Читать книгу Verspottet, geachtet, geliebt - die Frauen der Reformatoren - Ursula Koch - Страница 9

Von den Schrecken des Krieges

Оглавление

»Es war nur eine Schlacht. Ich weiß, dass andere lange Kriegs­zeiten durchgestanden haben, dass viele auf der Flucht waren. Wir alle kennen die Verzweiflung der Witwen und Waisen. Und wir haben von dem Schreien und Toben auf den Schlachtfeldern gehört.

Bei mir war es nur ein Tag, stellt euch vor: ein Tag. Mit den Kindern und meinen großen Töchtern saß ich zusammen, während draußen der Herbststurm tobte. Die Männer waren alle fort: mein erster Sohn Gerold, mein Bruder, mein Schwiegersohn – und Zwingli, unser Vater, Ziehvater, treuer Ehemann und Tröster. Sie waren alle fort, draußen auf dem Feld bei Kappel. Ganz Zürich hatte ihnen das Geleit gegeben. Niemand wollte wieder aufgeben, was wir gewonnen hatten: die gute neue Lehre, die Menschenfreundlichkeit, die Freude an der Gnade, die uns die Seligkeit versprach. Die katholischen Kantone aber waren voll Rachsucht und Hass, aufgestachelt von ihren Priestern. Sie zogen heran – und mein Zwingli, der so viel in Büchern las und so viel predigte, der auch im Haus ein liebevoller Vater war und mich, mich, seine Frau, mit Achtung behandelte – er griff zum Schwert!

Seine Eltern hatten ihn Ulrich genannt, aber in jenen Jahren nannte er sich ›Huldreich‹, denn er wollte den Menschen mit Liebe begegnen. Der Heilige Ulrich von Augsburg war sein Vorbild, dem er nacheiferte. Als junger Priester war Zwingli mit Schweizer Söldnern nach Italien in den Krieg gezogen. Das Leiden und Sterben der Soldaten verstörte seine Seele. Im Grauen der Schlacht lernte er die Macht des Bösen kennen. Und dabei glaubte er doch, dass der Mensch gut und vernünftig sei. Nie wieder wollte er Krieg erleben! Immer redete er für den Frieden. Aber nun sah er sein Werk gefährdet, für das er lange Jahre alle Kraft eingesetzt hatte. Und so griff er zum Schwert.

Als er vor mir stand, dachte ich: Es sieht seltsam aus, wie er das Schwert hält. Und als er es in die Scheide stecken wollte, fiel es ihm aus der Hand und schepperte auf den Boden.

›Bleib hier‹, rief ich, ›du bist kein Kämpfer. Ich weiß, wie ein Krieger sein Schwert hält! Du kannst das nicht. Und sagte nicht unser Herr und Heiland: Wer das Schwert zieht, der wird durchs Schwert umkommen?‹

Zwingli sah mich an, seine Augen funkelten. ›Soll ich zusehen, wie meine Schafe hingemetzelt werden? Bin ich ein Mietling, wie der Herr sagte, oder ein guter Hirte?‹ Es war ein Stolz in seiner Stimme, den ich bei ihm vorher nicht gekannt hatte. Wenn Männer zu Kriegern werden, dann ist die Demut dahin.

Was sollte ich tun? Ich musste ihn ziehen lassen, wie ich Johann habe ziehen lassen – fast zwanzig Jahre zuvor. Und nun auch Johanns Sohn, meinen Gerold. Der wusste das Schwert zu halten, der war wie sein Vater ein Kämpfer voller Mut und Kraft. Aber die da aus den katholischen Kantonen kamen, hatten auch ihre stolzen Krieger. Schwestern, wann wird das endlich ein Ende haben? Diese blitzenden Augen, dieser Wille zu kämpfen?

Manches Mal an diesem Tag sah ich die Sonne durch die Fenster leuchten, gelbes Laub füllte den Garten und an den Bäumen glänzte es noch wie Gold. Doch dann kam der Wind und trieb dunkle Wolken über die Stadt.

Wir saßen und warteten. Die kleinen Jungen, Wilhelm und Huldreich, gerade fünf und drei Jahre alt, spielten mit Bauklötzen, ihre Schwester Regula mit einer Puppe. Die erwachsenen Töchter saßen wie ich mit gefalteten Händen. Auch Margarethas Mann war in die Schlacht gezogen.

Da kam Unruhe an der Haustür auf.

›Mutter, ein Bote!‹

Ich stand auf und ging ihm entgegen. Die Mädchen standen neben mir, aneinandergeklammert. Als ich sein Gesicht sah, wusste ich: Er brachte keine gute Botschaft.

›Euer Sohn Gerold …‹

Er sprach nicht weiter, ich wusste es auch so. Tot! Mein erster Sohn, das Glück meiner jungen Jahre, auch dann noch, als sein Vater starb, der stolze Johann von Knonau. Mein lachender Gerold, Zwinglis liebster Schüler …

Die Mädchen schluchzten laut, ich stand bewegungslos.

Und schon wieder schlug es heftig an die Tür. Ein anderer Bote stürzte am Fuß der Treppe nieder. ›Frau – es ist schrecklich!‹ Blut lief ihm übers Gesicht. Er stöhnte und stieß es hervor:

›Euer Bruder …‹

Mein einziger Bruder! Tot. Und Anton, mein Schwiegersohn. Tot. Mit einem furchtbaren Schrei fiel Margaretha mir in die Arme. Wir hielten einander umklammert.

Aber es war noch kein Ende des Schreckens. Mit lautem Geheul näherten sich geschlagene Krieger unserm Hause. ›Er ist nicht mehr! Er ist nicht mehr – unser Vater, unser guter Herr … Er ist nicht mehr!‹

Da wurde es still, ganz still. Totenstill.

So war es. Das war der Tag, an dem ich Witwenkleider anlegte und sie nie wieder ablegte in den Jahren, die dann noch an mir vorüberzogen. Sie kannten mich nicht mehr und ich kannte sie nicht mehr. In mir war alles leer, alles tot.

Meine armen Kinder und ich fanden Zuflucht bei dem guten und treuen Prediger Bullinger, der Zwinglis Nachfolger wurde. Wir litten keine leibliche Not und wir hörten das Wort von der Auferstehung. Aber ich wartete auf den Tod, sieben Jahre lang. In manchen Nächten habe ich zu Gott geschrien: Warum durfte ich nicht kämpfen und sterben – mit denen, die ich liebte? Warum hast du dieses Opfer von mir gefordert? Warum gerade von mir? Nur wenn ich vor dem Tabernakel kniete, in das mein guter Mann die Heilige Schrift gelegt hatte, wenn ich ihn – mit geschlossenen

Augen – auf der Kanzel stehen sah und in mir seine Stimme hörte, so ruhig, so fest, so tröstlich: ›Anna – du weißt, dass dein Erlöser lebt!‹ – nur dann wurde ich ruhig.«

– Lange schweigen die Frauen, jede in ihre Gedanken versunken.

Erst als Katharina Zell einen tiefen Seufzer ausstößt, wenden sie sich einander zu. »Ich sehe sie wieder kommen!«

»Wen denn, Zellin?«, fragt eine.

»Die, die vor dem Krieg geflohen sind.«

»Das wollen wir hören!«, fordern die andern.

Und die Zellin erzählt:

»Ich war so glücklich, in Straßburg zu leben. Kein Krieg hat uns dort erreicht, wir lebten in einer Oase des Friedens – trotz der ständigen Auseinandersetzungen mit dem Bischof, der uns alle am liebsten auf den Scheiterhaufen gebracht hätte. Diese Stadt, mein geliebtes Straßburg mit seinem hoch aufragenden Münsterturm, seinen leuch­tenden Fenstern, seinen fest gebauten Häusern, schien unter dem Segen des himmlischen Vaters zu stehen: freie Reichsstadt, dem katholischen Kaiser untertan und doch erfüllt von der Sehnsucht nach dem reinen und unverfälschten Evangelium! Gerade deshalb kamen die Opfer des Krieges zu uns.

Es war im Juni, kurz vor der Zeit der Ernte. Aber nur der Tod erntete in dem schrecklichen Jahr 1525. Sie kamen aus den umliegenden Dörfern. Ein endloser Zug! Frauen, Kinder, Greise.

Einer unserer Knechte rief mich aus der Küche: ›Da kommen welche auf das Stadttor zu! Wir müssen die Tore schließen!‹

Ich lief mit ihm hinaus, und Nachbarn drängten sich um uns.

Die Wächter kamen uns entgegen: ›Frau Katharina, was sollen wir tun?‹ Viele standen schon am Tor und fürchteten ein feindliches Heer. Aber die da heranzogen, waren keine Krieger. In den ausgemergelten Gesichtern stand der Hunger, stand die Verzweiflung.

Es war die Zeit, in der die Bauern gegen die Fürsten aufstanden. Sie hatten gelesen, was dein lieber Herr Doktor geschrieben hat, Lutherin: Von der Freiheit eines Christenmenschen … Sie wollten niemandem mehr untertan sein, nur Gott selbst. Und da hat der Teufel sie gepackt, und sie haben gebrannt und gemordet. Ich bin selbst mit dem Pfarrer Capito und meinem Matthäus in ihrem Lager gewesen. Wie haben wir sie angefleht: Legt sie nieder – die Heugabeln, die Dreschflegel! Sie hatten ja nur erbärmlichste Waffen, aber sie hatten auch eine große Wut.

›Der Martin Luther hat’s gesagt‹, riefen sie. ›Es ist genug mit der Drangsal durch die Fürsten und geistlichen Herren! Genug Frondienste! Genug mit den Abgaben, sodass unsere Kinder hungern, während sich die christlichen Herren den Bauch vollschlagen und ausspucken, weil sie’s nicht mehr vertragen können.‹

Einige redeten sehr ernst mit uns und wir konnten ihnen nichts erwidern als das: ›Gott wird euch Gerechtigkeit verschaffen! Überlasst es dem Herrn!‹

Aber andere drängten sich dazwischen und bedrohten uns mit ihren Spaten: ›Nie hat uns einer geholfen. Soll doch der Doktor Martin Luther kommen und mit uns kämpfen. Sonst helfen wir uns selbst.‹ Sie waren bereit zu sterben. Und bei Scherweiler wurden sie grausam geschlagen.«

– Da begehrt die Lutherin auf: »O ja! Der Doktor Martin Luther hat’s gesagt und anders gemeint. Er verzweifelte und wollte auch sterben. Wenn ihr ihn gesehen hättet, wie er durch das leere Schwarze Kloster in Wittenberg lief, die Hände rang und zum Himmel schrie: ›Der Teufel hat sie besessen. Der Teufel führt das Regiment! Und ich, ich bin schuld daran!‹ Nie war ihm die Macht des Satans bedrohlicher erschienen als in jenen Wochen. Noch viele Jahre später hat er es nicht überwunden, als er von den Predigern sprach, die durch ihre Worte zu Totschlägern werden könnten: ›Ich habe im Aufruhr alle Bauern erschlagen.‹« Die Lutherin schweigt und sinnt dem Vergangenen nach.

Am tiefsten bewegt ist die fremde alte Frau. Tränenüberströmt greift sie nach den Händen der Zellin. Als die andern sie auffordern zu reden, schüttelt sie wieder den Kopf. »Nein, redet ihr. Ich will hören.«

Und so beginnt Katharina Zell von Neuem:

»Als die Knechte die Stadttore schließen wollten, rief ich meinen Matthäus: ›Das geht nicht! Wir müssen sie aufnehmen!‹

›Sie können sich vor der Stadt lagern‹, sagten die andern.

›Wo willst du sie unterbringen?‹, fragte Matthäus.

Der Zug schien kein Ende zu nehmen. Und dennoch wagte ich es und rief: ›Es ist genug Platz!‹

›Also, im Namen des Herrn Jesus Christus, lasst sie herein‹, befahl mein Mann. Und so blieben die Tore offen.

Ganz vorn ging eine Frau in schmutzigen Lumpen. Sie trug ein Bündel an der Brust, und als ich auf sie zuging, schlug sie das Tuch zurück. Da lag ein Kind. Es war tot, aber die Frau schrie: ›Gebt mir Milch! Gebt mir Milch, dass es nicht stirbt!‹

Und dahinter ging ein Greis an einem Stock. Als er das Tor erreichte, fiel er zur Seite. Speichel lief aus seinem Mund. Sie holten Wasser, gaben ihm zu trinken und schleppten ihn in den ersten Hof. Ein kleines Mädchen klammerte sich an meinen Rock und wimmerte um Brot.

Inzwischen waren die Nachbarinnen zusammengelaufen. Einige standen nur da und gafften, andere ergriffen ein Kind, eine Frau, einen alten Mann und führten sie in ihr Haus. Matthäus und ich nahmen im Pfarrhaus in der Bruderhofstraße so viele auf, wie wir im Hof, im Keller und unterm Dach unterbringen konnten – es müssen wohl an die sechzig gewesen sein. Als immer noch nicht alle eine Zuflucht gefunden hatten, brachten wir sie in die Franziskanerkirche und ließen sie an den Seiten­altären lagern. Es sollte ja nur für ein paar Tage sein.

Der Magistrat der Stadt versammelte sich und gab seine Zustimmung. Der Ratsherr Lukas Hackfurt – sein Name soll nicht vergessen werden! – trat an meine Seite und fertigte Listen an. Allmählich hatten die Menschen begriffen, was zu tun sei. Sie schleppten Wasserkrüge herbei, der Bader versorgte Wunden, die Mütter brachten Milch, und wo ein Säugling in der Familie war, boten sie einer Mutter an, mit ihrem Kleinen dazu zu kommen.

Ich ging von Haus zu Haus. Wo Platz war, bat ich im Namen Jesu darum, noch einen Flüchtling aufzunehmen. Wo ich Familien allein am Tisch sitzen sah, bat ich sie zusammenzurücken. Es gefiel nicht allen, dennoch war eine große Bewegung in der Stadt. Matthäus stand auf dem Marktplatz und predigte: ›Was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan …‹ Und alle wussten: Damit sind auch die Schwestern gemeint – und die Kinder!

Abends wurden die Stadttore geschlossen. Es wurde still nach all dem Lärm in den Gassen. Aus manchen Häusern hörte man Weinen, aber hier und da sangen sie die schönen neuen Lieder: ›Und wenn die Welt voll Teufel wär …‹

Denkt nicht, dass es einfach war: Die Flüchtlinge kamen aus zerstörten Dörfern, die Männer waren im Kampf gefallen oder als Gefangene fortgeführt, gequält, gefoltert worden. Tagelang waren die Menschen unterwegs gewesen, ohne Wasser, ohne Brot. Sie waren schmutzig und brachten Ungeziefer ins Haus, manche kannten auch noch gar keine Latrinen, sondern verrichteten ihre Notdurft an den Straßenecken. Die Frauen in den Häusern hatten ihre liebe Not, ein wenig Ordnung aufrechtzuerhalten. Auch im Pfarrhaus gab es keine ruhige Ecke mehr. Wenn mein Matthäus an seiner Predigt arbeitete, dann ging ununterbrochen die Tür zu seinem Arbeitszimmer, denn auf dem Flur hatte sich eine Familie eingerichtet und die Stroh­säcke für die Kinder lagen neben seinem Schreibtisch. Aber wenn wir hörten, was denen zugestoßen war, die bei uns Zuflucht suchten, wie man ihr Vieh niedergestochen, ihre Häuser angezündet hatte, wie sie das Schreien ihrer Männer, Söhne, Brüder gehört hatten, die man auf den glühenden Rost warf – o Christenmenschen, was tut ihr einander an! –, dann wurden wir ganz still und baten den allmächtigen Vater um Erbarmen.

Ich saß bei der Frau, die mit dem toten Kind an der Brust gekommen war. Wir weinten miteinander. Auch mein Kind war gestorben, nur einige Wochen vorher. Niemand weiß, warum. Es hatte getrunken, in warmen Windeln gewickelt in der Wiege gelegen – und öffnete die Augen nicht mehr. Als der Schmerz mich zerriss und ich zu Gott schrie: ›Warum, Herr, warum?‹, da gab mir mein Herz Antwort: ›Nimm dich der armen Kinder an!‹ Und so begruben wir den kleinen Jungen in geweihter Erde, und gemeinsam suchten wir die Kleinsten auf, die ohne ihre Eltern angekommen waren und nicht wussten, ob Mutter oder Vater noch lebten. Ich hatte in diesen Tagen keine Zeit zu trauern. Bis in die Nacht verteilten wir Nahrung und Kleider überall in den Häusern. Es gab auch manchen Streit zu schlichten. Und Tote zu begraben.

Der Rat nahm, was sich in der Armenkasse fand, die wir eigentlich für die Bedürftigen unserer Stadt eingerichtet hatten. Konnten wir denn ein Kind hungern lassen, nur weil es nicht in Straßburg zur Welt gekommen war? Die Verantwortlichen hatten schlaflose Nächte, und doch war es wie ein Wunder: In den Häusern fragten die Menschen nicht, wer bezahlte. Sie gaben, was sie hatten, und alle wurden irgendwie satt. Es gab keinen Braten, aber Suppe und Brot. Und wir dankten Gott für den Reichtum, der sich in den Kellern fand, und noch mehr für den Reichtum der Herzen.

Ein halbes Jahr sind sie geblieben, dann zogen die Familien, eine nach der anderen, in ihre Dörfer zurück. Sie bauten Häuser auf, soweit noch ein starker Arm da war, um zu bauen. Manche wohnten im Stall. Doch sie begannen, die Felder zu bestellen. Alte starben und Kinder wurden geboren. Aus den Knaben wurden junge Männer. Es war Friede – und nichts schien den Menschen wichtiger.«

– »Aber wie bald, wie bald kam der nächste Krieg! – Ja, Zellin, auch ich war ein Flüchtling mit meinen Kindern.«

Die fremde alte Frau sieht die Lutherin erstaunt an. »Du? Warst du nicht sicher unter dem Schutz des Kurfürsten, der seinen Martin Luther nicht preisgab, nicht dem Kaiser und nicht dem Papst?«

»Nein, auch für mich gab es keine Sicherheit. Ihr habt vergessen, dass mein Martinus vor mir starb. Und wenige Jahre später wurde unser treuer, unser großmütiger Kurfürst Johann Friedrich vom Kaiser gefangen genommen! Wisst ihr nicht mehr, was für ein Entsetzen durch die Reihen der Evangelischen ging? Der Herrscher über das gute protestantische Sachsen – vom Kaiser als Gefangener mitgeführt, zum Hohn und Spott der katholischen Fürsten!«

Und die Lutherin erzählt ihre Geschichte:

»Dem alten Kanzler Brück, der nach Luthers Tod für unser Wohlergehen sorgen sollte, ging es nur darum, mir die Vormundschaft für meine Kinder zu entziehen, die Martinus in seinem Testament mir anvertraut hatte! Ich kämpfte wie eine Löwin. Mitten hinein in diese Auseinandersetzung kam die Nachricht, dass die Truppen des Kaisers sich Wittenberg näherten.

Ein Entsetzen packte die Menschen, und sie sahen mich auf der Straße von der Seite an: ›Die da … die da und ihre Kinder, die sind der Grund …‹ Noch ein paar Monate vorher hatten sie auf dem Markt tiefe Bücklinge gemacht: ›Frau Doktorin‹ hier, ›Frau Doktorin‹ da. Jetzt war ich der Grund für die Gefahr. Warum sonst sollte der Kaiser

seine spanischen Truppen in das kleine Wittenberg

schicken, während der Kurfürst in Torgau residierte? Es konnte nur einen Grund geben: Er wollte die Familie des

aufsässigen Mönchs bestrafen, verbrennen, sein Grab schänden und wahrscheinlich die ganze Stadt in Schutt und Asche legen.

In meinem Herzen hörte ich den Herrn Doktor sprechen: ›Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib …‹, aber als ich die Kinder sah, Paul und Maruschel, die so fröhlich im Garten spielten, als sei das Reich Gottes in Sachsen schon angebrochen – da überwältigte mich der Gedanke, sie würden vielleicht von den Kriegsknechten gefesselt, erschlagen, verbrannt, weil sie die Kinder Martin Luthers waren. Mein Herz wurde schwach, schwächer als jemals zuvor. Gott hat mir verziehen. Das Herz einer Mutter ist ein weiches Ding. Ihr wisst es, Schwestern.

Auch mein treuer Freund, dein lieber Philipp, Frau Nachbarin – auch Melanchthon riet zur Flucht. Ich warf einige Säcke mit Getreide und Gemüse auf den Wagen, Urban, der treue Knecht, hielt die Zügel und wir fuhren in den kalten Morgen hinein. Hinter uns blieb das Schwarze Kloster zurück, die Gärten, das Vieh. Alles, was ich in Jahrzehnten aufgebaut hatte. Und vor mir die Straße, die Sonne, die hinter den Wolken aufging.

Ich wäre gern dahin geflüchtet, wo ich einen Freund wusste, der uns Schutz hätte geben können: Christian von Dänemark. In meinem Rocksaum eingenäht trug ich den Ring, den er mir schenkte, als ich noch die entlaufene Nonne Katharina von Bora war und im Hause Cranachs arbeitete. ›Wenn ich könnte, so würde ich Euch zur Königin machen …‹, hatte er geflüstert.

Natürlich konnte er nicht. Als er mich Jahre später als Hausfrau im Schwarzen Kloster wiedersah, da lächelte er und sagte, als es niemand hören konnte: ›Ich sehe, Ihr seid eine Königin geworden.‹ Treu war er über all die Jahre, schickte uns Fässer mit Heringen und Butter – aber jetzt brauchte ich mehr: eine Zuflucht!

Dänemark war weit, zu weit. Ich nahm die Straße nach Dessau. Als es schon dunkelte und ein heftiger Regen uns alle durchnässte, kamen wir durch ein Dorf. Vor einem großen Bauernhaus hielt ich die Pferde an und bat um ein Obdach für die Nacht.

›Woher kommt Ihr?‹, fragte die alte Frau misstrauisch.

›Aus Wittenberg.‹

›So, so, aus Wittenberg. Dahin ziehen jetzt die Kaiserlichen, hat man gesagt, um wieder Ordnung zu schaffen. War auch nötig. Was hat uns dieser vermaledeite Mönch doch für Unordnung gebracht.‹

Ich erschrak und wusste doch nicht, wie ich für diese Nacht noch eine andere Unterkunft finden sollte.

›Ihr könnt in der Scheune bleiben‹, sagte die Alte und humpelte ins Haus zurück.

In dem Augenblick kam die junge Bäuerin heraus. ›Was redest du da wieder für dummes Zeug, Mutter? Sei froh, dass mal einer den Missbrauch der Sakramente und dies Gerede vom Ablass laut und öffentlich gebrandmarkt hat.‹

›Ach du, ich weiß ja, dass du dich zu denen hältst. Aber es war doch früher alles besser.‹

Die Alte zog sich schimpfend zurück, die junge Frau holte uns in die Stube. ›Wie sieht es aus in Wittenberg? Wisst Ihr etwas von Luthers Frau? Man sagt, der Kaiser wolle sie auf dem Scheiterhaufen sehen.‹

Die Kinder standen neben mir mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen. ›Nein, nein‹, sagte ich, ›Luthers Frau ist in Sicherheit, und noch hat kein spanischer Soldat Wittenberg betreten.‹

Wir verbrachten die Nacht in der Scheune und zogen am Morgen weiter. Von fern sahen wir die Türme Magdeburgs, wo unser Freund Amsdorf Bischof war. Aber auch dort hatten die Leute Sorge: ›Sollen wir sie beherbergen? Ziehen wir uns nicht des Kaisers Zorn zu?‹

Melanchthon hatte versprochen, uns Nachricht zu senden, wie es in Wittenberg gehe. Ich wartete bange Wochen. Die Truppen des furchtbaren Alba verwüsteten Sachsen. Wohin sie kamen, brannten die Häuser und die Kirchen, die man alle für lutherische Kirchen hielt. Wo sie einen Pfarrer im schwarzen Rock fanden, verprügelten sie ihn und warfen ihn aus dem Fenster oder in die Jauchegrube. Mancher von den treuen Brüdern opferte sein Leben für den guten evangelischen Glauben. Und die Soldaten erreichten Wittenberg.

Jemand hatte ihnen wohl gesagt: ›Hier hat er gewohnt!‹ Sie warfen Feuer in das Schwarze Kloster. Aber die alten Mauern – Gott sei’s gedankt! – widerstanden. Nur alle Äcker, alle Gärten, das Vieh, die Ställe: Sie tobten, nahmen, was sie essen konnten, zerstörten, was für sie unbrauchbar war, und über den Marktplatz näherten sie sich der Schlosskirche. Melanchthon hat es mir geschrieben: Die Menschen, versteckt in ihren Häusern, hielten den Atem an. Es hieß, der schwarze Herzog, Alba der Schreckliche, sei in die Kirche gegangen. Seine Soldaten standen vor der Tür und warteten auf den Befehl einzudringen. Das Grab aufzubrechen, den kaum verwesten Leichnam zu schänden: Das war es, worauf sie hofften. Als könnte damit alles zuschanden werden, was der große Mann gedacht und getan hatte. Aber es kam anders, und als ich in Magdeburg die Kunde hörte, wollte ich es nicht glauben, sank auf die Knie und lobte Gott unter Tränen, denn er hatte sich zu seinem Knecht bekannt, hatte noch den, der im Grab lag, mit seinem Schutz umgeben. Nichts geschah! Mit dröhnenden Schritten verließ Alba die Kirche und versiegelte die Tür.

Die Truppen zogen ab. Wir kehrten zurück und fanden, dass die Mauern des Klosters noch standen. Die Mägde kamen aus den Dörfern, wo sie sich versteckt hatten, und wollten wieder bei mir arbeiten. Auch einige Studenten bezogen ihre alten Zimmer und warteten, dass neue Vorlesungen an der berühmten Wittenberger Universität beginnen würden. Aber es dauerte nicht lange, dann hieß es: ›Sie kommen zurück! Die Kaiserlichen kommen noch einmal!‹ Wären die Kinder nicht gewesen: Ich wäre geblieben!«

– »Was für ein Elend, Lutherin! Und doch hat Gott dich bewahrt.«

»Ja, aber wir flohen wenig später wiederum und kamen noch einmal zurück. Der Weg nach Dänemark war zu weit, zu viel Kriegsvolk unterwegs. Zu viel Not in den Häusern, als dass sie noch etwas hätten abgeben können. Wieder war alles durchwühlt, geplündert. Wieder versuchte ich neu anzufangen. Aber die Kraft reichte nicht mehr. Es blieb bei den notdürftigsten Reparaturen. Und wer wollte schon in dem zweimal verwüsteten Haus wohnen? Ich hatte kein Geld mehr, die Mägde zu bezahlen, nur unser alter Knecht blieb bei mir, aus Treue, nicht, weil ich es ihm bezahlen konnte. Und doch gelang es mir noch einmal, ein wenig Leben in die alten trutzigen Mauern zu bringen. Aber dann war es die Pest, die uns endgültig vertrieb …«

– Alle kennen sie: die Geißel, mit der Satan die Menschen schlug – und Gott ließ ihn gewähren. Was mit Kraft und Glauben aufgebaut wurde, fiel in sich zusammen. Die Kinder – in Liebe empfangen, in Verantwortung erzogen – wurden hinweggerafft wie Blumen auf dem Feld. Keine weiß davon so viel zu erzählen wie die stille Frau Wibrandis.

»Erzähle du von der Pest, Wibrandis!«, sagt die Zellin.

Verspottet, geachtet, geliebt - die Frauen der Reformatoren

Подняться наверх