Читать книгу Die Liga der außergewöhnlichen Idioten - Uta Bahlo - Страница 3
Kapitel 1
ОглавлениеEinige Männer aus Tottenbüttel, inklusive Bürgermeister Hinnerk Hansen, hatten sich am Abend im Wirtshaus ›Bei Kuddel‹ versammelt. Am Stammtisch planten sie gemeinsam eine Bürgerinitiative gegen den Sex-Shop von Kalle Holtzapfel. Natürlich fand das Treffen in Abwesenheit des Betroffenen statt. Niemand hätte den Schneid gehabt (die Eier in der Hose), seine Abneigung von Angesicht zu Angesicht vorzutragen. Tottenbüttel hatte auf eine widerliche Art Respekt und auch ein wenig Angst. Kalle war ein aalglatter Typ, der mit allen Wassern gewaschen war. Seine schon etwas angegrauten Haare hatte er mit Gel streng nach hinten an den Kopf geklatscht. Seine grauen Strähnen führten dazu, dass man sein Alter nur grob schätzen konnte – so irgendwas zwischen Vierzig und Sechzig. Er trug immer eine dunkle Sonnenbrille – häufig auch nachts – und ein viel zu aufdringliches After Shave, Marke: Eau de Proll. Holtzapfel war vor etwa sechs Monaten, aus der Stadt ins beschauliche Tottenbüttel in Schleswig Holstein gezogen, um genau hier seinen Sexbunker zu eröffnen.
»Der Puff muss weg!« Das war Hansens kurze Ansage an seine Wähler. Kalle hatte zwar immer wieder betont, dass es sich eben nicht um einen Puff, sondern um ein ganz normales Ladengeschäft handelte, in dem gewisse Utensilien zur Entspannung verkauft werden und jeder Willkommen sei. Dennoch blieb bei den Bewohnern eine gewisse Unsicherheit, wusste doch niemand, was backstage so alles ablief – und die Übergänge von Sex-Shop zu Puff wären ja fließend. Unterstützt wurde diese Ansicht durch Gerüchte, Kalle hätte gute Kontakte zu einem Zuhälter-Kumpel, der auf der anderen Seite des Nord-Ostsee-Kanals eine Wellness-Oase und Reha-Zentrum für gestresste Prostituierte bewirtschaftete. Bei Thai Chi, Reiki, Qigong und Klangschalen Therapie kamen die Damen wieder zu Kräften und erholten sich in Feng-Shui-gestylten Zimmern. Nach dieser Zeit der totalen Entspannung schwangen die Chakren wieder im Einklang und das ›dritte Auge‹ beobachtete, was hinter dem großen Gong so abging. Nach Yoga und Ayurvedischer Ernährung floss das Chi wieder in den richtigen Bahnen. Am Abend floss noch etwas ganz anderes … da konnte es schon mal eine Flasche Wodka sein.
Allerdings ging es dem Bürgermeister weniger um diesen beknackten Sex-Shop, als
vielmehr um die Tatsache, dass dieser Holtzapfel sich für die Kandidatur zum Bürgermeister und somit als Gegner aufstellen ließ. Die erste Frage, die er sich stellte war: Durfte er das überhaupt? Antwort: Ja, er durfte. Seit circa sechs Monaten war er in Tottenbüttel gemeldet und es lagen ausreichend Unterstützungsunterschriften für seine Kandidatur vor. Die zweite Frage, die sich förmlich aufdrängte: Von wem, zur Hölle, kamen diese Unterschriften? Antwort: von Bürgern, die ihm tagtäglich begegneten, freundlich grüßten und frech ins Gesicht lächelten. Vielleicht saß der eine oder andere sogar an seinem Stammtisch. Er grübelte darüber nach, wem er solche Hinterlist zutraute. Eigentlich jedem.
Hansen war in dem kleinen Nest seit fünf Jahren nebenberuflich als Bürgermeister für die Gemeinde tätig und das sollte gefälligst auch so bleiben.
Die Dorfbewohner schätzten seinen wachen Verstand. Seinen Lebensunterhalt bestritt er als Manager eines großen Baumarktes im relativ neuen Industriegebiet. Dieses neu erschlossene Gebiet lag zwischen Tottenbüttel und dem Nachbarort Brunksdorf. Beide Ortschaften profitierten direkt von den zugewanderten Firmen wie einem Netto-Markt mit angeschlossener Bäckerei und einer Sparkasse. Weiterhin stand man in Verhandlung mit einem KiK-Markt und einem 1-Euro-Shop. In der Vergangenheit wurde viel in Bauland und Infrastruktur investiert. Darauf war Hansen sehr stolz. Vorher hatte er nie etwas mit Kommunalpolitik am Hut gehabt, doch das änderte sich rasch, als er bemerkte, dass man auch im Kleinen etwas verändern und in Bewegung setzen konnte. Und in Bewegung setzen wollte er etwas. Und zwar ganz aktuell: Kalles Arsch aus dem Dorf hinaus.
Als Hansen vor ein paar Jahren zufällig aus der Zeitung erfuhr, dass im Kreis Lüneburg ein Seminar stattfinden sollte – ein, man höre und staune! Schnellkurs für Bürgermeister – meldete er sich sofort an. Zwanzig Menschen aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen, Berufswunsch Bürgermeister, nahmen an der dreitägigen Veranstaltung im niedersächsischen ›Seehotel‹ teil. Für 530,- Euro impften Kommunal-Experten ihnen die Grundlagen der Kommunalpolitik ein, vom Baurecht bis hin zur Öffentlichkeitsarbeit, von Zeitmanagement und Stressbewältigung. Ausgerechnet beim Thema Stress geriet Hansen in selbigen. Seminarleiter Professor Matthias Müller erläuterte gerade im Medienraum wild gestikulierend Schaubilder mit dem Tagesablauf eines Bürgermeisters, als Hansens Sitznachbar, ein Jüngelchen von irgendwie dreizehn, den Vortrag mit Ignoranz störte. Dieser Bubi mit seinen professionell manikürten Fingernägeln hörte nur halb hin, versendete mit seinem mitgebrachten Notebook laufend E-Mails, mit dem Smartphone WhatsApp und verließ zweimal den Raum, um zu telefonieren (wenigsten verließ er den Raum). Das ging ja gar nicht, dachte Hansen und seine Konzentration verließ ihn zwischenzeitlich komplett.
Der Professor erteilte dem Störenfried noch nicht einmal eine Rüge.
Hansen konnte ein Tattoo auf dem Unterarm des Jünglings ausmachen. Es sah aus wie ein Reh, aber das konnte nur eine optische Täuschung sein, denn wer trägt schon Bambi auf dem Arm spazieren. Klopfer? Er grinste spöttisch.
Nun fiel ein Satz des Dozenten, den sich dieser Kerl hoffentlich hinter die Ohren schrieb: »Wer glaubt, schon alles zu wissen, der hat alles verloren«. Wo er recht hatte, hatte er recht. Müller´s Vortrag nach der Mittagspause lockerte die Stimmung etwas auf. Trockene Themen wie Vergaberecht und Kommunalfinanzen strapazierten ein wenig die allgemeine Konzentration. Einige seiner Mitstreiter malten Kreise und kleine Männchen in ihren Notizblock. Aber nun ging es ans Eingemachte. Knallersätze wie: »Ab sofort sind sie keine normalen Menschen mehr, sondern Bürgermeister«, feierte die Runde fast frenetisch. Der Professor fuhr fort: »…und solche bräuchten Visionen, Strategien und Taktik.« Müller´s Vorschlag zum Zeitmanagement: sechzig Prozent des Tages planen, zwanzig Prozent für spontane Termine verwenden und zwanzig Prozent für kreative Denkpausen freihalten.
Außerdem sollten sie zum Stressausgleich das Privatleben nicht vernachlässigen
.
Da Hansen aber kein Privatleben hatte, er war mit Ende fünfzig immer noch Single, freute er sich über die Möglichkeit von einhundert Prozent Arbeitsauslastung. In diesem Punkt wäre er vielen hier in der Runde bestimmt weit überlegen.
So manches Mal kam er erst um zwei Uhr ins Bett, weil er noch die Abrechnung kontrolliert hatte, und war um sechs in der Früh wieder aufgestanden, um die Bestellungen für den Tag zu koordinieren.
Der Knirps neben ihm hatte schon wieder sein Notebook aufgeklappt. Er trug als einziger Anzug und Krawatte. Mr. Wichtig wendete sich Hansen zu und erklärte ihm seine Unaufmerksamkeit: dass er nämlich eigentlich gar keine Zeit hätte für dieses Seminar, aber sein Wissen noch mal auffrischen wolle. Das meiste, was der Dozent hier vortragen würde, kenne er ohnehin schon. Er hätte zum Beispiel gelernt, dass bestimmte Bauprojekte EU-weit ausgeschrieben werden müssen, und dass er als zukünftiger Bürgermeister seines Ortes (wahrscheinlich Legoland) einen alten Beschluss des Gemeinderates kippen könne … nämlich den Bau eines neuen Kreisverkehrs.
Spätestens jetzt hätte Hansen ihm gerne eine verpasst. So ein Arsch, dachte er.
»Wollen wir später noch was zusammen trinken?« fragte die halbe Portion, »Im Gespräch lernt man viel, kann sich für die Zukunft ein Informationsnetz aufbauen – sich austauschen.«
Ausgetauscht hätte er den Scheißer auch gern … am liebsten gegen die junge Kellnerin oder gegen ein Bier und eine Streuselschnecke.
Ja, so war das damals … ganz am Anfang seiner Karriere.
Hansen war mit Herzblut dabei und hatte immer ein offenes Ohr für die Probleme seiner Gemeinde. Und der Sexshop war ein Problem. Deswegen war er auch sichtlich aufgebracht: »Da baut man jahrelang Beziehungen auf, und dann kommt irgendein dahergelaufener Zuhälter und will Bürgermeister werden! Dabei kommt der noch nicht mal von hier!« Nun wurde er noch saurer, »Doch wie ich hören musste und was mich sehr wundert, Kalle hat eine große Anzahl an Unterschriften sammeln können, die seine Kandidatur erst möglich gemacht haben«! Eine lange Pause entstand, »Den Zweiflern unter euch sei gesagt, ich war es, der es vor einem Jahr beim Landratsamt durchsetzen konnte, dass der Linienbus 1 nicht mehr nur an Tottenbüttel vorbei-, sondern hindurchfährt … und sogar an drei Haltestellen hält!« Die meisten bestätigten seine Ansprache mit heftigem Nicken und Durcheinandergemurmel.
Herr Schneider bohrte heimlich in der Nase.
Während der Bürgermeister mit hochrangigen Mitbürgern am runden Eichentisch saß und mit der Faust drohte, versammelten sich immer mehr Männer im Schankraum um ihn herum. Alle schrien jetzt durcheinander. Einige waren gar mit Mistgabeln zur Versammlung erschienen und es war davon auszugehen, dass diese auch benutzt werden sollten. Die Kneipe war inzwischen gerammelt voll, der Zapfhahn glühte. Ausschließlich Männer waren erschienen.
Bauer Werner Jensen kam mit seiner Mistgabel direkt vom Feld und hatte diesen typisch beißenden Gülle-Geruch mitgebracht, der an Autobahn-Toilette erinnerte und den man noch Stunden später auf der Zunge schmecken konnte. Der legte sich sofort auf sämtliche Kleidung … da half auch kein ›Febreze‹. Die Truppe wich ihm etwas von der Seite.
Von puff-ähnlichen Zuständen war jetzt die Rede, von Jugendgefährdung und sogar Bestechung. »Der vergiftet unser Dorf!« schrie der wütende Apotheker Jens Paulsen aus der aufgebrachten Menge heraus. »Das stinkt doch zum Himmel!« beteiligte sich der Bestatter Knuth Hunoldt an der verbalen Hetzjagd. Dabei hielt er sich die Nase zu und schaute demonstrativ in Jensens Richtung. Hunoldt war nicht nur Bestatter im 1138- Seelen Dorf, sondern hatte ein Upgrade zum Pastor. Er bewohnte eine kleine Drei-Zimmer Wohnung in einem Anbau, gleich neben der Kirche. Dort befand sich auch sein Büro. Seine Wohnung war zweckmäßig eingerichtet. Da er Single war, brauchte er nicht viel. Seit einiger Zeit kursierte das Gerücht, er wäre vom anderen Ufer und damit war nicht das andere Ufer des Nord-Ostsee-Kanals gemeint. Wenn er so manches Mal in Gedanken und auf seinem Friedhof in Richtung Grabstelle stolzierte, wies ein kleiner Hüftschwung schon ›auf´n büschen‹ schwul hin. Aber wenn man es nicht wusste, merkte man das eigentlich kaum.
Und einige Tottenbüttler merkten ja sowieso nie etwas.
Inzwischen war die Stimmung auf dem Höhepunkt. Aber wie das bei den Männern so war … viel Gerede, viel Geschrei, ein bisschen die Nüstern aufgeblasen, das war´ s.
Kurz gesagt … man kam zu keinem Ergebnis. Der ganze Frust wurde kurzerhand weggebechert, danach gingen alle sturzbetrunken nach Hause. Das konnten die Frauen besser…
Zur gleichen Zeit versammelte sich nämlich, höchst motiviert, eine ganz andere Truppe im Tante Emma-Laden von Vera Bünte. Die Frauen begrüßten sich laut plappernd, kichernd und mit Küsschen links und Küsschen rechts.
Der Laden war sehr überschaubar. Dennoch gab es eine bunte Palette sämtlicher gängiger Produkte. Direkt am Eingang eine Frischetheke mit Wurst (auch mit lustigen Gesichtern darauf), Käse und Fleisch. Drehte sich der Kunde um, stand er auch schon in der Fachabteilung für Brot und Brötchen, unmittelbar daneben Zeitungen und Zeitschriften. Dort befanden sich auch die Süßigkeiten, die Frau Bünte noch aus großen Gläsern abzählte, abwog und in bunten Papiertüten verkaufte. Vier Schritte dahinter die Gemüse-, Obst-, Limonaden- und Spirituosenabteilung. Aber auch Hygieneartikel, von Zahnpasta bis Tampons und Putzmittel standen in ihrem Sortiment. Zwischenräume wurden mit Konserven, Reis, Nudeln, Mehl Zucker, Milch und Eiern ausgefüllt. Eine logistische Höchstleistung, die durch einen Kaffee-Ausschank (auch ›for to go‹, wie draußen handgeschrieben verkündet) und den Verkauf von belegten Brötchen komplettierte. Fast niemanden zog es in den drei Kilometer entfernten Supermarkt im Gewerbegebiet. Bei Vera gab es einfach alles, jedenfalls alles, was für den normalen Tagesbedarf benötigt wurde.
Noch etwas anderes beschäftigte die Damen und entfachte eine Diskussion:
»Wer geht eigentlich in Brunksdorf bei Edeka Wuttke rein?«
»Das wird Rewe.«
»Ich hab gelesen, dass das Penny oder Lidl wird.«
»Ich denk, Lidl geht bei Plaza rein?«
»Ich sagte ja … Penny oder Lidl.«
»Rewe will doch erst zu Lidl rein, bis die bei Edeka rein können. Die bauen ja um.«
»Müssen die ja, ist ja ganz anders aufgeteilt. Ist ja eine ganz andere Logistik.«
»Wer!?«
»Na, Edeka Wuttke. Die hatten ja eine ganz andere Logistik. Und Rewe ist auch wieder anders.«
»Und was ist nu mit Penny? Hab gelesen, dass Penny auch irgendwo neu reingeht.«
»Das ist mir neu.«
»Der Bäcker bei Lidl ist toll. Habt ihr da mal die Brötchen probiert? Spitzenmäßig! Außen knackig, innen fluffig.«
»Aber wenn Rewe vorübergehend in die Räume von Lidl reingeht, müssen die ja weg sein, oder?«
Alle Frauen schauten sich an und zuckten mit den Schultern.
»Und was ist mit Plaza?«
»Wird das nicht Toom? Hat Horst erzählt.«
»Aber Toom ist doch ein Baumarkt.«
»Auch.«
»Was passiert eigentlich mit dem Netto-Markt im Industriegebiet«?
»Der bleibt«.
Frau Bünte erkämpfte sich die Aufmerksamkeit der anderen zurück:
»Darf ich euch daran erinnern, weswegen wir alle hier sind?«
Der kleine Laden diente den Frauen schon immer als ganz wichtiger Informationsposten, in dem Insiderwissen, aber auch Gerüchte schnell und erfolgreich verbreitet wurden. An der Fleischtheke wurde gelabert, getratscht, getrunken und auch schon mal so manche unangepasste oder frivole Person von hier aus direkt aus dem Ort gemobbt. So wie damals, als Susi Schulz zusammen mit ihrem Arschgeweih von Bastian Seibold angeschleppt worden war. Für ihn damals die große Liebe, für alle anderen eine Zumutung.
Bastian Seibold hatte ›Barbie‹ damals in Hamburg auf einer Party kennengelernt und war sofort hin und weg. Dass es sich bei der Superstoffperoxyd-Gebleichten und Solarium-Gebräunten augenscheinlich um eine Prostituierte handelte, davon waren die Frauen überzeugt. Bastian nicht. Männer waren diesbezüglich ja blind, vor allem wenn es um große Möpse ging. Und die hatte sie. Deswegen musste man sich einmischen – war ja nur zu seinem Besten. Vera Bünte und Hilke Jentsch hatten Susi eines Abends beiseite genommen und ihr freundlich, aber bestimmt nahegelegt, das Weite zu suchen (Zitat aus der lockeren Unterhaltung: »Sonst … Fresse!«), während zwei andere Frauen in Bastian Seibolds Wohnung einbrachen und schon mal Susis Koffer packten. In einer Nacht- und Nebelaktion lauerte man ihr auf. An den Händen gefesselt, geknebelt und mit verbundenen Augen wurde Susi in Veras Auto bugsiert und am Tottenbütteler Ortsausgangsschild ausgesetzt. Bevor sie sanft aus dem Auto getreten wurde, löste Frau Jentsch die Fesseln. So konnte sich Barbie selbst von Knebel und Augenbinde befreien. Schließlich waren die beiden Entführerinnen keine Unmenschen. Susi wurde nie wieder gesehen.
Bastian brauchte lange, um den Liebeskummer zu überwinden. Fünf Tage später war eine neue am Start. Die kam – Gott sei dank – aus der Gegend … Olga Sokolowsky aus Brunksdorf. Ihre Körpermaße waren proportional nachvollziehbar. Aber auch sie war tätowiert. Ihr Schulterblatt zierte eine kleine Rose. Heutzutage war es nahezu unmöglich, nicht tätowierte Frauen kennen zu lernen. Dieser Körperkult, der früher nur von Gefangenen oder Seeleuten praktiziert wurde, ist salonfähig geworden. Man muss es halt hinnehmen.
Doch diese ›neue Mode‹ birgt auch Gefahren. Tattoos können in die Irre führen.
Ein Chirurg zum Beispiel markiert sich die Eingriffsstelle mit einem Edding oder anderem Filzstift, deswegen sollte ein tätowierter Patient Augen und Ohren offen halten, wenn der Arzt – vor der anstehenden OP sagt: »Ist das hier meine Markierung oder schon das Tattoo?«
Das sollte möglichst vor der Narkose geklärt werden.
Eine große Herausforderung und Verantwortung bei jedem Schnitt.
Annähernd zwanzig Frauen waren heute erschienen. Normalerweise passten so viele Menschen zur gleichen Zeit gar nicht in ihren Laden. Man rückte ein wenig zusammen.
Vera Bünte, Anfang vierzig, hatte ein maskulines Gesicht, das in einer zierlichen Figur steckte. Sie war klein, schmal, flachbrüstig und ihre kurzen blonden Haare waren knabenhaft geschnitten. Make-up empfand sie als oberflächlich. Erfolgreich vertuschte sie durch ihr äußeres Erscheinungsbild, dass sie im Körper einer Frau geboren wurde. Niemand hatte sie jemals in femininer Kleidung gesehen. Eigentlich wollte das auch niemand sehen. Viele empfanden sie als zäh und willensstark. Die burschikose Frau konnte den einen oder anderen Kerl schon mal unter den Tisch trinken.
Sie selbst sah sich als ›Kumpeltyp‹ und daran sollte sich auch nichts ändern.
Zwischen Konserven, Gemüse- und Käsetheke fand der konspirative Treff statt. Und wie der Begriff ›konspirativ‹ schon sagt, er war geheim – die Männer wussten von nichts.
Die Dorffrauen waren gut organisiert und hatten ihre eigenen Schlachtrufe: »Wir brennen ihm den Laden unter seinem fetten Arsch wech!« Anke Hoyer-Schmidt, Physiotherapeutin und sehr gelenkig, wie einige Männer sagten, ging noch einen Schritt weiter: »Nein! Wir brennen ihm gleich den ganzen Arsch wech!« Jede Parole wurde gefeiert.
»Wir schneiden ihm sein Ding ab!« war der Vorschlag von Frau von Menkwitz, der Sekretärin des Bürgermeisters. Sie bevorzugte allerdings die Berufsbezeichnung: Kauffrau für Büromanagement. Inzwischen hatte jede der Frauen einen Vorschlag für die Vernichtung des Kalle Holtzapfel abgegeben. Nachdem man von der Fleischtheke zu den Spirituosen wechselte und die eine oder andere Flasche Prosecco geöffnet worden war, schäumten nicht nur die Gläser über, sondern auch die Wut hoch. Jetzt waren sie zu allem bereit! Vera Bünte, die Rädelsführerin dieser Truppe, blies zum Ansturm. Noch etwas unschlüssig schauten sich alle an. Sicherlich fragte man sich, was denn jetzt als Nächstes passieren solle. »Bewaffnet euch, dann ziehen wir los! Wir erteilen dem Hurensohn eine Lektion, die er nicht so schnell vergessen wird!« Jetzt kam Leben in die Bude. Wie in einem ›All-you-can-eat-für-Lau‹ Restaurant, in dem gerade das Büffet eröffnet wurde, rannten alle los. Frau Schneider stolperte über einen nicht korrekt abgestellten Einkaufskorb und die mollige Frau Jentsch lief auf. Chaos im Gang mit den Konserven. Im Laufen bediente man sich noch in der Gemüse-Abteilung. Die meisten griffen sich Tomaten, aber es waren auch Eier, Paprika und Kiwis dabei. Hilke Jentsch, Friseurin im Salon ›Hair‹, hatte garantiert den Vorsatz, Kalle Holtzapfel zu töten, da sie sich eine Melone unter den Arm klemmte. Das war allerdings gar nicht so einfach, weil ihre Arme ungefähr den gleichen Umfang hatten, wie die Melone selbst. Inken Gustafsson, Inhaberin des Friseurgeschäftes und Chefin der Jentsch, packte en gros ein. Alles, was ihr in die Finger kam und sie auf den Armen tragen konnte: Zucchini, Wurzeln, Kartoffeln.
Mit dem Rest des Gemüses könnte sie sich später noch eine leckere Suppe kochen. Die Friseurinnen waren, rein frisurentechnisch, nicht besonders kreativ. Alle Frauen im Dorf trugen die gleiche ›Frise‹ … den Tottenbüttler Chic.
Die Jentsch und die Gustafsson auch, was logisch war, für sie als Trendsetter. Der Nachbarort Brunksdorf dagegen hatte seinen eigenen Stil – den Brunksdorfer Chic. Das war toll, denn so war jede Frau sofort zu identifizieren. Einmal kam Frau von Menkwitz mit einem Brunksdorfer Schnitt zu einem Landfrauen-Treffen. Ein Faupax, der fast einen Krieg auslöste. Zwei volle Tage sprach keiner der Frauen mit ihr.
Nach Krieg sah auch der eilige Aufbruch aus. Die Meute zog los und war zu allem bereit. Unterdessen war es um den Sex-Shop herum ganz still … noch. Das Einzige was man hörte, war ein Specht, der gerade einen Baum perforierte. Doch plötzlich nahm man aus der Ferne Getrampel wahr, das durch die engen dunklen Straßen hallte. Das Geräusch von Springerstiefeln drängte sich auf. Bis in den Laden war es zu hören. Holtzapfel trat vor die Tür und lauschte. Waren es die Russen? Was dagegen sprach, waren die ›Klack-Klack‹ Geräusche der Pumps von Anke Hoyer-Schmidt. Sie trug gerne diese High Heels, vor allem für die Männer im Dorf. Jedenfalls behaupteten das einige Frauen. Bei jedem Schützenfest auf der Wiese, vor den Toren Tottenbüttels, vertikutierte sie damit den Rasen und kokettierte vor den Männern.
Als die hübsche Mittdreißigerin vor ein paar Jahren in den Ort zog, war das schon eine kleine Attraktion. Nach der flachsblonden, langhaarigen, jungen Frau mit den braunen Rehaugen drehten sich viele gerne um. Erstaunlich war die Kraft, die diese zierliche Person in ihren Händen hatte. Und dass sie einen Doppelnamen trug, war keine wirkliche Bedrohung.
So mancher Kerl hatte schon versucht, sich Überweisungen vom Doc zu erschleichen, nur um sich einmal von ihr anfassen zu lassen. Rückenschmerzen waren sehr beliebt. Die Anzahl der Hypochonder stieg, bis ihnen Dr. Hagen einen Strich durch die Rechnung machte: »Gesundheitsreform. Mein Budget ist für dieses Quartal ausgeschöpft. Keine Erstuntersuchungen und keine Überweisungen mehr.«
Kalle´s Sex-Shop befand sich am Rande der Stadt in den Räumen einer alten Tankstelle.
Die Investitionen für den Umbau hatten sich richtig gelohnt, wie er fand. Jetzt sollte ein riesiger Verkaufsraum, mit kleinen Separees für Videofilme, die Kundschaft locken. Auf dem Vorplatz, auf dem sich früher vier Zapfsäulen befanden, hatte er zwei davon aus stylischen Gründen stehen lassen. Er empfand es als coole, ja sogar künstlerische Attraktion und wollte damit das seelische ›Auftanken‹ assoziieren. Den Rest des Geländes hatte er in Parkplätze umgewandelt. Der eine oder andere vermied es allerdings, mit dem eigenen Wagen vorzufahren, um nicht gesehen zu werden. Man wich auf Fahrrad oder Leihwagen aus – oder ging gleich zu Fuß.
Für die Autovermietung ›Five‹ aus einem der weiter entfernt liegenden Nachbarorte war Holtzapfels Unternehmen ein profitables Zusatzgeschäft.
Kalle sah die Horde Weiber kommen – es war schlimmer – mit den Russen wäre er irgendwie schon fertig geworden. Er entschied sich für den Rückzug. Vor seinem Laden fackelten die Frauen nicht lange und begannen mit der Bombardierung. Tomaten, Kiwis und Eier klatschten an die Eingangstür. Frau Gustafsson beschränkte sich auf zwei Zucchini, fünf Kartoffeln und vier Möhren. Den Rest wollte sie zu Hause zu einer Suppe verarbeiten. Gleich beim ersten Wurf durchschlugen die Möhren das Fenster neben der Tür.
Gott sei dank konnte Frau Jentsch nicht so gut werfen (vielleicht wegen der dicken Arme), die Melone zertrümmerte kurz vor ihren Füßen und hinterließ Fruchtfleisch auf Rock, Strumpfhose und Schuhen.
Polizeimeister Dirk Schwartz rückte mit dem Fahrrad an, nachdem Kalle Hilfe angefordert hatte. Die Rudelbildung und der Tumult vor dem Sex-Shop waren nicht zu übersehen. Er würde jetzt für Ordnung sorgen und den Mob zerschlagen.
Es kam kurz zu einem Austausch von Höflichkeiten, danach wurden die Frauen unter lautem Protest zu Fuß abgeführt. Sie marschierten in Formation vor seinem Fahrrad her und machten Lärm. Frau Gustafsson hielt eine Möhre wie einen Tambourstab hoch in die Luft, während sie dynamisch das Marschtempo vorgab.
Auf der Wache ging es hoch her. Hilke Jentsch schmetterte weiterhin ihre Parolen und verlangte nach einem Sekt. Nicht nur der Umfang ihrer Oberarme war erheblich, auch ihr Hinterteil war ziemlich wuchtig. Sie besetzte damit zwei Stühle.
Die kleine Wache befand sich in den Räumen einer ehemaligen Zwei-Zimmer-Erdgeschosswohnung eines roten, alten Backsteinhauses mit kack-braunen Sprossenfenstern. Die Zimmer waren klein, erfüllten aber ihren Zweck. Hier residierte noch vor ein paar Jahren der Bestatter Hunoldt, bevor er auf dem zweiten Bildungsweg Pastor von Tottenbüttel wurde und ins Pfarrhaus umzog … und davor wohnte hier der Schimmel. Polizeimeister Schwartz` Schreibtisch, mit dem neuen, endlich genehmigten, ergonomisch geformten Schreibtischstuhl gegenüber der Eingangstür aus Eiche-Rustikal, bildete das Herzstück des ersten Raumes. Auf ihm tummelten sich Schreibtischlampe, PC, Tastatur und Stifte-Box. Gleich daneben der weiße Kaffeebecher mit dem schwarzen Schriftzug Chef, der einen Rand auf der Schreibunterlage hinterlassen hatte. Ein kleiner Glücksbringer-Teddy lehnte an der Stifte-Box und gaukelte ein heimeliges Gefühl vor. Zwei Sprossenfenster hinter dem Schreibtisch ließen nicht gerade viel Licht in den Raum. Selbst im Sommer musste den ganzen Tag das Oberlicht brennen. Die kleine Schreibtischlampe mit der alten 25-Watt Glühbirne, schaffte es gerade mal einen dünnen Lichtkegel auf den aktuellen Ordner zu werfen und machte wenig Sinn. Vergilbte Gardinen und künstliche Pflanzen auf der Fensterbank strahlten Trostlosigkeit aus, aber auch Gleichgültigkeit. Ein Ficus Benjamini stand einsam in der Ecke und trauerte einem großen Teil seiner Blätter hinterher. Dirk Schwartz hatte einfach keinen grünen Daumen, eher einen toten. Die Wand links vom Schreibtisch wies einige Mängel auf. Risse und Flecken sollten durch einen großflächigen Kalender, auf dem wichtige Termine und Geburtstagserinnerungen notiert waren, verschleiert werden. Direkt darüber hing eine große Bahnhofsuhr, die sich PM Schwartz von seinem eigenen Geld gekauft hatte. Die alte Uhr war hässlich und laut. Das permanente Ticken trieb ihn fast in den Wahnsinn und er war froh, als sie kaputt ging. Gut, er hatte ein wenig nachgeholfen. Konnte ja niemand ahnen, dass die gleich beim ersten Wurf mit dem Lineal vom Haken fiel. An der Wand rechts neben seinem Arbeitsbereich hing eine Pinnwand mit Fahndungsfotos. Diese Fotos waren inzwischen leicht vergilbt oder hatten einen Sepia-Look angenommen. Höchstwahrscheinlich waren die Gesuchten schon gefunden, verhaftet oder inzwischen verstorben. Normalerweise hätten die schon vor langer Zeit entfernt und von aktuellen Fotos ersetzen werden müssen. Nicht nur bauliche Defizite, sondern auch der ganze Frust waren hier überall ersichtlich. Direkt unter der Pinnwand standen noch vier zusätzliche Stühle, falls hier mal mehr Gäste erwartet wurden. Zwei davon besetzte schon Frau Jentsch. PM Schwartz war sehr stolz auf seine Mitgliedschaft im Chuck-Norris-Fan-Club und auf ein Autogramm, das in einem silbernen Bilderrahmen neben der Eingangstür hing. So hatte Dirk sein Idol vom Schreibtisch aus immer im Blick. Es zeigte den Schauspieler in typischer Pose: verschränkte Arme, grimmiger Blick, Cowboyhut. Wenn auf der Wache wenig zu tun war, also meistens, stellte er die Pose nach und fühlte sich überlegen. Allerdings verzichtete er neuerdings auf das Nachstellen des so genannten ›Roundhouse-Kick‹, da er sich das letzte Mal so schwer verletzt hatte, dass sein Orthopäde ihm riet: »Lassen sie das einfach … «, dabei hatte er ihm väterlich auf die Schulter geklopft. Er hatte sich so dermaßen die Leiste gezerrt und war beim schnellen Absenken des Beines gegen den Schreibtisch geknallt, wobei er sich den Fuß verstauchte und sich einen Zeh brach. »Sehen sie, Herr Schwartz, nicht jeder kann ein Chuck Norris sein.« Nun ging es los, sein Arzt kannte kein Erbarmen: »Wenn man Chuck Norris fragt, wie viele Liegestütze er schafft, sagt er … alle! Oder: besser, mit Chuck Norris zu teilen, als von Chuck Norris geteilt zu werden! Und der ist auch noch gut, den erzählen wir uns immer mal wieder gerne während einer OP, der erinnert mich auch ein bisschen an Sie«, dabei lachte er laut, »was geht den Opfern von Chuck Norris als letztes durch den Kopf? Na, …sein Fuß!«
Schön, dass sich sein Arzt amüsierte. Er selbst konnte gar nicht darüber lachen. Dirk verabschiedete sich schnell vom Doc, er hatte die Schnauze voll. Sie reichten sich die Hände und der Arzt flüsterte zum Abschied: »Wenn man Chuck Norris die Hand gibt, sieht man sie nie wieder«. Sein Lachen erinnerte an ein Grunzen und Dirk hoffte, er würde daran ersticken.
Der zweite Raum, der noch kleiner war als der erste, beherbergte eine Kitchenette, seinen Spint mit Spiegel und eine Pritsche, falls sich seine Arbeit mal über Nacht hinzog. Mit anderen Worten, wenn er die eingekerkerten Trunkenbolde bewachen musste. Im Keller befanden sich dafür zwei Zellen für die richtig bösen Jungs. Alle Stühle waren besetzt, die meisten Frauen mussten stehen.
»Schnauze«! Dirk hatte es schwer sich durchzusetzen. Wütend riss er Frau von Menkwitz seinen kleinen Teddy aus der Hand, mit dem sie gerade einen ›Marsch‹ auf der Schreibtischplatte simulierte. Der Rest der Frauen, die mindesten genauso beschwipst waren, stimmten in die Parolen mit ein. Frau Gustafsson knabberte an einer übrig gebliebenen Möhre. PM Schwartz machte eine Liste aller Frauen, die bei diesem Terroranschlag anwesend waren und informierte die Ehemännern (falls vorhanden) für die Rückholaktion. Die Frauen ohne Partner wurden von ihm höchst persönlich mit dem Dienstwagen nach Hause gefahren. Im Auto gingen die Gesänge weiter. Frau von Menkwitz startete die Warnblinkanlage, während Frau Bünte dem Polizisten von der Rückbank aus die Augen zuhielt und entzückt rief: »Kuckuck, wer bin ich?«
Es hagelten bald zahlreiche Anzeigen und dabei war Beschmutzung öffentlicher Wege und Gefährdung im Straßenverkehr die geringsten Probleme der Damen.