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6.
Die Reise zurück 1

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Kurus lief geschwind, seine mächtigen Pranken schienen den Boden kaum zu berühren. Das Gelände war durchgehend felsig, von wenigen Geröllhalden abgesehen, die der junge Mantikor mit weiten Sätzen durchquerte. Obwohl er Jahrhunderte in dem winzigen Schacht eingesperrt gewesen war, beherrschte er seinen Körper ausgezeichnet, und in seinen Muskeln steckte Kraft.

Mantikore waren erstaunliche Geschöpfe, in deren Adern nicht nur Blut, sondern auch pure Magie floss, mehr als bei anderen. Und sie gehörten zu den tödlichsten Wesen, die von den Menschen nicht zu Unrecht als grausame Ungeheuer gefürchtet waren.

Kurus allerdings musste dies erst bewusst werden, bisher war er völlig unschuldig und noch leicht zu führen. Das würde sich vermutlich bald ändern. Bis dahin verkürzte der Getreue seinen Weg durch die Wüste auf angenehme Weise. Als der Mantikor den ersten Gipfel erreichte und sich nun das Ausmaß des Gebirges in seiner ganzen steinernen Einöde zeigte, war der Verhüllte deutlich erleichtert. Ob er diese Strecke in seinem gegenwärtigen Zustand ohne Hilfe bewältigt hätte, war fraglich.

Er hasste seine Schwäche, doch er konnte es nicht abwenden. Auf andere angewiesen zu sein war eine neue Erfahrung. … oder? Um Kurus bei Laune zu halten, vermittelte er ihm das versprochene Wissen. Der Junge gefiel ihm, er war ein unbeschriebenes Blatt, das er nun ganz nach Belieben mit Worten und Bildern verzieren konnte. Kurus war wissbegierig und saugte wie ein Schwamm alles in sich auf, er begriff schnell, und sein Gedächtnis arbeitete von Stunde zu Stunde besser. Er konnte bereits längere Passagen fehlerfrei rezitieren.

»Werde ich die Mantikore wieder zur Blüte führen?«, fragte er, während er mit einem weiten Satz eine tiefe Kluft überwand. »Hat mein Muttervater mich dafür ausersehen?«

»Das musst du ihn fragen«, antwortete der Getreue.

»Vorausgesetzt, er lebt noch – wie kann ich ihn finden?«

»Indem wir in der Zeit zurückgehen.«

Der junge Mantikor stieß einen jubelnden Schrei aus. »Dann habe ich nie Zeit verloren, nicht wahr? Ich kehre an meinen Ursprung zurück!«

»So wie ich«, sagte der Getreue.

»Und ist unsere Begegnung dann ein Zufall?«

»Da müsste ich wiederum meinen Bruder fragen. Und er würde vermutlich sagen: nichts ist vorherbestimmt, und nichts geschieht zufällig.«

»Was für ein Unsinn!«, meinte Kurus.

»Er will damit ausdrücken«, sagte der Getreue ruhig, »dass es keine singulare Linearität gibt. So, wie die Menschen die Zeit wahrnehmen, ist es nur eine sehr beschränkte Sichtweise, die lediglich einen Ausschnitt des großen Ganzen erfasst.«

»Und sie sind nicht in der Lage, mehr zu sehen?«

»Nein. Aber du. Hör mir also weiter zu.«

»Ja, Herr.«

»Sei weiterhin ein braver, aufmerksamer und gelehriger Schüler.«

»Danke, Herr.«

Kurus galoppierte weiter, während das Gebirge immer schroffer und abweisender wurde. Nichts lebte hier mehr, nur selten streifte ein Geier hoch oben darüber hinweg, auf der Suche nach einem verirrten Tier. Aber nicht einmal Insekten fanden sich hier, alles war staubtrocken und tot.

Die Ohren des Mantikors spielten, während er seinem Lehrmeister zuhörte. Der Tag neigte sich dem Ende zu, ging in dämmrige Kühle und schließlich sternglitzernde kalte Nacht über.

»Ich habe Hunger«, beklagte Kurus sich unterwegs. »Meine Kräfte werden mich bald verlassen.«

»Es ist kühl, da kannst du viel besser laufen«, erwiderte der Getreue. »Also schneller, umso eher kommst du an Nahrung.« Kurus war tatsächlich der Erschöpfung nahe, seine Flanken flogen, und die Muskeln zitterten. Aber sie durften jetzt keinesfalls anhalten, nicht hier im Gebirge in der Nacht. Die Ley-Linie war zu weit entfernt, um sie in Anspruch nehmen zu können, die Grenzen zwischen den Welten hingegen waren fast nicht mehr vorhanden.

Doch ein Ende war abzusehen, allmählich ging es wieder abwärts, und die Ebene hinter dem Gebirge war als tiefschwarzes Band in der Tiefe erkennbar. Kurus entdeckte eine schmale Passage zwischen zwei Steilhängen, die ziemlich abschüssig war, aber seine Zehen und starken Krallen fanden genug Halt. Ab und zu löste er kleine Steinlawinen aus, die vor ihm den Weg hinab rutschten. Doch auch hinter ihnen und an den Steilhängen kamen die Felsen in Bewegung. Immer wieder knisterte es, dann stürzten größere Gesteinsbrocken herab.

»Lauf schneller«, befahl der Getreue. »Das gefällt mir nicht.«

»Ich kann nichts wittern«, sagte Kurus. Aber er gehorchte und beschleunigte, wobei er mehrmals gefährlich ins Rutschen und Schlingern geriet. Der Getreue achtete nicht darauf, er konnte das Ende des Gebirges jetzt deutlich erkennen, und trieb Kurus noch mehr an. Der Mantikor hatte einen Weg von Tagen in wenigen Stunden zurückgelegt. Sie konnten es schaffen.

Doch schließlich waren sie gezwungen, anzuhalten. Direkt vor ihnen, an einer Verengung, stürzte plötzlich eine gewaltige Steinlawine herab. Die größten Brocken dabei hatten den Umfang eines Kinderrumpfes, die kleinsten entsprachen einer kindlichen Faust.

»Was ist das?«, fragte Kurus ängstlich.

»Steinmänner«, antwortete der Getreue.

Und tatsächlich, die Steine blieben nach dem Sturz keinesfalls liegen, sondern sprangen wieder hoch, purzelten übereinander und fingen an, sich zusammenzusetzen. Groteske Geschöpfe wuchsen, mit vier Gliedmaßen und quaderförmigen Felshüten auf den runden Köpfen. Sogar Gesichter bildeten sich aus kleinen Steinchen darauf – Augen, Ohren, Mund und Nase. Es mochten Hunderte sein, die ihnen nun den Weg versperrten, teils gestapelt.

»Soll ich einen anderen Weg suchen?«, fragte Kurus.

»So funktioniert das nicht«, erwiderte der Getreue. »Außerdem haben sie uns eingekreist.«

Es stimmte, im schwachen Mondlicht waren die Bewegungen schwankender Steine ringsum zu erkennen.

Dann begannen sie zu sprechen, und es klang, als würden Steine gegeneinander gerieben oder geschlagen, klickend und knirschend. Es war sehr irritierend, ihnen zuzuhören, denn wer einen Satz begann, vollendete ihn nie. Die Worte kamen von allen Seiten und nicht unbedingt im selben Rhythmus und Tempo.

»Was …«

»… wollt ihr …«

»… hier? Ihr habt …«

»… keinen Durchgang.«

»Stürzt euch …«

»… die Felsen hinab!«

Kurus versammelte sich unruhig. »Was haben die vor?«

Der Getreue gab gleichmütig Auskunft: »Sie wollen uns zerschmettern, zerquetschen, auspressen, zu Brei verrühren und dann aufschlürfen.«

Der junge Mantikor fing an zu zittern. »Aber ich schmecke bestimmt nicht gut!«

»Wohl wahr. Du bist giftig. Das macht denen allerdings nichts aus. Nur an mir werden sie sich die Zähne ausbeißen, weil nicht viel dran ist … kaum Substanz und nur ein bisschen Krokodilsblut. Dennoch auch für mich ein sehr unangenehmer und schmerzhafter Tod, dem ich lieber entgehen möchte.«

Die Steinmänner rückten näher und klickten gierig mit scharf gezackten Steinzähnen. Ihre Stimmen schwirrten durcheinander, dass nur einzelne Wortfetzen ausgemacht werden konnten, und kein Zusammenhang mehr.

»Was tun wir jetzt?«, fragte Kurus.

»Du bist ein Mantikor«, sagte der Getreue. »Laufe weiter und werfe jeden, der sich dir in den Weg stellt, in den Abgrund!«

»Aber es sind so viele …«

»Setze deine Pranken, deine prächtigen Zähne und den Skorpionschwanz ein! Dein Gift kann ihnen nichts anhaben, wohl aber die Wucht deines Schlages. Sie besitzen keine sehr stabilen Körper.«

»Töten!«, schnarrten plötzlich viele Steinmänner unisono, und das Echo schallte vielfach verstärkt durchs Gebirge. »Töten! Töten! Töten!«

»Los!«, schrie der Getreue und hieb die Beine in Kurus’ Seiten.

Erschrocken machte Kurus einen Satz nach vorn, prallte auf die ersten Steinmänner und brach durch deren Front hindurch. Er brüllte auf, als Steinzähne nach ihm schnappten, Fell und Haut zusammenquetschten und Löcher hineinrissen. Sein Überlebenswille übernahm nun die Führung, sein Skorpionschwanz peitschte wild, und er schlug mit den Vordertatzen um sich, schnappte nach allem, was ihm zu nahe kam.

Und es klappte! Überall wo er auf Widerstand traf, fegte er Steinköpfe herunter, zerschlug ganze Strukturen, dass die Figuren förmlich auseinanderplatzten und über den Felsgrat hinabregneten.

»Weiter, weiter!«, befahl der Getreue. »Halte nicht inne!«

»Aber ich …«

»Das ist nur von kurzer Dauer. Eile dich, voran!«

Kurus rannte weiter, obwohl der Weg immer steiler nach unten ging. Eine Felswand wich endgültig zurück, und der Pfad verwandelte sich in einen schmalen Grat, der erst am gegenüberliegenden Hang endete, dem letzten Berg vor der Ebene.

Egal, wie viele Steinmänner als ungeordnete Felsbrocken hinabstürzten – was übrig blieb, setzte sich wieder zusammen und nahm die Verfolgung auf. Der Lärm war unbeschreiblich, als würden ganze Berge explodieren und ins Tal hinabpoltern.

Der Getreue lenkte den Mantikor durch das Chaos, doch das Vorankommen wurde trotz der Riesenkräfte des magischen Geschöpfes immer schwieriger. Egal, wie viele Lawinen nach unten ausgelöst wurden, von oben regneten weitere herab und warfen sich ihnen in den Weg. Kurus blutete bereits aus vielen Wunden, und auch der Getreue musste sich heftiger Angriffe erwehren. Was von seiner Kutte übrig war, ging noch mehr in Fetzen, und er spürte die wütenden Bisse inzwischen deutlich.

Kurus versuchte eine letzte verzweifelte Strategie, stieß sich nach oben ab und landete auf den quaderförmigen Hüten der Steinmänner, die dicht an dicht heranrückten, balancierte auf ihnen entlang und sprang so den Weg hinab. Er war derart schnell, dass er tatsächlich das Gleichgewicht halten konnte, zumindest eine Weile, solange die Angreifer so nah zusammenrückten.

Sie waren nicht besonders rege im Denken, aber schließlich begriffen sie doch die Veränderung und reagierten darauf. Der junge Mantikor stieß ein entsetztes Gebrüll aus, als die Hüte unter seinen landenden Pranken plötzlich zur Seite wichen.

Er stürzte mitten in die Reihe hinein, zertrümmerte dabei alle Steinmänner, die nicht mehr ausweichen konnten, und schlitterte auf dem Geröll entlang weiter hangabwärts, immer schneller, während ihm eine Lawine folgte.

In dem verzweifelten Bemühen, den Stand zu halten, rutschte Kurus schließlich ab, verlor erneut das ohnehin wacklige Gleichgewicht, knickte auf dem rechten Vorderlauf ein – und dann war der Sturz nicht mehr aufzuhalten.

Der Getreue flog in hohem Bogen über ihn hinweg, als der Mantikor fiel, haltlos den Hang hinunterstürzte und sich dabei immer wieder überschlug, begleitet von einer Gerölllawine.

Abwärts ging es, in einer riesigen Staubwolke, bis der Hang in der Ebene auslief.

Kurus rollte noch ein ganzes Stück weiter, bevor er endlich zur Ruhe kam und liegenblieb.

In einem letzten Steinrutsch kam auch der Getreue unten an und prallte auf ihn. Noch bevor er sich hochgerappelt hatte, formierten sich die Steinmänner bereits wieder und sprangen ihn an. Ebenso erging es Kurus, der jämmerlich aufwimmerte und sich vergeblich bemühte, auf die Beine zu kommen. Sein Skorpionschwanz peitschte die Luft, traf ab und zu, doch nicht genug.

Der Getreue schleuderte gezielt die Steine von sich, sodass sie ihn bald wie ein ständig zusammenfallender und sich wieder neu formierender Wirbel umschwirrten, in dessen Zentrum er schließlich wie ein riesiger schwarzer Schatten aufragte, der flackernd und unsicher hin- und herschwankte, aber aufrecht blieb. Seine Arme waren in ständiger Bewegung, während er sich sammelte.

Auch Kurus schlug wild um sich, fauchte und knurrte und schaffte es endlich, aufzuspringen.

»Genug jetzt«, erklang die Stimme des Getreuen durch den brausenden Wirbel. Er richtete die linke Hand nach unten, und nur einen Herzschlag später brach ein rotes Leuchten durch den Boden empor, das er auffing. Er führte beide Hände zusammen, und eine rotleuchtende Kugel entstand zwischen ihnen, um die weiße Blitze zuckten und die zu rotieren begann. Je schneller sie sich drehte, desto langsamer wurden die Bewegungen der Steinmänner, und ihr Geschrei sank zu einem Flüstern herab.

»Gut«, brummte der Getreue und richtete den Blick nach Osten. Die Kugel blähte sich auf, erste Blitze lösten sich von ihr und schlugen in die Hüte der Steinmänner ein, die wie vom Schlag getroffen zu Boden stürzten und auseinanderfielen.

In diesem Moment kroch der erste Sonnenstrahl über den Horizont, traf auf den Getreuen – und die Kugel explodierte. Sämtliche Steinmänner, auch die Verstärkung, die von den Bergen herabpolterte, wurden von den Blitzen mit aller Gewalt getroffen, während sie gleichzeitig in ein rotes Leuchten gehüllt wurden.

Dann zogen sich Blitze und Licht genauso schnell wieder zusammen, wie sie explodiert waren, und flossen in die Hände des Getreuen hinein. Seine Gestalt leuchtete auf und festigte sich wieder, während rings um ihn und von den Bergen herab immer noch Steine regneten, die Staub aufwirbelnd auf dem Boden landeten und liegenblieben.

Der Getreue stand ruhig und aufrecht da, das verhüllte Gesicht nach Osten gerichtet. Kurus stapfte leicht torkelnd zu ihm und schüttelte die rotgoldene Mähne. »Ist es jetzt vorbei?«

»Ja.«

»Ein Glück.« Der Mantikor holte Luft und schrie: »Au!« Jammernd fing er an, sich die Wunden zu lecken. »Ich bin so schwach und hungrig, bestimmt muss ich bald sterben …«

»Du musst noch eine Menge lernen, nichtsnutziger Welpe«, sagte der Getreue scharf. »Und jetzt auf! Wir müssen weiter. Die Verfolger warten nicht.«

»Aber ich bin müde«, maulte Kurus.

Der Getreue schlug ihm mit der geballten Faust ins Gesicht, dass sein Kopf nach hinten ruckte und deutlich vernehmbar die Nackenwirbel knackten. »Auf!«, schrie der Verhüllte den Mantikor an, während er auf seinen Rücken sprang. »Weiter! Dies ist deine nächste Lektion: Nicht innehalten, nur weil man müde und verletzt ist! Niemals einer Schwäche nachgeben!«

Kurus wagte keinen Widerspruch mehr, sondern galoppierte los, weiter nach Norden.

Gegen Nachmittag waren sie im zwanzigsten Jahrhundert angekommen.

Kurus durfte nun endlich anhalten. Der Getreue lenkte ihn zu einem alten Brunnen, in dessen Nähe ein Zeltlager aufgebaut worden war. Schneeweiße Dromedare und Lastkamele waren zwischen den Zelten angebunden. Am Rand des Lagers gab es eine Tränke, mit einer Zuleitung vom Brunnen.

»Du kannst hier trinken«, erlaubte er dem jungen Mantikor, der kurz vor dem Zusammenbruch stand. »Verhalte dich ruhig und außer Reichweite jeglichen Lebens. Sie können dich nicht sehen, aber vielleicht wittern. Vor allem können sie nicht durch dich hindurchgehen.«

»Warum können sie mich nicht sehen?«

»Sie glauben nicht an dich.«

Kurus blieb das Maul offenstehen. »Aber …« Er verstummte sofort, als er sah, wie sich die Faust des Verhüllten langsam hob.

Geduckt schlich er zum Brunnen, nachdem der Getreue abgesessen war. Dann wagte er doch einen Einwand: »Ich muss auch essen.«

»Ich werde dir etwas geben, aber du darfst nichts selbst jagen. Gedulde dich, bis ich zurück bin, ich bringe dir etwas mit.«

Der Mantikor machte ein unzufriedenes Gesicht und ein böses Licht glühte in seinen Augen auf.

Der Getreue fügte hinzu: »Wir sind immer noch im Menschenreich. Wenn hier auch nur eine Ameise zu Tode kommt, wirst du nie existieren. Also halte dich an meinen Befehl.«

Kurus senkte den Kopf, als wolle er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Doch er fing sich schnell wieder, als der Getreue ihm einen Eimer Wasser heraufzog, den er in einem Zug leertrank, und ebenso den nächsten. Den dritten stellte der Getreue vor ihn hin. »Das muss reichen, bis ich zurück bin. Leg dich jetzt hin, pfleg deine Wunden und ruh dich aus. Wenn ich zu dir komme, wirst du essen, und dann müssen wir schnell weiter.«

»Ich gehorche.« Kurus wirkte erleichtert, trotz seines Hungers, endlich rasten zu dürfen. Sein Gesicht war eingefallen vor Müdigkeit, und die Wunden an seinem Körper musste er mit seinem nur für ihn heilkräftigen Speichel, der für jeden anderen tödlich giftig war, behandeln. Noch bevor der Getreue sich auf den Weg gemacht hatte, plumpste er in den Sand, bettete den Kopf auf den gekreuzten Vorderpfoten und schloss die Augen.

Der Getreue wanderte langsam auf das Zeltlager zu. Er war nicht unsichtbar, würde aber nicht weiter als vorübergehender Schemen in Erscheinung treten. Jeder, der ihn sah, würde glauben, dass er jemandem von hohem Rang begegnete, der nicht einfach angesprochen werden durfte.

Mehrere Feuer waren entzündet, an denen Tee gekocht wurde und Brot gebacken. In der Nähe des größten Zeltes wurde ein Braten zubereitet, mit einem kleinen Feuer daneben, in dem Kesselfleisch kochte. Überall saßen Männer in traditioneller, zumeist heller Wüstenkleidung um die Lagerfeuer, unterhielten sich, tranken Tee und lachten. Einige Imuhagh waren auch darunter, die nur dann den blauen Gesichtsschleier lüpften, wenn sie das Teeglas an den Mund setzten. Mehrere Jungen, Libyer und schwarzafrikanische Sklaven in hellen Kitteln, versorgten die Kamele und erledigten Besorgungen; wenn niemand hinsah, spielten sie miteinander oder ärgerten die Dromedare.

Die Bahnen des großen Zeltes wurden soeben zur Seite geschlagen, und nacheinander schritten gewichtig aussehende Männer mit prächtigen Bärten heraus. Viele trugen Gebetsketten, die sie ununterbrochen durch die Finger gleiten ließen. Murmelnd entfernten sie sich in Gruppen zu zweit oder zu dritt. Der Getreue ging an ihnen vorbei ins Zelt, in dem verhüllte Sklavenfrauen den verbliebenen drei Männern aufwarteten, neuen Tee und Gebäck brachten und die Sitzkissen zurechtrückten.

In der Mitte saß der weißbärtige, über siebzigjährige Sidi Muhammad Idris al-Mahdi al-Sanussi, Emir der Kyrenaika und König von Libyen. Die anderen beiden Männer waren seine engsten Vertrauten, beide schon in den Sechzigern.

»Wir müssen diesmal Erfolg haben«, sagte Idris I. ernst, »oder wir werden unsere Unabhängigkeit verlieren. Schon drängen die Europäer wieder hier herein, beschämen uns mit ihren Angeboten, die uns immer abhängiger von ihnen machen.«

»Aber wir brauchen ihre Hilfe, solange derartige Armut herrscht«, wandte der Mann zur Rechten ein.

»Wir werden keine Geschenke annehmen«, sagte der Mann zur Linken. »Wir werden ihnen im Gegenzug etwas anbieten.«

Der König seufzte. »Nur, was? Dies ist der letzte Versuch, Wasser zu finden, meine Freunde.« Er hieb mit der Faust auf den Sitzteppich. Es gab nur ein leises, dumpfes Geräusch, als der Teppich in den Sand einsank. »Ich weiß, das Wasser ist da! Und es ist viel! Mehr, als dieses Land braucht, um grün zu werden! Wenn wir es finden, brauchen wir keine Hilfe mehr von außen, sondern werden ein geachteter internationaler Geschäftspartner!«

»Du hängst Träumen nach, Herr.«

»Dies alles sind nur Legenden.«

»Keine Legenden, sage ich euch!« Idris redete sich immer mehr in Leidenschaft hinein. »Das Wasser ist da, einst war dieses Land voll davon, grün und blühend! Es steht geschrieben, dass hier der Ursprung der Zivilisation zu finden ist. Sie war die erste! Von hier zogen sie aus, um der Welt Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Medizin und …«

»… Magie zu bringen. Doch wo ist sie heute? Wo ist alles?«, sagte der Mann links.

»Vieles ging verloren und versank im Sand der Zeit, genau wie die Insel auch, von der du immer träumst, Herr«, fügte der Mann rechts hinzu.

Und wieder links: »So viele haben nach ihr gesucht … die Europäer sind ganz wild darauf …«

»Und ich werde das Wasser finden, das von damals übrig ist!«, rief der König. »Ich kann mich nicht täuschen, Allah selbst hat mich geführt …« Plötzlich hielt er inne und richtete den Blick auf den Eingang, wo der Getreue seit einiger Zeit still stand. Dann ließ er den Kopf leicht sinken. »Ich bin müde, meine Freunde. Lasst mich für ein paar Augenblicke allein, bevor wir weiterreden.« Auf seinen Wink hin verließen alle das Zelt. Keiner von ihnen, die an ihm vorübergingen, bemerkte den Getreuen.

»So«, sagte Idris dann müde, als sie allein waren, »bist du also gekommen, um mich zu holen. Habe ich noch Zeit für mein letztes Gebet, und mein Gesicht anständig zu bedecken?«

»Ich bin nicht der Tod«, antwortete der Getreue mit heiserer Stimme und näherte sich langsam dem alten Mann.

»Dann bist du sein schwarzer Schatten.« Der König blickte durch seine Brille zu ihm auf. »Warum bist du denn hier, wenn nur ich dich sehen kann?«

»Ich hörte von deinem Traum. Du glaubst daran, dass dein Königreich einst zu dem mystischen Atlantis gehörte, von dem Platon einmalig berichtete?«

»Woher weißt du das? Nur meine beiden engsten Vertrauten haben Kenntnis davon … und sie würden nie zu jemand anderem darüber sprechen.«

Idris’ Hand zitterte leicht, als er nach dem bunten, mit Gold verzierten Teeglas griff und einen Schluck nahm. Der Getreue setzte sich zu ihm und nahm sich ebenfalls ein Glas.

»Ich kann deine Gedanken hören, Idris«, sagte er ruhig. »Sie führten mich hierher. Und ich habe dir etwas dazu zu sagen.«

Der König hob leicht die Brauen, und sein Gesicht nahm einen aufmerksamen Ausdruck an. »Dann warte nicht zu lange, damit ich es noch erlebe.«

Der Getreue holte sich ein paar Datteln. »Das Wasser, das du suchst, befindet sich nicht hier, sondern in Al Jawf.«

»Kufrah? Aber dort gibt es doch bereits Oasen, nur …«

»Dort ist das Wasser. Mehr, um ein paar Oasen zu speisen.«

Idris’ unter den Falten des Gewandes verborgener Bauch begann vor Aufregung zu zittern. »Dann gibt es das wirklich, wovon die Vorväter träumten?«

Der Getreue nickte. »Ein gigantischer unterirdischer Wasserspeicher, dessen Ausmaße so schnell nicht ermessen werden können. Wäre mit der heutigen Technik noch einmal einen Versuch wert.«

»Aber … wie ist das möglich? Wie kannst du davon wissen?« Die randlose Brille auf der königlichen Nase wackelte.

»Ich habe es gesehen«, antwortete der Getreue leise. Er trank das Glas leer und nahm noch ein paar Datteln. »Deine Gedanken haben mir die Erinnerung wiedergegeben.« Und nicht zuletzt auch Ayoubs wandernde Seele. Irgendwie musste das zusammenhängen.

»Und … und die Insel der Mächtigen?«

»Atlantis existierte tatsächlich an diesem Ort, König. Vom Meer bis … wer vermag es zu sagen. Das Zentrum lag dort, wo der Ozean heute ist.«

»Dann war es keine Insel?«

»Wie man’s nimmt. Damals war hier alles grün, und es gab Meereseinschnürungen und gigantische Seen, die sich aus dem Relikt speisten, von dem ich dir vorhin erzählte.«

»Platon schrieb aber doch, dass Atlantis im Meer versank …«

»Und so geschah es auch.« Der Getreue zeichnete Figuren mit der rechten Hand in die Luft, und Idris sah atemlos zu. Er sah eine blühende Zivilisation in einem Reich, das ihm fremd und zugleich vertraut war, über eine lange Zeit. Bis sich das Klima wandelte und aus einem paradiesischen Land wurde eine trockene Wüste. »Atlantis … die Insel … versank nicht im Ozean, sondern im Sand. Im Meer ohne Wasser.«

»baḥr bilā māʾ«, flüsterte der König.

Der Getreue nickte. »Das ist die Verbindung. Ziehe deine eigenen Schlüsse.« Er erhob sich. »Wie bist du überhaupt darauf gekommen, diesem Mythos nachzuhängen?«

»Hast nicht du mir davon erzählt, als ich ein hoffnungsloser Junge war?«, flüsterte der König mit halb geschlossenen Augen.

»Ach, richtig. Noch etwas, das ich vergessen hatte.« Es war Zeit zu gehen. Er hatte alles, was er benötigte. Den Anker, um weiter zurückzureisen in die Vergangenheit. Und die Wegweisung, indem er seine eigenen Schritte zurück verfolgte. Der Pfad zu seinen Erinnerungen. Und das Ziel seiner Selbstfindung, bevor er verging. Für den Moment war er gestärkt, also war es geboten, weiterzureisen.

Das Haupt des Königs war ihm auf die Brust gesunken, er schien zu schlafen. Der Getreue verließ das Zelt gerade in dem Moment, als ein Bote herbeistürmte und unter Missachtung sämtlicher Höflichkeitsgebote in das Zelt des Herrschers stürzte.

»Malek!«, schrie er. »Herr, o König, es ist unfassbar – wir haben Öl gefunden!«

Ein überraschter Ruf drang aus dem Zelt, gleichzeitig war im Nu das ganze Lager auf den Beinen. Diese Nachricht war besser als alle Oasen und Brunnen und selbst der Wasserspeicher in Al Jawf. Es war der Beginn einer neuen Ära, und das begriffen sofort alle aufgrund eines einzigen Zauberworts – Öl.

Der Getreue zuckte mit den Achseln. 1962, erinnerte er sich. Ungefähr zu der Zeit wurde Öl in Libyen gefunden. Nun gut, wenn sie das nächste Mal im Süden nach Öl bohrten, würden sie eben in den Kufrah-Oasen Wasser finden, und Ayoub wäre mit dabei. Diese Linie blieb gewahrt.

Während das gesamte Lager in Aufruhr war und zusammenlief, ging er zum großen Feuer, nahm kurzerhand den ganzen Spieß sowie den Kessel und kehrte mit beidem beladen zum Brunnen zurück, ohne dass jemand auf ihn achtete.

Er konnte den Brunnen schon sehen, nicht aber Kurus. Da er an Mantikore glaubte, war es schlecht möglich, dass Kurus für ihn unsichtbar geworden sein sollte. Also war er weg!

Da hörte er schon einen jämmerlichen Schrei. Der Getreue stellte das Essen ab und fluchte. Wenn er nur im Vollbesitz seiner Kräfte wäre! Niemand würde es dann wagen, ihm nicht zu gehorchen, egal wie hungrig er sein mochte.

Hastig sah er sich um, und da entdeckte er schon einen Sklavenjungen, der vor Angst kreischend durch die Wüste floh. Und ihm auf den Fersen, verspielt wie ein Kätzchen, der Mantikor.

»Kurus!«, schrie der Getreue und rannte los. Er hatte nur noch wenige Augenblicke. Mantikore waren auf der Jagd ähnlich wie Hauskatzen. Wenn sie einer Beute sicher waren, jagten sie sie zum Spaß ein bisschen länger durch die Gegend, das machte das Fleisch süßer und schmackhafter, bevor sie ihr Opfer dann töteten und fraßen.

Das Kind heulte laut und lief, so schnell es konnte, immer weiter vom Lager fort. Kurus brauchte nur die Pranke auszustrecken, so nahe war er bereits dran. Nur ein kurzer Wisch mit einer Kralle, und das Kind wäre aufgeschlitzt und nicht mehr zu retten.

Da es seine erste Jagd war, war Kurus nicht nur verspielt, sondern auch neugierig; seine Instinkte mussten erst richtig erwachen. Das hatte dem kleinen Jungen bisher das Leben bewahrt.

»Kurus!«, wiederholte der Getreue und rannte im Zickzack dem Mantikor nach, der in grotesken Sprüngen hinter dem Kind, das vermutlich auf zwei Happen in sein Maul passte, herhüpfte.

Mit einem letzten gewaltigen Satz sprang der Getreue den Mantikor an, als der zum tödlichen Schlag ansetzte, erwischte gerade noch rechtzeitig den Skorpionschwanz und zerrte mit aller Kraft daran.

Das Kind lief schreiend weiter und bekam zum Glück nichts von den Vorgängen hinter sich mit. Irgendwann würde es schon merken, dass ihm keine Gefahr mehr drohte, und auf direktem Wege ins Lager zurückrennen.

Kurus stieß einen überraschten Laut aus, als er plötzlich mitten im Lauf gestoppt – und dann herumgerissen wurde. Der Getreue schleuderte ihn um sich herum und warf ihn Richtung Brunnen, wo er ungefähr auf halbem Wege mit gewaltigem Getöse und einer Sandexplosion landete, den Kopf voran in einer kleinen Düne.

Doch er verharrte nicht lange, sein Zorn war geweckt. Brüllend, sämtliche Krallen ausgefahren, fuhr er herum, um den Getreuen in tausend Fetzen zu zerreißen. Der wich mühelos aus, griff in die Mähne des Mantikors und sprang ihm in den Nacken, außer Reichweite der Krallen und des gefährlichen Mundes. Dann packte er ein Löwenohr und verdrehte es.

Kurus, der so groß wie ein Pferd und so schwer wie ein Elefant war, knickte sofort jaulend ein. »Au, au, au, au!«, jammerte er.

»Das war gar nichts«, sagte der Getreue. »Pass auf, was ich jetzt mit deinem anderen Ohr mache.« Er ließ das geschundene Ohr los, nur um das zweite noch schlimmer zu malträtieren.

Der Mantikor warf sich winselnd zu Boden, wollte sich wälzen, doch dadurch wurde der Schmerz nur schrecklicher. »Bitte!«, wimmerte er. »Bitte, bitte, aufhören!«

»Warum hast du mir nicht gehorcht?«, fragte der Getreue streng und ließ das Ohr gerade so weit frei, dass Kurus Luft holen konnte, um zu antworten.

»Aber es war doch nur ein Mensch! Menschen sind nicht mehr als Futter, sie sind beschränkt und unterentwickelt, das hast du selbst mir gesagt!«

»Sagte ich nicht, wir sind in der Menschenwelt? Und dass alles zusammenbricht, wenn du auch nur einen von ihnen anrührst? Oder ein Tier?«

»Aber ich ha-ha-hab doch so Hunger!«, heulte Kurus verzweifelt. »Ich hab es nicht mehr ausgehalten, und da kam dieses süß duftende kleine Welpchen in meine Nähe, so zart und fleischig … wem hätte es schon gefehlt, da gibt es noch so viele …«

Der Getreue hatte genug. »Zurück zum Brunnen, los, und da wartest du! Ich komme sofort.« Er sprang ab und ging wutschnaubend zu dem Spieß und den Kessel, die er zuvor stehenlassen musste.

Der junge Mantikor gehorchte, seine Ohren sahen zerknittert aus, und er wagte nicht, sie zu bewegen, aus Angst vor den damit verbundenen Schmerzen. Auf dem Bauch robbte er zum Brunnen zurück und ließ seinen Herrn nicht aus dem Blick; ebenso wenig der Getreue ihn.

Dann leuchteten die orangefarbenen Augen auf, als seine Nase den Bratenduft empfing und er gleichzeitig die verlockende Nahrung sah, die für ihn bestimmt war.

»Du hast es gar nicht verdient!«, zischte der Getreue, während er es ihm hinwarf. Aber natürlich konnte er dem Mantikor das Essen nicht mehr vorenthalten, da der sonst aus verzweifeltem Hunger im Lager wüten würde. In diesem Zustand würde auch kein Ohrenverdrehen die Katastrophe verhindern.

Kurus stürzte sich auf das Essen und verschlang es in wenigen Bissen, wobei seine drei Zahnreihen nur so klickten. Danach lächelte er glücklich und mit rosigen Wangen. »Du bist ein guter Herr!«, sagte er zufrieden und rülpste. Der Gestank, der nach der ersten Mahlzeit seines Lebens aus dem Maul kam, war eines Mantikors würdig.

Dass ein Mantikor sich niemals einem Herrn unterwarf, würde Kurus gewiss lernen, aber der Getreue würde ihm diese Lektion sicher nicht beibringen.

Elfenzeit 8: Lyonesse

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