Читать книгу Die Liga der außergewöhnlichen Idioten - Uta Bahlo - Страница 5
Kapitel 3
ОглавлениеKurze Zeit später war es abermals Bauer Jensen, der von sich reden machte. Er bretterte mit seinem Trecker Hilke Jentsch über den Haufen und begrub sie unter sich.
Unfall? Zufall? Sekundenschlaf? Wir erinnern uns an die wurfschwache, trinkfeste und ziemlich korpulente Frau Jentsch? Sie war am Abend mit ihrem Fahrrad vom Friseurladen auf dem Nachhauseweg. Keuchend und puterrot im Gesicht nahm sie ausnahmsweise den Feldweg, der am Hof des Bauern vorbei führte.
Und genau hier am Zaun, nicht unweit der Scheune, traf der Traktor auf sie und ihr Fahrrad. Puh, das war kein schöner Anblick. Sie lag mit dem Gesicht im Dreck und war wohl sofort tot … das Fahrrad auch. Alles sah nach einem Unfall aus.
Polizeimeister Schwartz forderte Unterstützung aus der Stadt. Ob Unfall oder nicht, sollten die klären.
Kommissariatsleiter Piet Laue, der bei allen nur ›Chef‹ genannt wurde, hatte aus der morgendlichen Besprechung eine Abendveranstaltung gemacht. Am Morgen waren nämlich wichtige Unterlagen aus Mailand gefaxt worden, die dringend bearbeitet werden mussten. Das ging natürlich vor. Piet Laue war ein Mann von Ende Fünfzig und hoher Stirn – sehr hoher Stirn. Sein spärlicher Haarkranz, der am Hinterkopf über einem Ohr ansetzte und halbkreisförmig hinüber ans andere Ohr grenzte, teilte seinen Kopf optisch vom Hals. Oberhalb der Fontanelle hatte sich eine Warze manifestiert, die die Vermutung zuließ, dass diese für die Verdrängung seiner Haare verantwortlich sein könnte; die Warze wurde nämlich immer größer und der Haarkranz kleiner. Zusätzlich trug er einen Bauchansatz vor sich her, der vor einiger Zeit unter seinem Pullover noch an ein geschmuggeltes Baguette erinnerte, doch sich inzwischen in einen ganzen Brötchenkorb verwandelt hatte.
Der Chef teilte die Beamten gerade für den nächsten Tag ein, als es klopfte. Ohne ein ›herein‹ abzuwarten stand Silke Kühl, Sekretärin im Kommissariat, mit ihrem Notizblock bewaffnet schon in der offenen Tür. Sie war eine Zugezogene, kam ursprünglich aus Hamburg, was sie auch bei jeder Gelegenheit betonte. Dann fielen Sätze wie: in Hamburch hatten wir wesentlich mehr Kriminalität. Da wusste ich manchmal nicht, wo mir der Kopf stand – so viel war da zu tun. Richtig harte Jungs…!
Sie lehnte am Türrahmen und wollte etwas Wichtiges loswerden: »Sorry Chef, aber grad kam ein Anruf rein. In Tottenbüttel gab´ s ´nen Unfall, vielleicht ist auch mehr dran. Besser, es fährt mal eben jemand hin. Ein gewisser … Polizeimeister Dirk Schwartz erwartet die Kollegen am Hof von einem gewissen … Werner Jensen … Kohlstraße 1.« Sie schaute streng über ihre Halbbrille abwechselnd auf ihren Notizblock und zu den Kollegen hinüber. Die Seite wurde herausgerissen und an Piet Laue übergeben. Dann verschwand sie wieder in ihrem Büro. Sie war ein großer HSV-Fan, was an der Farbauswahl ihrer Kleidung gut zu erkennen war. Blau, weiß, schwarz waren Rock, Bluse und Schuhe aufeinander abgestimmt. Ihr Lieblingslied war ›Hamburg meine Perle‹ von Lotto King Karl. Trotzdem wurde sie von den Kollegen geachtet.
Hauptkommissar Kai Brodersen und Polizeiobermeister Gunnar Block wurden von ihrem Chef zum Tatort nach Tottenbüttel geschickt. Brodersen war Anfang Fünfzig und rein äußerlich eine Herausforderung für jeden Stylisten. Seine Haare hatten ihn gänzlich verlassen, genau wie seine Frau Helga. Die letzten drei Fussel, die noch auf dem Kopf klebten, verabschiedeten sich zeitgleich mit Helga, als die Tür von außen ins Schloss fiel. Das war an einem regnerischen Montagabend. Sie ging und kehrte nicht zurück. Vergessen waren Sätze wie: bis das der Tod uns scheidet oder: in guten wie in schlechten Zeiten. Die schlechten Zeiten waren wohl für seine Frau schon länger sichtbar gewesen, doch er, der Kommissar mit den kriminalistischen Fähigkeiten hatte nichts wahrgenommen. Gut, die männliche Wahrnehmung ist begrenzt, doch was war der Grund für ihr Gehen. Sie hätte jemanden kennengelernt, hatte sie ihm gebeichtet. »Und das wäre auch nie passiert«, klagte sie ihn an und ihre Worte hallten immer noch nach, »wenn du nicht immer so unsensibel gewesen wärest.« Er war also selbst Schuld. Damit musste er erst einmal klar kommen. Das war vor fast drei Jahren.
Brodersen wurde generell nachlässig mit seinem Körper und hatte kein Interesse mehr an seinem Äußeren … und an Hygiene.
Er war absolut kein Sympathieträger und außerdem zurzeit ziemlich übel gelaunt. Der Grund war wohl der momentane Nahrungsentzug. Er musste unbedingt gesünder leben und ein paar Kilo abnehmen. Mit den aufmunternden Worten: »Wenn sie so weiter machen wie bisher, könnten sie Morgen schon tot umfallen.« übergab ihm sein Arzt einen Ernährungsplan. Gestrichen waren Süßigkeiten. Mehr Gemüse und weniger Fleischprodukte standen ab sofort auf seinem Speiseplan. Er hasste Gemüse, war ein Fleischfresser. Manchmal, wenn der Heißhunger sehr groß war, stibitzte er seinem Hund ein paar Fleischbrocken aus dem Napf. Er tauschte auch schon mal komplett sein Menü mit dem des Hundes. Der Mops Klaus war das einzige, was dem Kommissar geblieben war und zurzeit sein einziger privater und sozialer Kontakt. Doch nachdem Brodersen irgendwann bemerkte, dass er Klaus nicht alleine zu Hause lassen konnte, weil er Sofakissen und Sessel in deren Bestandteile zerlegte, blieb ihm nichts anderes übrig als ihn zu Einsätzen mitzunehmen. Denn auch an dem Hund ging die Trennung nicht spurlos vorbei. Und somit wurde Klaus zu Brodersens, von den Kollegen geduldeten, persönlichen Polizeihund.
Sein Kollege Block war das genaue Gegenteil von Brodersen. Erfolgsorientiert, Mitte dreißig, groß und seine muskulösen Oberarme ließen auf eine sportliche Figur schließen. Seine schwarze Mähne wucherte nicht nur, sie wellte sich auch. Er war ein hübscher Mann, dem nicht nur die Frauen hinterherschauten. Manchmal hasste er es, nur auf seinen Körper reduziert zu werden. Gunnar Block hatte kein Haustier. Früher mal, als er noch ein kleiner Junge war, besaß er ein Meerschweinchen (ohne Namen), das aber ziemlich schnell verstarb – wahrscheinlich vor Langeweile. Seine Eltern ersetzten ihm das Tier, doch eigentlich waren diese Viecher Perlen vor die Säue geworfen, wie man so sagt. Dort, wo andere Kinder seines Alters ihre Tiere als Geisel nahmen und mit Liebe und Zuwendung fast erstickten, schaffte es der kleine Gunnar einfach nicht, diese Meerschweinchen auf den Arm zu nehmen, geschweige denn zu streicheln und am Leben zu erhalten. Das zweite starb dann auch relativ schnell an seiner sozialen Inkompetenz. Gunnar Block hasste diese Vielfellträger, die seltsame Geräusche machten. Dazu waren die auch noch nachtaktiv. Seine Abneigung gegen Fell ging so weit, dass er nicht mal mehr eine Kiwi anfassen konnte. Nur der Gedanke daran trieb ihm schon den Schweiß auf die Stirn.
Dabei wollten ihn seine Eltern nur auf eventuelle soziale Aufgaben vorbereiten. Sie schenkten ihm Mitte der Neunziger Jahre ein virtuelles Haustier: das ›Tamagotchi‹. Das wurde dann auch ganz schnell auf einem virtuellen Friedhof begraben.
»Immer is was«, maulte Block.
»Und immer am Wochenende«, ergänzte Brodersen. Sein Kollege nickte und setzte noch einen drauf: »Oder nach Feierabend.« Beide fuhren über die wenig befahrene Landstraße über Hertzhusen Richtung Tottenbüttel. Büsche, Bäume, dann ein Knick und wieder Wald säumten die Fahrbahn. Zu dieser Jahreszeit setzte die Dämmerung schon früh ein. Hier draußen gab es nichts – nur Natur – und die im Überfluss. Die Kühe lagen auf ihrem faulen Fell und meditierten. »Tiefste Provinz«, bemerkte Brodersen und seufzte laut.
Und genau diese Provinz schlug mit ihrer ganzen Grausamkeit und Härte zu. Block machte seinen Chef zwar mehrfach auf eventuellen Wildwechsel aufmerksam, doch sein Fuß klebte auf dem Gaspedal. Beide fuhren in halsbrecherischem Tempo über die Landstraße. Plötzlich war es da … mitten auf der Straße. Ein großes Tier – vermutlich Hirsch (bei hohen Geschwindigkeiten ist die Identifizierung häufig schwierig) – stand Auge in Scheinwerfer mitten auf der Fahrbahn. Brodersen machte eine Vollbremsung. Die Reifen quietschten, das Heck des Wagens brach aus. Sie schleuderten von links nach rechts … dann knallte und krachte es auch schon laut und blechern. Das Tier prallte mit voller Wucht erst gegen die Stoßstange, rutschte dann mit den Vorderläufen zuerst über die Kühlerhaube aufs Panoramadach und blieb dort liegen. Dabei blickte das Tier dem Polizeiobermeister von oben direkt in seine aufgerissenen Augen. Der schrie in seinen aufgeplatzten Airbag, der vor seinem Mund wie ein Schalldämpfer wirkte und dadurch die Lautstärke etwas entschärfte. Vor seinen Augen raste sein Leben wie im Zeitraffer an ihm vorüber. Klaus, der bis eben noch wie wahnsinnig bellte, hatte sich in den Fußraum geflüchtet und schaute nur noch apathisch. Der einzige Kommentar des Kommissars war, während er seinen Kopf langsam aus seinem Airbag schälte: »Heidewitzka! Gut, dass wir nicht offen gefahren sind.« Der Wagen stand quer auf der Straße und hatte ordentlich was abbekommen. Eine Stoßstange existierte nicht mehr und die Kühlerhaube erinnerte an einen Meteoriten-Einschlag. Erstaunlicherweise blieben die Windschutzscheibe und das Panoramadach unversehrt. Der Förster musste benachrichtigt, und der tote Paarhufer geborgen werden. Eine große Wunde ließ einen flüchtigen Blick in sein Inneres zu.
Glücklicherweise war der Wagen noch fahrbereit. Durch die Aufräumarbeiten und Schritttempo trafen die beiden Beamten verspätet am Tatort ein.
Dirk Schwarz riegelte unterdessen ungeduldig den Tatort bis zur Ankunft der Kollegen ordnungsgemäß mit dem Absperrband ab. Dirk wusste, worauf es ankam. Ein Krankenwagen war inzwischen vor Ort, die Spurensicherung informiert und der Abtransport der Toten in die Rechtsmedizin organisiert.
Bauer Jensen zog sich eine Kopfverletzung zu und konnte sich nicht erinnern, wobei das geschehen war. Angeblich hätte er Frau Jentsch auch gar nicht gesehen.
Er wurde mit einem Schock, der vorläufig versorgten Wunde und schließlich im Rettungswagen ins Krankenhaus eingeliefert. Für eine Nacht musste er seine Kühe alleine lassen. Glücklicherweise wurde Jensen an dem Abend mit dem melken rechtzeitig fertig.
Polizeimeister Schwartz gab dem Notarzt die Anweisung mit auf den Weg, dem Unfallfahrer Jensen Blut abzunehmen, zwecks Alkohol-Kontrolle … nur für alle Fälle.
Der Lichtschein vom Hof des Bauern fiel nur sehr schwach bis auf den Weg hinüber.
Doch mit Hilfe von Scheinwerfern erstrahlte der Tatort und zeigte ungeschönt die ganze Realität dieser ländlichen Gegend. In den tiefen Traktorspuren, auf dem Weg direkt vor der Hofeinfahrt, war durch den andauernden Regen eine tiefe Fahrrinne entstanden, indem gut und gern ein Kümo hätte fahren können.
Als die beiden Beamten dann endlich am Tatort eintrafen – inzwischen war es vollständig dunkel geworden – hielt der Bürgermeister gerade seine Wahlkampfrede und stachelte einige Schaulustige an, gegen solche Kriminalität vorzugehen. Es war schon erstaunlich, wie schnell sich das Unglück in der Umgebung herumsprach. Ein beliebiger Ort konnte noch so abgelegen, die Nacht konnte noch so schwarz sein, immer waren Gaffer vor Ort. Doch wenn mal dringend Zeugen nach Entführungen oder spurlosem Verschwinden von Kindern benötigt wurden, hatte niemand etwas gesehen. Es schien dann, als wäre in dem Moment die Bevölkerung kollektiv auf dem Klo.
Während seines Monologes vergaß der Bürgermeister keinesfalls, noch einmal auf das Problem ›Puff‹ einzugehen:
»Scheinbar gibt es hier in unserem schönen idyllischen Ort Subjekte, die es nicht verdienen am harmonischen und gemeinschaftlichen Miteinander teilzuhaben!« Hansen hatte Probleme seine Haarsträhnen zu bändigen. Der immer noch starke Wind wirbelte es immer wieder nach vorn über seine Augen. Energisch versuchte er, die einzelnen widerspenstigen Haarbüschel mit den Fingern auf eine Seite zu legen, aber der Wind machte es ihm unmöglich. Selbst mit Spucke … nichts zu machen. Sein grauer Trenchcoat flatterte im Wind und wirkte in der Dunkelheit wie der Umhang von Batman.
Hansen verlangte vollständige Aufklärung mit allen Konsequenzen, obwohl Werner Jensen zu seinen Stammtischfreunden gehörte und Mitglied im gemeinsamen Schützenverein war. Doch er konnte sich keinen feigen Anschlag auf das Leben einer Friseurin oder irgendein anderes Leben leisten, da er mitten im Wahlkampf steckte und auf solche falschen Freunde, weiß Gott, verzichten konnte. Mit diesem Holtzapfel hatte er schon genug zu tun.
Stammtisch hin oder her – man musste Prioritäten setzen. Dieser ganze Kriminalfall kam ihm gerade recht, war doch Jensen jetzt schon das dritte Mal in Folge Schützenkönig geworden. Je länger er über ihn nachdachte, umso suspekter war er ihm schon immer gewesen.
Nachdem Jensens Frau nach einem Schützenfest mit dem Metzger aus dem Nachbardorf über alle Berge verschwand, wurde er sichtlich aggressiver. Der Alkohol wurde sein bester Freund und war wohl auch Schuld daran, dass Bauer Jensen beim letzten Wettschießen den ›Allerwertesten‹ von Bürgermeister Hansen nur ganz knapp verfehlte.
Inzwischen war Jensen trocken, aber die Angst, er könnte plötzlich Amoklaufen, blieb bei allen Dorfbewohnern allgegenwärtig. Schließlich war er immer noch bewaffnet. Nicht im Moment, aber doch grundsätzlich.
Die Beamten stiegen aus ihrer Unfall-Karre aus und standen auch schon komplett im Matsch. »Was für´ ne Scheißgegend«, stöhnte Brodersen, der vom Unfall noch gezeichnet war. Auf seiner Stirn entstand ganz langsam eine Beule, der man beim Wachsen zusehen konnte. Die war beim Aussteigen entstanden, als er gegen den Holm geknallt war. Block schien komplett unverletzt. Brodersen klemmte seinen immer noch apathisch blickenden Hund unter den Arm und machte sich auf den Weg zu den Zeugen.
Der Wagen zog jetzt alle Blicke auf sich. Der Bürgermeister fragte: »Unfall?«
»Nee!« antwortete Brodersen nur kurz.
Hansen schaute verächtlich und brummte leise:
»Der Hund hatte offensichtlich keine Knautschzone.«
»So, jetzt wollen wir uns alle mal wieder beruhigen«, befahl der Kommissar und verwies den Bürgermeister in seine Schranken, »Wer war der erste am Tatort und wer hat etwas beobachtet?« Brodersen war selbst überrascht, dass er so ruhig blieb. Normalerweise hätte er alle sofort mit aufs Kommissariat genommen und zur Sau gemacht. Aber vielleicht lag das auch nur daran, dass er selbst noch immer unter Schock stand. Eine Reibeisenstimme hinter ihm meldete sich plötzlich zu Wort. Der Kommissar schreckte zusammen und Klaus hatte sein Bellen wieder gefunden. Brodersen drehte sich um und schaute zehn Zentimeter hinunter auf einen kleinen, schmalen und weiß-haarigen Mann mit fahler Haut. Der war ganz in schwarz gekleidet und machte keinen besonders Vertrauen erweckenden Eindruck. Auf Brodersens gesamte Haut legte sich ein kalter Schauer.
»Ich habe die Frau gefunden.« erklärte der fleischgewordene Tod leise.
»Und wer sind sie?« Der Kommissar war vorsichtig. Er traute diesen ›Grufti‹-Typen nicht.
»Ich bin der Bestatter. Mein Name ist Knuth Hunoldt – vorne mit TH, hinten mit DT.« antwortete der schwarze Mann mit monotoner Stimme. Der Kommissar zog die Augenbrauen hoch. Wenn er etwas hasste, waren es Rätsel. Was wollte ihm der Kerl damit sagen?
»Knuth mit TH und Hunoldt mit DT.«
OK, jetzt machte es Sinn. Der Bürgermeister rundete das Bild ab, indem er den Beamten hinter vorgehaltener Hand mitteilte, dass er nicht nur Bestatter, sondern ein Upgrade zum Pastor hätte. Hauptkommissar Brodersens leise Bemerkung zu seinem Kollegen Block: »Das passt.« Polizeiobermeister Block nahm die Personalien auf und ließ sich von Knuth Hunoldt den Zeitpunkt des Auffindens der Leiche nennen und was er zu der Zeit hier wollte.
»Es muss so um … 18.30 gewesen sein. Ich kam hier ganz zufällig vorbei.« krächzte der Mann.
»Was macht man denn rein zufällig zur fraglichen Zeit hier auf dem Feldweg?« befragte der Kommissar, während er seinen Hund aus der Umklammerung löste und ihn auf dem Sandweg absetzte. Der Mops machte sich auch gleich aus dem Staub. Eilig steuerte er einen Zaunpfahl an und pieselte auch schon los … gefolgt von etwas Durchfall – wohl wegen der Aufregung.
Hunoldt beobachtete den Hund bei der Verrichtung und verzog das Gesicht, bevor er antwortete: »Ich mache immer am Abend noch mal einen … Verdauungsspaziergang.«
Schnell lenkte der Kommissar die Aufmerksamkeit wieder auf sich:
»Und dann? Was haben sie beobachtet?«
»Ja also … als ich dazu kam, war schon alles passiert. Frau Jentsch lag direkt unter einem der großen Reifen und unter dem anderen lag ihr Fahrrad. Beide waren platt. Der Jensen saß geschockt auf dem Boden neben seinem Trecker und war völlig fertig. Ich hab dann erstmal Dirk … also … unseren Polizisten und den Krankenwagen gerufen.«
Brodersen nickte mehrfach, während er die Aussage in sein kleines Büchlein schrieb.
»Also haben sie den Unfall eigentlich gar nicht beobachtet.«
»Nicht direkt, das ist korrekt. Aber ich konnte mir doch denken, was geschehen war. Frau Jentsch war unter die Reifen geraten. Unfall.«
Der Beamte gab ihm zu verstehen – ob Unfall oder nicht, das sollte Herr Hunoldt mit TH mal bitte der Polizei überlassen. Der Pastor berichtigte und versuchte dabei zu lächeln:
»Mit DT…Hunoldt mit DT…Knuth mit TH.«
Es war sehr umständlich und aufwendig, die Tote unter dem Trecker zu bergen. Schließlich wollte man sie ja in einem Stück in die Gerichtsmedizin bringen.
Nun musste erst einmal schweres Gerät bestellt werden, um den Trecker zu bergen. Der wurde anschließend in die KTU transportiert. Danach barg man Frau Jentsch. Drei Mann ächzten unter dem Gewicht der ziemlich korpulenten Toten. Man überlegte kurz, das schwere Gerät – den Tieflader samt Kran – auch hier anzuwenden. Schließlich konnte man bei ihr nicht mehr so viel kaputt machen. Aber dann klappte es doch noch, ohne dass Frau Jentsch weiteren Schaden nahm und die Tote knallte in die Zinkwanne. Unter Einsatz des gesamten Körpergewichts schlossen die Männer die Metall-Kiste. Endlich ging es in die Gerichtsmedizin nach Kiel. Der Rechtsmediziner gab die Antwort, noch bevor der Kommissar die Frage stellen konnte:
»Ich habe noch keine Vermutung zum Tod der Frau – bis auf, dass sie irgendwie unter die Räder gekommen ist. Ob sie gestoßen wurde oder einfach nur gefallen ist, wird sich noch zeigen. Vielleicht war sie einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich kann erst mehr sagen, wenn sie bei mir auf´ m Tisch liegt.«
Hauptkommissar Brodersen und sein Kollege Block fuhren zwischenzeitlich ins Krankenhaus, um den Bauern zu besuchen. Der hatte sich beruhigt und konnte zum Unfall befragt werden. Die Asklepius-Klinik lag dreißig Kilometer entfernt in der nächsten Kreisstadt.
Da Hunde im Krankenhaus grundsächlich nicht erlaubt waren, musste Klaus gegen seinen Willen im Auto bleiben. Der war stinkig, dass sein Herrchen ihn alleine ließ. Daher fing er auch sofort an, sich in Form von Vandalismus mitzuteilen. Im Auto flogen die Fetzen. Doch von alldem bekamen die Beamten im Moment noch nichts mit.
Mit einem Zzzischsch öffnete sich die Automatiktür. Block desinfizierte sich im Eingangsbereich die Hände an den Desinfektionsspendern, während Brodersen schnurstracks Richtung Empfang weiterging. »Stopp!« rief ihm Block hinterher, »Erst Hände desinfizieren. Schließlich hast Du Deinen Hund angefasst.« Brodersen rollte mit den Augen, machte kehrt und tat es seinem Kollegen gleich.
Um diese Zeit ging es auf den Fluren sehr ruhig zu. Die Nachtschicht hatte begonnen.
Am Empfang erkundigte sich POM Block nach dem Patienten.
»Sind sie mit Herrn Jensen verwandt?« Die dralle Nachtschwester an der Rezeption schaute energisch. Die Beamten wiesen sich als Polizisten aus und durften passieren.
»Erster Stock, Zimmer 104, Fahrstuhl um die Ecke.« Mit diesen knappen Informationen der mies gelaunten Schwester ging Block voraus und Brodersen schlurfte hinterher. Die Fahrstuhltüren öffneten sich, beide machten nacheinander einen Schritt hinein und stutzten. In der hinteren Ecke stand eine weißhaarige, alte Dame in einem babyblauen Nachthemd und einem Kissen unter dem Arm. Ihre Füße steckten in Hausschuhen aus weißem Schaffell. Sie starrte auf den Boden. Kurz bevor sich die Türen hinter den Beamten schlossen, huschten noch schnell eine Krankenschwester und ein Pfleger hinein. Sie waren außer Atem und wendeten sich der Frau zu: »Was machen sie denn für Sachen, Frau Thomsen. Wo wollen sie denn hin?« Es klang wie die Ansprache an ein Kleinkind, das illegal aus dem Kindergarten fliehen wollte. Etwas verunsichert drückte die Frau ihr Kissen noch fester an sich. »Ich muss doch noch den Tisch decken.«
Das Klinikpersonal hatte Frau Thomsen zu spät bemerkt als sie im zweiten Stock in den Fahrstuhl einstieg. Die Türen schlossen sich, bevor Pfleger und Schwester sie aufhalten konnten. Die beiden mussten nun möglichst schnell die Treppe nehmen und rasten der Frau zu Fuß hinterher. Nicht auszudenken, wäre Frau Thomsen zwischenzeitlich auf irgendeinem Stockwerk ausgestiegen und dort verloren gegangen. Der Laie mache sich heutzutage keine Gedanken darüber, was alles hätte passieren können. Krankenschwester und Pfleger hatten schließlich die Verantwortung. Frau Thomsen ans Bett zu fesseln, wäre keine Alternative gewesen. Obwohl – Alternative schon, doch keine Lösung. Die Option der Ruhigstellung durch Medikamente wäre schon entschieden einfallsreicher gewesen.
Im ersten Stock stiegen Brodersen und Block aus.
»Schrecklich.« kommentierte Brodersen das Geschehene im Fahrstuhl.
Block nickte.
»So, hier ist es, Zimmer 104.« Brodersen klopfte nur kurz und ging gleich hinein. Jensen saß mit verschränkten Armen auf dem Rand des Bettes mit dem Rücken zur Tür und schaute stoisch aus dem Fenster.
»Moin Herr Jensen, wir haben noch ein paar Fragen.« Der Kommissar ging um das Bett herum, um ihm in die Augen sehen zu können. Ein dickes Pflaster klebte auf Jensens Beule auf der Stirn.
»Sie war plötzlich da … ich hab sie nicht gesehen.« sagte Jensen schnell, während er sich den beiden zudrehte. Bei der Gelegenheit protestierte er gegen die Blutabnahme, die gegen seinen Willen vorgenommen wurde. »Ich hatte nur ein einziges Mon Cherie!« schwor er. Außerdem würde er durch den Schock und die Verletzung am Kopf – seiner Meinung nach – an einer retrograden Amnesie leiden. (Das hatte er irgendwann mal im Fernsehen gesehen.)
»Dann können sie sich also an nichts erinnern?« Jensen schüttelte mit dem Kopf.
»Aber an das Mon Cherie können sie sich noch erinnern.« Kopfnicken löste das Kopfschütteln ab.
»Mochten sie Frau Jentsch?« bohrte Polizeiobermeister Block nach.
»Mein Verhältnis zu ihr war neutral. Ab und an hat sie mir die Haare geschnitten.«
»Sie haben also kein Motiv, sie aus dem Weg zu räumen!?«
»Natürlich nicht!« Jensens Stimme erhob sich erneut. Die Beamten informierten den Bauern noch darüber, dass sein Trecker zurzeit nicht verfügbar sei, weil man ihn kriminaltechnisch untersuche. Brodersen bemerkte Jensens fragenden Blick. Als würde er nun einem Kleinkind die Zusammenhänge sichtbar machen wollen, versuchte es der Kommissar mit Hilfe seiner Finger: »Erstens – Profilabdrücke müssen genommen werden, zweitens – Bremsweg muss festgestellt werden – war der Trecker womöglich getuned oder manipuliert!? Und drittens muss die Geschwindigkeit, die der Trecker zum Zeitpunkt des Aufpralls mit der Jentsch und ihrem Fahrrad hatte, geklärt werden.«
Bauer Jensen wies darauf hin, dass sein Trecker niemals über eine Geschwindigkeit von 20 KM/H kommen würde … und man könne bei solchem Schneckentempo noch nicht mal von Geschwindigkeit sprechen. Außerdem wäre sie ihm wohl ziemlich flink mitten auf dem Feldweg entgegengeradelt – mit mindesten 15 KM/H – so dass man die reelle Geschwindigkeit nur mathematisch im Dreisatz errechnen könne. Bei ihrer Leibesfülle war das natürlich nicht ganz glaubhaft, aber nicht auszuschließen. Jedoch staunten die Polizisten nicht schlecht über das fundierte Wissen des Bauern. Das hatten sie nicht erwartet.
»Hört sich nicht nach retrograder Amnesie an.« stellte Block fest.
Da aber im Moment nicht mehr aus dem etwas verstockten Jensen herauszuholen war, verließen die beiden Beamten ziemlich unzufrieden den Simulanten.
»Vielleicht ist sie ja gestoßen worden!?« spekulierte POM Block, während beide über den Krankenhausflur Richtung Ausgang schlenderten. Der setzte gerade zum ausgiebigen Gähnen an, brach aber abrupt ab, als ihnen eine junge, hübsche Krankenschwester mit blondem Zopf und scheinbar blauen Augen entgegen schwebte. Sie musterte Block von oben bis unten und lächelte ihn herausfordernd an. Der Polizeiobermeister lächelte zurück.
Als sie aneinander vorbeigingen, streifte ihr Arm ganz leicht seinen.
»Ja, vielleicht hat sie der schwarze Mann geholt…dieser Bestatter. Wie hieß der noch?«
»Hunoldt, Hunoldt mit DT.« antwortete Block seinem Chef, während er sich nach der Krankenschwester umdrehte. Kaum war sie außer Sichtweite, setzte er sein Gähnen fort und steckte Brodersen damit an. Der rieb sich dabei die Augen wie ein kleines müdes Kind.
»Vielleicht war das ja eine Beschaffungsmaßnahme. Wenn einem die Toten ausgehen, weil zu wenig gestorben wird, kommt man schon mal auf verrückte Einfälle. Schließlich war er der erste am Tatort.«
Als sie den Empfangsbereich passierten, rief die dralle Nachtschwester hinter ihnen her:
»Gehört ihnen der Wagen da draußen, mit dem Kennzeichen HEI-BR-234?«, die beiden nickten, »Einer unserer Ärzte hat eben bei Dienstantritt bemerkt, dass ein Hund draußen im Auto mit diesem Kennzeichen völlig durchdreht.«
Die Beamten schauten sich kurz an und erhöhten ihre Laufgeschwindigkeit. Auf dem Weg zum Auto bemerkte Hauptkommissar Brodersen von weitem schon die komplett beschlagenen Fenster. »Klaus!« rief er laut und lief, für seine Möglichkeiten relativ flink, dem Wagen entgegen. Die Fernbedienung für die Türen wurde jetzt schon, mindestens zehn Meter vorher, immer wieder schnell hintereinander und hastig gedrückt … die Türen wurden aufgerissen…
»Oh Oh!« war alles, was Kollege Block sagen konnte, als er näher kam. Hauptkommissar Brodersen sagte gar nichts mehr. Das Szenario lässt sich wie folgt beschreiben:
der komplette Innenraum machte den Eindruck, als hätte Edward mit den Scherenhänden mit Freddy Krüger darum gekämpft, wer auf dem Rückweg vorne sitzen darf. Alle Polster waren aufgeschlitzt. Klaus lag auf dem Rücksitz und tat, als wäre nichts. Er stellte sich tot. Besser, er wäre es auch gewesen. Der Kommissar, der immer noch blass war, aber wieder sprechen konnte, stieg ins Auto ein und murmelte: »Das hat ein Nachspiel, Klaus.« Jetzt stieg auch Kollege Block ins Auto ein, das nicht nur äußerlich einem Wrack ähnelte.