es der Heilige Hiob tat. Auch ich habe gehadert und in meinem Herzen geschrien: Wenn du mir auch die Kinder nimmst, mein Herr, so lass mir die Gefährtin, lass sie nicht sterben, ich kann nicht ohne sie sein. Bis zuletzt wartete ich auf ein Wunder, aber es kam nicht. Stattdessen hat die treue Seele dich rufen lassen. Und so hat Gott mich dennoch erhört.‹ Wir weinten miteinander, Bucer und ich, und fühlten uns als Mann und Frau tief verbunden in unserem Zweifel, in unserer Not.

Gott schenkte uns noch zwei Kinder und nahm uns den kleinen Martin, bevor er laufen konnte. So waren es nach zwei Jahren Ehe wieder fünf in unserm Haus: Oekolampads Tochter Aletheia, Capitos Agnes und sein Sohn Johannes Simon, der Knabe Nathanael, der so sehr um seine Mutter weinte, und unsere kleine Elisabeth, Bucers Freude und Sonnenschein.

Meine Nichte Margarethe stand dann eines Tages vor der Tür, ihr Bündel unterm Arm. Ihre Eltern waren gestorben, sie war allein zurückgeblieben. Bucers Vater und seine zweite Frau suchten bei uns Zuflucht, und meine Mutter saß oft zusammen mit Nathanael am Ofen und klagte über die Not der Zeit …«

– Idelette rührt sich, die stille, zarte Frau Calvins, die bisher nur zugehört hat, oft den Tränen nahe. Leise, sehr leise beginnt sie zu sprechen: »Und doch, Schwestern, wenn ich anhöre, wie ihr gelebt und gelitten habt in den Zeiten des Krieges und der Pest, dann wird doch in allem der Segen sichtbar, den Gott auf euer Tun legte. Ihr habt die Kranken gepflegt und getröstet, die großen Männer begleitet und gestärkt, die in der Christenheit das Evangelium neu verkündet haben, wie auch mein Eheherr. Immer wart ihr geführt, und es gab keinen Zweifel, dass es Gottes Wege waren. Aber ich … Verzeiht mir, wenn ich von einer furchtbaren Versuchung rede, in der meine Seele Kraft und Freude verloren hat.«

Alle wenden sich ihr zu.

Da beginnt sie zögernd:

»Die Pest kam auch nach Genf. Und die Menschen verstanden nicht, woher sie kam. Wie sollten sie auch? In diesem Haus starben die Kinder, in jenem Haus starb die Mutter. Der Prediger Blanchet ging zu den Kranken und stand ihnen bei. Er starb. Nun wäre es an Calvin gewesen, den Seelsorgedienst zu übernehmen. Ich erschrak in tiefstem Herzen. Aber ich wusste: Er würde entscheiden.

Nachts hörte ich ihn in seinem Zimmer auf und ab gehen, ruhelos. Am Morgen wurde er zur Ratsversammlung gerufen. Man verbot ihm, die Pestkranken zu besuchen. Ich war erleichtert, und auch er war ruhig geworden. Man sagte, sein Dienst in der Stadt sei so wichtig, dass es eine Sünde wäre, sein kostbares Leben aufs Spiel zu setzen.

Aber weil das Sterben nicht enden wollte, vielleicht auch weil niemand mehr den Kranken Trost zusprach, da wurde geflüstert, erzählt, wiederholt, neu erzählt, laut ausgesprochen und schließlich vor den Rat gebracht: Man habe Frauen gesehen, die nachts durch die Straßen zogen. Diese Frauen hätten die Klinken mancher Türen mit einer unsichtbaren Flüssigkeit bestrichen. Und hinter diesen Türen holte die Pest sich ihre Opfer.

Zuerst wollte niemand daran glauben, dann fassten sie eine Alte, die nachts unterwegs war. Sie soll einen Topf mit einer Flüssigkeit von sich geworfen haben. Niemand hat ihn gefunden. Immer öfter wurden Arme, Bettler, Landstreicher nachts in den Straßen aufgegriffen, festgehalten und ins Gefängnis geworfen. Bald war die ganze Stadt sicher, dass eine Bande von Hexen und Hexern die Pest nach Genf gebracht hatte, um das Gnadenwerk Gottes zu hindern. Man stieß die Unglücklichen in die Kerker unter dem Rathaus. Der Rat trat zusammen.

Viele schüttelten den Kopf über Aberglauben und Teufels­­spuk, aber Calvin – Calvin! – stand auf und erklärte: ›So ist es!‹ Der Teufel sei aufgebrochen, um die neue Gemeinde, das Reich Gottes, an dem wir in Genf bauten, zu vernichten.

Andere forderten Beweise. Man folterte die Gefangenen – mit Daumenschrauben, auf der Streckbank, mit all den Instrumenten der angeblich gerechten Gerichte, die doch in Wahrheit Instrumente des Teufels sind! Ich habe nicht viel davon erfahren, denn ich lebte still in unserem Haus und kümmerte mich um die Küche, die Wäsche und den kleinen Garten. Selbst auf den Markt ging ich kaum und mochte auch nicht hören, was die Mägde erzählten.

Aber immer furchtbarer wurde, was mir dann doch durch Nachbarinnen oder Gäste zugetragen wurde. Die ersten der armen Frauen hatten unter lautem Geschrei gestanden, im Dienst des Teufels zu stehen. Wie hätten sie auch der Folter standhalten sollen! Und so fällte der Rat über alle das Todesurteil. Als einige der Ratsmitglieder noch Widerspruch laut werden ließen und davon sprachen, dass kein Geständnis unter der Folter tatsächlich beweiskräftig sei, da stand Calvin auf, drohte den Gegnern mit dem Fluch Gottes, mit dem Ausschluss aus der Gemeinde, rief ihnen das schreckliche Wort aus dem zweiten Buch Mose zu: ›Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen‹, und sprach davon, die Teufelsbrut auszurotten.

Als er von der Sitzung nach Hause kam, war er so erregt, dass er im Zimmer vor mir hin und her lief und seine eigenen Worte wiederholte.

›Sind es nicht Menschen?‹, fragte etwas in mir, aber ich wusste ja, dass er recht hatte, immer. Wie könnte ein so gewaltiger Mann Gottes irren? Judith, meine Tochter, verkroch sich vor Entsetzen in eine Ecke. Sie hat den Stiefvater gehasst, von Anfang an, und ich konnte es nicht ändern.

Und dann wurden die Todesurteile ausgeführt. Nicht, dass man sie mit dem Schwert gerichtet hätte, nein, sie wurden vor die Häuser gezerrt, in denen Menschen an der Pest gestorben waren. Dort wurden sie so zu Tode gebracht, dass ihre Schreie – Schreie, wie sie schlimmer nicht aus der Hölle kommen können – erst nach endloser Zeit langsam verhallten. Ich habe sie gehört! Nein, ich bin nicht hingegangen wie so viele andere, um zuzusehen und mich an ihrer Qual zu weiden, während man sie langsam mit feurigen Zangen zerriss. Aber ich konnte meine Ohren nicht verschließen. Die ganze Stadt war erfüllt von den Schreien der Unschuldigen – denn sie waren unschuldig! Ich wusste es nicht, doch ich fühlte es.

Auch Calvin hat es nicht gewusst.

Warum hat Gott es zugelassen, dass er sich so tief in seinen Gedanken verirrte? Warum? Warum? Nachts erschien mir der Teufel – und einmal, Schwestern, es war so schrecklich: Er hatte sein Gesicht. Seit diesen Tagen verstand ich meine Tochter.

In den Jahren, die dann noch kamen, ging ich ihm zur Hand wie vorher, sorgte für den Haushalt und betreute die Gäste, die kamen und gingen. Ich hörte seine langen Reden am Tisch, seine Ermahnungen an die Kinder, seinen Zorn über die Menschen, die auf Vergnügen aus waren statt auf die Seligkeit. Ich hörte zu, aber ich redete nur noch das Nötigste. Ich widersprach ihm nie. Vielleicht, Schwestern, hätte ich es tun sollen. Ich suchte nach Gründen, ihn zu entschuldigen. Aber was wusste ich? Er kannte die Bibel. Er war ein Gelehrter. Die Freunde sagten, dass er recht habe.

Mich jedoch quälte die Erinnerung an die Schrecken der Hölle, die ich in mir barg, Tag und Nacht. Oft konnte ich am Morgen nicht aufstehen. Ich schrie zu Gott, er möge mir helfen. Aber Gott half mir nicht, so wie er auch den Elenden nicht geholfen hatte, die so furchtbar zugrunde gingen. Erst als ich fühlte, dass der Todesengel an meinem Lager stand, löste sich meine Verzweiflung. Ich wollte gern sterben, um dem zu entkommen, was auf dieser Welt Menschen einander im Namen Gottes antun. Vor ihnen flüchtete ich mich zu meinem Erlöser, und er holte mich heim in die ewige Ruhe.«

– »Die Pest der Herzen …«, flüstert Elisabeth in die Stille hinein.

»Ich hätte mit Calvin nicht leben können«, mischt sich nach einer langen Pause endlich Katharina Melanchthon in das Gespräch ein und schüttelt heftig den Kopf. »Für mich gehörte fröhliche Geselligkeit bei einem guten Tropfen zum Christenleben dazu, und so haben mein Philipp und ich es auch gehalten. Am Ende sind wir gut miteinander ausgekommen. Doch es war nicht einfach am Anfang.«

»Wie habt ihr zueinandergefunden?«

Verspottet, geachtet, geliebt - die Frauen der Reformatoren

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