Читать книгу Elfenzeit 8: Lyonesse - Uschi Zietsch - Страница 10
2.
Ein Tuch in der Wüste
ОглавлениеDer zerfledderte schwarze Fetzen trieb dahin. Trieb über die Welt und suchte nach einem Anker. Mehrmals drohte er abzustürzen, doch jedes Mal geschah es wie durch ein Wunder, dass er davor bewahrt wurde.
Winde kamen auf, aus aller Welt, und bliesen das Tuch weiter.
Sarma war der Erste, brauste von Norden her und trieb den Fetzen übers Meer, und dann übernahmen die Polaren Ostwinde und pusteten ihn voran.
Er wirbelte durch den Äther, und jede Richtung war die seine, es spielte keine Rolle. Auch die Winde ließen die Grenzen fallen, jagten sich gegenseitig über die ganze Welt und spielten dabei mit dem Tuch. Selbst der kleine Joran wagte sich dazu, während Pampero sich aufblies, Galerne und Poniente stritten miteinander und lösten ein Gewitter aus, Baguio und Karif und wie sie alle hießen … bis Zephyr und Boreas, die Göttlichen, eingriffen.
»Die ganze Welt ist durcheinander!«, fuhren sie wütend zwischen die Winde und zerstreuten sie. »Seht es euch an, Blitz und Donner, Schnee und Hagel, Taifun und Tornado! Das muss ein Ende haben!«
Es war nicht ganz so schlimm, die meisten Entladungen spielten sich hoch in den Sphären ab und entrangen den Menschen höchstens staunende Laute, wenn sie seltsame Wirbel und Lichterscheinungen sahen. Schnee und Regen waren oft schon verflüchtigt, bevor sie die Baumkronen erreichten – dennoch, das eine oder andere ungehorsame Unwetter kam durch und verwüstete so manchen Hof und kleine Wäldchen.
»Der Klimawandel«, sagten die Menschen dazu und nickten weise. »Das ist der Beweis. Zuletzt erlebten wir es über Island. Wir müssen Milch und Honig abschaffen.«
»Hört ihr?«, fauchte Boreas.
Die einen Winde säuselten: »Wir wollten doch nur helfen!«, die anderen brausten: »Wir folgen der Bestimmung!«
»Ihr folgt uns«, befahlen die Göttlichen und bliesen sie endgültig davon.
Boreas ballte ein paar Wolken zusammen und bettete das Tuch darin. Zephyr nahm es in Augenschein.
»Da ist wohl nichts mehr zu machen«, stellte Boreas fest.
»Dieser Fetzen wird kaum mehr zusammengehalten«, stimmte Zephyr zu. »Aber ich spüre noch einen Rest …«
Boreas strengte seine göttlichen Sinne an. Dann glätteten sich die Wirbel auf seiner Stirn. »Wahrhaftig«, rauschte er. »Da ist noch etwas.«
»Fast erloschen«, stellte Zephyr fest.
»Was können wir tun?«
»Ich weiß es nicht.«
»Anfachen?«
»Nein.«
»Ausblasen? – Schon gut, ein Scherz, verzwirble dich nur nicht gleich.«
Schweigend starrten sie auf den schwarzen Fetzen, der trotz der wolkenweichen Wärme zitterte. Ab und zu glühte er am Rand auf, doch jedes Mal schwächer.
»Es dauert wohl nicht mehr lange«, bemerkte Boreas.
»Das dürfen wir nicht zulassen«, sagte Zephyr.
Sie zogen sich zusammen, als glitzernder Nebel sich über ihnen herabsenkte.
Bringt ihn zum Anfang der Last.
»Zum … äh … wie?«, fragte Boreas verunsichert. Er galt normalerweise als der aufbrausendste aller Windbrüder, und zugleich als der mächtigste. Doch nicht als der klügste.
»Ich weiß, was er meint«, sagte Zephyr prompt. »Ich bin der Wind des Südens und der Wärme, Bruder, du hingegen treibst den Winter vor dir her. Dein Verstand ist ein Eiszapfen.«
Eilt euch. Mein Bruder kann sich nicht mehr lange halten.
»Also auf nach Hyperborea, wo das Paradies wartet!«, rief Boreas. »Ha, ha.« Mit seinem donnernden Gelächter jagte er die erschrockenen Wolken in die Flucht, und das Tuch verlor den Halt und trudelte dem Erdboden entgegen.
Der glitzernde Nebel wetterleuchtete, und Boreas beeilte sich, den Fetzen aufzufangen und wieder nach oben zu tragen.
»Fast dran, Bruder«, brauste Zephyr. »Doch die Reise wird nicht ganz so weit gehen.«
Boreas wiegte das löchrige Schwarz. »Ich hoffe, Zephyr weiß es wirklich«, sagte er zu dem glitzernden Nebel. »Es ist schon fast nichts mehr da.«
Deshalb bitte ich euch ja um Hilfe.
»Die wir keinesfalls verweigern«, säuselte Zephyr. »Wir sind schließlich beinahe Brüder. Und bei all dem, was geschieht, kann man froh sein, wenn man seinen Beitrag leisten darf. Nach so langer Zeit! Ich fühlte mich schon ganz kraftlos.«
Wir alle brauchen Kraft. Gebt ihm die seine zurück. Die Aufgabe meines Bruders ist längst nicht beendet, und ich wage erst wieder, die Augen zu öffnen, wenn ich ihn in Sicherheit weiß.
Die göttlichen Windbrüder flauten betroffen ab. Beinahe wäre der Fetzen wieder abgestürzt … oder vielmehr, hinabgesegelt. Doch Boreas bewahrte geistesgegenwärtig einen letzten Hauch Auftrieb, der das Tuch festhielt und sanft nach oben schaukelte.
»Nebelbruder«, wisperte Zephyr, »wenn du Furcht empfindest …«
Meine Furcht ist nicht die eure. Und nun eilt euch. Habt dank, Windbrüder.
»Zu deinen Diensten«, antworteten die göttlichen Brüder höflich, doch der Nebel hatte sich bereits aufgelöst.
»Also, wohin nun?«, forderte Boreas seinen Bruder neugierig zur Preisgabe auf.
»Gib ihn mir.« Zephyr wollte nach dem Fetzen greifen, doch Boreas blies ihm einen wirbelnden Wall entgegen.
»Kommt nicht in Frage! Du willst dich allein auf den Weg machen!«
»Ja. Denn du musst hierbleiben, Boreas, und Wache halten.«
»Wofür denn?«
»Für alles, bei den Olympiern!«
»Die sind fort, schon vergessen?«
»Aber wir sind noch da, auch vergessen?«
»Wir sind ja schließlich Winde, wir währen ewig.«
Zephyr seufzte mit einem pfeifenden warmen Windstoß. »Schütze einfach die Sphären«, sagte er schließlich.
»Ach so!«, rief Boreas viel zu laut und löste versehentlich einen weiteren trockenen Donnerschlag aus.
»Ein Überschallknall von einem Militärflieger«, sagten die Menschen unten und sammelten die Scherben ihrer Gläser ein, die aus den Regalen gesprungen waren.
Zephyr konnte sich kaum mehr zurückhalten, er rotierte schon wie ein Tornado. Doch bevor er den Mund öffnen konnte, wiederholte Boreas flüsternd:
»Ach so.«
Er grinste seinem Bruder verlegen zu, hob die Schultern und brauste davon, wobei er gerade noch einem Airbus auf dem Weg in weite Ferne auswich. Es kam zu mäßigen Verwirbelungen, aber dergleichen waren die Piloten gewöhnt, sie manövrierten das Flugzeug sicher hindurch.
Zephyr nahm den Fetzen und trug ihn weiter zu seinem Bestimmungsort. Über der Sahara, an einem bestimmten Punkt, sprang das Tuch plötzlich aus seinem Arm und sank zu Boden hinab.
»Na schön«, säuselte Zephyr achselzuckend, »deine Wahl. Mach das mit deinem Bruder aus – ich habe getan, was ich sollte. Gib mir nicht die Schuld, wenn es schiefgeht!« Er blies die Backen auf, schlug um und wehte davon.
Sanft schaukelte das Tuch hernieder. Kreisrunde Felder breiteten sich unten über die Wüste aus, die graugelb bis mattgrün waren. Die künstlichen Oasen von Al Kufrah, die die Wüste Libyens einstmals grün machen sollten.
Ein Erinnerungsfetzen im Tuch wusste davon. Und wusste auch, warum gerade hier die Menschen den Versuch erneut unternahmen, fruchtbares Gebiet der Wüste abzutrotzen. Ein rot leuchtendes Band zog sich unter dem gigantischen Wasserspeicher unterhalb des Wüstenbodens hindurch. Kein Wasserbohrer konnte es jemals erreichen, denn es lag zu tief. Und doch bezogen alle Quellen ihre Energie davon und hatten einst das kostbare Reservoir erzeugt.
Sie war die mächtigste Ley-Linie von allen, die erste, die aus der Geistersphäre entstand, als die Erde noch jung gewesen war.
Am Rande der bewirtschafteten Kufrah-Oasen gab es Relikte alter Palmengründe, verlassen und nicht von wirtschaftlichem Interesse. Doch sie führten Wasser, und alte Palmen boten Schatten für scheue Tiere.
In einer solchen kleinen Wassersenke, die am Ufer von mattem Grün überzogen war, gesäumt von einem leise raschelnden Palmenhain, ging das Tuch nieder. Lag halb im Sand, halb im Wasser und saugte sich voll, bis das Gewebe schwarz glänzte.
Eine unscheinbare graubraune Schlange züngelte aus einem Sandloch nahe dem Wasser hervor, dann glitt sie heraus und auf das im Schatten liegende Tuch zu. Die gespaltene Zunge tastete über den Stoff, der mehrmals kurz zuckte. Die Schlange versenkte den Schwanz im Sand, öffnete den Rachen, dass die mächtigen Giftzähne hervorsprangen, und hauchte ihren kalten Atem über den Fetzen. Eine milchige Flüssigkeit tropfte von den Zähnen herab und sickerte zischend in das Gewebe ein. Dampf stieg daraufhin auf, ein rotes Glühen umgab Tuch und Schlange, das sich zuletzt in glitzernden Nebel auflöste.
Als dieser sich verzog, lag der Schattenmann am Ufer. Er war nicht körperlich, wirkte durchscheinend, aber sein Brustkorb hob und senkte sich im Atmen. Noch war er nicht viel mehr als eine dunkle Kontur, kaum greifbar, ohne erkennbare Strukturen. Ein diffuser Schatten …
Die Schlange zischelte leise, dann glitt sie lautlos zurück in ihr Loch.
Der Schattenmann verharrte still. Er war sich seiner selbst noch nicht bewusst und konnte nur fühlen. Die Ader, die tief unter ihm glutrot pulsierte. Seine Erinnerungen, die bruchstückhaft, in Lichtblitzen, durch seine Finsternis huschten. Sie ergaben keinen Sinn, konnten sich nicht zusammensetzen. Doch sie waren wichtig, jede Einzelne von ihnen.
Schmerz empfand er keinen, ebenso wenig konnte er eine Verbindung zu dieser stofflichen Hülle aufbauen, die versuchte, sich zu stabilisieren. Wofür war sie da? Um ihn aufzunehmen? Er wusste es nicht mehr.
Er spürte die Feuchtigkeit des Wassers, die durch seine Hülle strömte und ihr half, sich aufzubauen. Er wusste von der Schlange, die ihm geholfen hatte, und von dem Sandteufel, der heute Nacht auf sie lauern würde. Er fühlte den Wolkenschatten, der eilig über ihn hinwegglitt, und hörte das Flüstern des Windes. Doch er konnte ihn nicht verstehen.
War es denn überhaupt von Bedeutung? Weshalb blieb er? Warum waren die Erinnerungen wichtig?
Halte dich fest, flüsterte etwas in ihm.
Warum?
Nur du kannst es.
Was bedeutet Festhalten?
Du musst verstehen.
Was bedeutet Verstehen?
Begreife den Sinn.
Wie kann ich das?
Das Flüstern verstummte. Was brauchte es einen Schatten zu kümmern? Er war nur ein Umriss, eine leere Hülle. Etwas, das überflüssig war. Er war es zuvor niemals gewesen … ein Schatten.
Wieder eine Erinnerung, die er nicht verstand.
Er war schwer vom Wasser, schien hinabgesogen zu werden in einen tiefen Abgrund. Unmöglich, sich dagegen zu wehren; er würde verschwinden, für immer.
Ein sandfarbenes Wesen kam herangetrippelt, winzig, mit riesigen Hinterfüßen und großen Ohren. Es hüpfte mehr, als dass es lief, und würde wahrscheinlich in den Rachen der Schlange passen, wenn sie das Maul weit genug aufriss. Die kleine schwarze Nase zuckte. Das Wesen schnüffelte ihn ab, leckte Wassertropfen auf. Welch eine Erleichterung. Er spürte die zarten Füßchen, als das kleine Tier über ihn hinweglief und die Tropfen aufnahm. Dann war es plötzlich verschwunden, und er fühlte sich besser. Leichter.
Die Helligkeit ließ nach. Der Schattenmann spürte die Wanderung der Sonne und die Veränderung ihrer Farben. Der Zustand um ihn herum änderte sich. War es … Kälte?
Ja. Kälte war ihm vertraut, ebenso wie ihr Gegenteil, die Wärme, die ihm jetzt begreiflich wurde. Es war etwas Ursprüngliches, ein Teil seines Selbst.
Das Licht war fort, Dunkelheit hüllte ihn ein. Sie war nicht so tief wie die Finsternis in ihm, durchsetzt von glitzernden Punkten. Er konnte sie wie kleine Funken wahrnehmen, und auch sie waren ein Teil von ihm.
Die Kälte kroch in das Gewebe, ließ das Wasser erstarren, vermittelte ihm neue Eindrücke, die er schon lange vergessen hatte.
Der Schattenmann ruhte.
Am Morgen stand ein Mann, der ein weißes Dromedar am Zügel führte, neben ihm. Er ließ den Strick los und kniete bei dem Schattenmann nieder. Nachdem er ihn ausgiebig in Augenschein genommen hatte, griff er in eine Tasche seines dunkelblauen Übergewandes und förderte ein Döschen zutage, das er behutsam öffnete. Hauchfeiner Staub befand sich darin, von dem der Mann eine Prise zwischen Daumen und Zeigefinger nahm und diese über die schemenhafte, wie Nebel wabernde Gestalt blies.
Der Staub fiel auf stoffliches Gewebe und sickerte dann ein. Der Schattenmann atmete tiefer. Dann schlug er die Augen auf. Langsam drehte er den Kopf und richtete seinen Blick auf den Mann. Seine Augen waren völlig schwarz, starr und leer, mit einer spiegelnden Oberfläche.
Der Nomade öffnete den indigoblauen Gesichtsschleier des Aleshu und offenbarte ein tief gebräuntes, hageres Gesicht, dessen alte Haut sich in hunderte Fältchen legte, als er lächelte.
»Ayoub«, sagte er und wies auf sich.
Der Schattenmann öffnete den Mund und versuchte zu sprechen, was ihm erst nach einer Weile gelang. Seine Stimme klang wie der ferne Wind der Wüste. »Du bist Imuhagh«, hauchte er. »Targi.«
Der Mann der Wüste nickte und grinste breiter. »Du hast einen weiten Weg hinter dir, scheint mir.«
Der Schattenmann ging nicht darauf ein. »Fürchtest du nicht den Totengeist, der dir in den Mund kriecht, weil du dein Gesicht entblößt?«
»Ich fürchte niemanden. Und du bist weder tot noch Geist.«
»Du täuschst dich …«
»Schweig still, Schattenmann. Ich kenne dich. Ich gebe dir, was du brauchst.« Ayoub hielt die flach ausgestreckte Linke über den Brustkorb des diffusen Wesens, die Rechte presste er fest in den Sand. Bald darauf glühte die rechte Hand wie von einem inneren Licht auf, und dann schoss ein Blitz aus dem Boden hervor und schlug in den Schattenmann ein.
Der Imuhagh löste die Verbindung und sank erschöpft in sich zusammen. Um nicht zu viel Flüssigkeit zu verlieren, schlug er das Tuch um den Mund. Jeder Atemhauch war zu kostbar, um in der Wüste verschwendet zu werden. Aus trüben Augen beobachtete er, wie der Schattenmann stofflicher wurde, das unstete Flackern der Gestalt hörte auf. Eine lange Kutte bildete sich schützend um ihn, Stiefel und Handschuhe, und dann richtete er sich auf und schlug die Kapuze über. In der Finsternis darunter entstanden zwei glühende Sterne dort, wo zuvor lichtlose Augen gewesen waren.
»Ich schulde dir Dank, Ayoub«, sprach der Schattenmann mit deutlich voluminöser Stimme, die an Tiefe gewonnen hatte.
»Du schuldest mir nichts«, winkte der Imuhagh ab. Er spürte den Blick des Verhüllten tief in sich dringen.
»Du bist eine wandernde Seele«, stellte er fest. »Mir ist, als müsste ich dich kennen … doch ich bin noch kaum bei mir.«
»Wir kennen uns tatsächlich«, stimmte Ayoub heiter zu. »Wie nennst du dich in dieser Epoche, mein Freund?«
»Wie in jeder.« Ein kurzes Zögern, als wäre er unsicher, dann sagte er langsam: »Ich bin … der Getreue. Doch abgeschnitten von dem, dem ich Treue schulde … ich kann mich nicht mehr erinnern …«
»Du bist auf der richtigen Fährte.« Ayoub deutete auf den Boden. »Instinktiv hast du die lebensrettende Ader gefunden. Sie ist immer noch stark, und deswegen bin auch ich immer noch hier. Mein ganzes langes Leben bewege ich mich an ihr entlang, und ich bin es nie müde geworden.«
»Warum bist du hier?«
»Der Wind flüsterte es mir und wies mir den Weg. Ich kam, um zu helfen.«
Der Getreue schien nachzudenken. »Wie viele von deiner Sorte gibt es noch?«
Ayoub hob die Schultern. »Nicht mehr viele, glaube ich. Die Geistersphäre leert sich. Es ist sehr still geworden, seit die Erste von uns gegangen ist …«
Der Getreue stieß einen schmerzvollen Laut aus. »Island …«, flüsterte er. »Ich erinnere mich, dort gewesen zu sein …«
»Etwas geschah, das alle Sphären erschütterte«, sagte Ayoub. »Und hier verändert sich seither die Sphäre. Die Grenzen sind geöffnet …«
»Warum bist du allein, Ayoub? Wohin gehst du?«
»Ich reise zumeist allein, doch wenn ich es möchte, finde ich überall gute Gastfreundschaft. Ich gelte als heiliger Mann, und außerdem bin ich reich. Mein Clan verwaltet mein Vermögen, längst ist er sesshaft geworden und der Gier nach Reichtum erlegen. Meine Leute sind keine Berber mehr und noch weniger Tuareg. Ich aber bin Nomade geblieben, ich kann nichts anderes sein. Meine Seele wohnt schon so lange hier, sie ist ein Teil der Wüste. Und wohin ich gehe? Als ob du das nicht wüsstest.«
Der Getreue schüttelte leicht den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich müsste es wissen, aber dem ist nicht so. Die Erinnerungen kehren nur langsam wieder … die Kenntnis …«
Ayoub wies auf die Wüste. »Ich gehe nach Gewas.«
»Die Oase Gewas? Ich kenne sie. Das … das Paradies? Du weißt, dass niemand sie finden kann, der sie sucht?«
»Und deswegen bin ich unterwegs. Meine Suche ist das Ziel. Wer hat mir das wohl beigebracht? Und sage nicht, die Oase gibt es nicht – Kufrah könnte es dereinst werden, seit ich den ersten Ölturm setzen wollte und Wasser fand, auch wenn es immer wieder Rückschläge gab.« Ayoub stand auf und klopfte sich den Sand aus der Kleidung. Sein Dromedar hatte sich inzwischen satt getrunken und Büsche abgeweidet. Jetzt senkte es den langen Hals und musterte seinen Herrn aus großen, sanften dunklen Augen, die von dichten Wimpern beschattet wurden. Die Mundwinkel waren leicht nach oben gezogen, als ob es lächelte. Ohne dass Ayoub etwas sagen musste, kauerte es sich hin. Die beiden zogen schon so lange gemeinsam durch die Wüste, sie verstanden sich ohne Worte und Befehle.
»Das verstehe ich nicht«, sagte der Getreue.
»Du wirst es, sobald du zu dir selbst gefunden hast«, erwiderte Ayoub und schwang sich in den Sattel, verschränkte die Beine vorn am Hals. »Deswegen musst auch du dich auf die Suche begeben.« Mit der Gerte wies er nach Süden. »aṣ-ṣaḥrā’ al-kubrā«, sagte er melodiös, mit erstaunlich junger Stimme. »Die sehr große Wüste.« Dann wies er nach Norden, wo sich graue Berge am Horizont abzeichneten. »baḥr bilā mā. Das Meer ohne Wasser. Geh Richtung Meer, durchquere die Wüste und gelange zum Ozean. Dort findest du den Anfang und den Träger. Das ist dein Weg, so wie der meine … die entgegengesetzte Richtung ist. Sei standhaft – du hast gut und gern neunhundertfünfzig Kilometer Weg vor dir.« Er zwinkerte.
Das Dromedar stemmte sich leise grunzend hoch und ragte schneeweiß über dem Getreuen auf. Unermüdlich wiederkäute es und drehte leicht den Kopf, als wolle es die Richtung erraten, in die es seinen Herrn gleich tragen würde.
»Warum?«, fragte der Getreue ratlos.
»Das fragst du?« Ayoub lachte leise. »Sieh es als Schuld an, die ich beglichen habe. Ich gebe dir zurück, was du mir einst gemacht hast. Das ist nur fair. Leb wohl!« Er schnalzte und zog am Riemen, während ein Fuß leicht an den Hals klopfte. Das Dromedar wendete und schaukelte im flinken Pass-Trab mit seinem Herrn in die wasserlose Dürre hinein.
Hitze breitete sich aus, und der Umhang des Getreuen dampfte. Er stemmte sich hoch und stand eine Weile gekrümmt, schwankend da. Nur langsam kehrte das Gefühl in die Gliedmaßen zurück, das Bewusstsein, einen Körper zu besitzen. Diese Existenzform war schwer, aber auch sehr intensiv. Er würde sich daran gewöhnen – falls er es schaffte, zu überleben. Das war nämlich noch keineswegs gewährleistet. Im Augenblick war er dankbar, überhaupt den Weg zurück gefunden zu haben und sich soweit zu sammeln, dass er neu beginnen konnte. Aber mehr als halbstofflich war er noch nicht.
Haltsuchend taumelte er zu einer Palme und stützte sich schweratmend dagegen. Nicht viel mehr als ein Fetzen wehenden Tuches, und doch zerrte ein schweres Gewicht an ihm.
Wer auch immer dafür gesorgt hatte, dass er Hilfe bekam, dem gebührte Dank. Aber hoffentlich war es nicht verfrüht. Als die Hand des Getreuen plötzlich durch den Stamm fiel, rutschte er haltlos zu Boden. Seine Gestalt flackerte erneut, bevor sie sich wieder einigermaßen verstofflichte.
Die Geistersphäre.
Der Getreue war erleichtert, als ihm dies einfiel. Dort stand sein dunkler Turm, der ihm die Kraft zurückgeben würde, die er brauchte.
Er konnte sich nicht erinnern, wieso er hier war, was ihn an den Rand der Vernichtung getrieben hatte. Island … dort musste es geschehen sein. Aber was?
Der Turm, er war jetzt sein Anker. Erst einmal in seiner Kammer, würde sich alles von selbst ergeben und klären.
Der Getreue konzentrierte sich und tauchte in die Geistersphäre ein. Doch er erreichte nicht mehr als das Zwischenreich. Weit in der Ferne sah er seinen dunklen Turm aufragen, aber er war zu schwach, um dorthin zu gelangen. Dieser Weg blieb ihm verwehrt.
Keuchend sank er in sich zusammen. Alle Mühe vergebens, er würde das wenige Leben, das ihm geblieben war, verlieren. Was hatte Ayoub gesagt? Das Meer ohne Wasser … die Oasen namens … Kufi? Kari? Kufrah! Und Gewas! Das war es!
»Libyen«, murmelte er. »Ich bin in Libyen.«
Kein besserer Ort hätte es sein können. Hier hatte alles begonnen. Von hier aus waren die Ersten aufgebrochen. Ayoub hatte es gewusst und ihm deshalb den Weg nach Norden gezeigt, zum blauen Meer. Dort gab es Rettung für ihn und … und …
Wem gilt meine Treue?
Wer muss sterben, wenn ich nicht zurückkehre?
Er zerbrach sich den Kopf, aber er konnte sich nicht erinnern. Doch es galt, keine Zeit zu verlieren. Eine Menge stand auf dem Spiel. Sprach Ayoub nicht auch darüber? Dass die Grenzen sich verschoben und öffneten, und dass alles sich veränderte?
Auf allen vieren kroch der Getreue zum Wasser, um noch einmal zu trinken, bevor er aufbrach. Er beugte gerade den Kopf über das sandige Ufer, als er einen dunklen Schatten bemerkte. Und dann geschah es auch schon.
Etwas schoss aus dem Wasser hervor, riesengroß und graugrün, stank nach Moder und Verwesung, und schnappte mit langem Maul, in dem faulige Zähne steckten, nach dem Getreuen.
Dass die Bestie schon sehr alt war, war sein Glück. Und dass der Getreue früher eine unglaublich schnelle Reaktionsfähigkeit besessen hatte, ebenfalls. Auch wenn davon nicht mehr viel übrig war – er war immer noch schneller als ein Mensch. Und um ein wenig schneller als die Panzerechse.
Der Getreue warf sich zur Seite, und das Maul schnappte nur Luft. Klickend, klirrend krachten die schief stehenden Zähne zusammen, und das Tier stieß einen grunzenden Laut aus, als einige zersplitterten und herausfielen. Der Gestank, der daraufhin dem wieder halb geöffneten Rachen entströmte, färbte die Luft grünlich.
Doch das konnte das Krokodil nicht aufhalten. Es fuhr herum, peitschte das Wasser mit dem wild schlagenden Schwanz auf, während es an Land kam, den Körper mit den seitlich am Leib gelegenen Beinen hochstemmte und den Getreuen erneut angriff. Wieder konnte er sich im letzten Augenblick zur Seite werfen, doch er kam nicht schnell genug hoch und musste halb kriechend, halb robbend ausweichen.
Schließlich rollte er in einem günstigen Moment unter die Echse, seine Arme schossen nach oben und legten sich um das Maul des Krokodils und hielten es zu.
Eine über sechs Meter lange Panzerechse hatte keine natürlichen Feinde mehr und war ein tödlicher Gegner. Mit einem Schlag ihres Schwanzes konnte sie die Knochen eines Elefanten zertrümmern. Einmal zugebissen, konnte nichts mehr dem Rachen entkommen, und selbst Schwergewichte wurden mühelos ins Wasser geschleppt. Der Druck beim Zubeißen lag bei über einer Tonne. Aber das Maul zu öffnen, wenn es einmal geschlossen war – dafür besaß ein Krokodil keine Muskelkraft.
Der Getreue umklammerte die Schnauze, gleichzeitig schlang er die Beine um den Leib der Echse, die sich wütend zur Wehr setzte und sich wild wand. Aber an der verletzlichen Bauchunterseite konnte sie den Gegner nicht erreichen. Der Getreue ließ sich trotz der heftigen Bewegungen nicht abschütteln und umklammerte die Echse so lange, bis sie in ihrer Gegenwehr endlich ermattete und Richtung Wasser strebte, um sich in Sicherheit zu bringen. Als sie dabei eine Sandgrube durchlief und auf der rechten Seite einsank, brachte der Getreue sie aus dem Gleichgewicht und zu Fall.
Das Krokodil war alt, nicht mehr allzu sicher auf den Beinen, durch den unerwarteten Verlauf des Kampfes verwirrt und nur noch auf die Flucht ins Wasser konzentriert. Sein Gehirn war nicht größer als eine Nuss, es konnte nicht flexibel auf Veränderungen reagieren. Obwohl sein Gegner körperlich weit unterlegen war, war es ihm nicht gewachsen.
Während die Echse stürzte und der Getreue obenauf kam, achtete er auf die empfindliche Stelle am Hals, wo die Hauptschlagader verlief, knapp unter dem gewaltigen Kieferknochen. Er schlug die gestreckten Finger hinein, woraufhin die Panzerechse augenblicklich bewusstlos zusammensackte, und riss die spröde Haut auf. Seine Zähne vergruben sich im Hals, seine Zunge fing das hervorsprudelnde Blut auf, und er trank gierig.
Das Krokodil kam nicht mehr zu sich und starb, während es dem Getreuen sein Leben gab. Mit seinem Blut nahm der Verhüllte zugleich seine Geschichte und die seiner Vorfahren in sich auf.
Das Tier war über hundert Jahre alt, die meiste Zeit seines Lebens hatte es im Schlaf verbracht, um den Hunger und die Dürrezeiten zu überstehen. Es war der letzte Nachkomme einer Gruppe Nilkrokodile, die vor Jahrtausenden durch einen Flusslauf hierher gelangten und an einem See gelebt hatten, bevor das Wasser schwand und das Land zur Wüste wurde. Sie waren immer weniger geworden und in den letzten neun oder mehr Jahrzehnten hatte es nur noch einen Überlebenden gegeben.
»Du hast dein Leben gehabt«, brummte der Getreue, nachdem er sich gestärkt hatte und spürte, wie das Blut des Krokodils durch seine Adern floss. »Du bist nicht sinnlos gestorben.«
Er stand auf und streckte sich, fühlte, dass er nun die Kraft hatte zu gehen. Ihm blieb nicht viel Zeit, aber immerhin war er nicht mehr hilflos.
Ohne das tote Fossil noch eines Blickes zu würdigen, ging er Richtung Norden.