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Kapitel 2

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Man konnte es nicht glauben, aber normalerweise war das Leben in Tottenbüttel sehr vorhersehbar … und gähnend langweilig. Hier in diesem kleinen verschlafenen Nest passierte so gut wie nie irgendetwas Aufregendes. Hier sagten sich noch nicht mal mehr Hase und Igel ›Gute Nacht‹. Die waren nämlich schon vor Jahren weggezogen.

Der Ort lag eingebettet zwischen Marsch, Elbe und Nord-Ostsee-Kanal. Windräder formierten sich auf den Wiesen und Weiden zu riesigen und im Nebel zu unheimlichen Ungetümen, deren Rotorblätter die Gülleluft durchschnitten. Ein wundervoller Flecken noch fast unberührter Natur, an dem es sich sehr angenehm leben ließ … wenn man auf Einsamkeit stand. Ab 18.00 Uhr, spätestens wenn die Tür des Tante-Emma-Ladens von Vera Bünte ins Schloss fiel, wurden die Bürgersteige hochgeklappt und die Rollläden herunter gefahren. Dann war es ganz still … so still, dass man die Nadel hätte hören können, die in den Heuhaufen gefallen wäre. Hier im Dorf wohnten viele Bauernfamilien, die noch vor dem ersten Hahnenkrähen aufstehen mussten. Deshalb ging man auch schon mit den Hühnern ins Bett. Manche alleinstehende Seele tat das auch schon mal wortwörtlich.

Tottenbüttel bestand aus einem Ortskern und kleinem idyllischen Marktplatz mit Kopfsteinpflaster, auf dem im Halbkreis vier Bänke unter drei Eichen standen. Trotz des zweifellos verlockenden Platzes saß hier so gut wie nie jemand, da die Bäume als Treffpunkte vieler, ganz unterschiedlicher Vögel dienten, und die Bänke darunter in aller Regelmäßigkeit auch unterschiedlich viel vollgekackt waren.

Die alte Backsteinkirche mit den Schindeln auf dem Dach, dem weißen Kiesweg davor und dem kleinen Kreuz auf der Kirchturmspitze bildete den Mittelpunkt des Platzes. Die Kirchturmuhr war vor zwei Jahr plötzlich stehen geblieben, nachdem der Blitz dort einschlug. Für die Reparatur war im Moment kein Geld übrig. Die neue Kirchenglocke musste erst noch abbezahlt werden. Der Pastor, der Sparfuchs, ließ sich das Altmetall der alten Glocke zwar gegenrechnen, aber es blieb noch ein Rest übrig, den die Gemeinde durch Spenden aufbringen musste. Er wollte die Tottenbütteler für eine neue Uhr nicht schon wieder schröpfen.

Es gab damals einen riesigen Menschenauflauf, als die neue Glocke mit dem Krahn vom Tieflader gewuchtet wurde. Nicht nur ganz Tottenbüttel war kollektiv erschienen, auch viele Gaffer aus Brunksdorf waren vor Ort. Das Regionalfernsehen ließ sich dieses Spektakel ebenso wenig entgehen und berichtete in ihren Landesprogrammen von dieser Aktion. Printmedien wie die ›Shz‹, aber auch das regionale ›Käseblatt‹ hatten endlich mal wieder einen interessanten Artikel zu schreiben. Es wurden sogar Interviews geführt. Dafür wurden herumlungernde Bürger willkürlich aus der Menge gegriffen. Am Abend, beim ›Public Viewing‹ in der Dorfkneipe, war der eine oder andere beleidigt, dass man seine Stellungnahme herausgeschnitten hatte.

Schmale Straßen gingen von der Kirche sternförmig auseinander. Eigentlich waren es nur zwei Straßen, die von der Kirche abgingen. Hier befanden sich kleine, nicht nennenswerte Geschäfte. Aber auch die Apotheke, der Friseur Salon von Frau Gustafsson, die hiesige Polizeiwache und ein Stückchen weiter, schräg gegenüber, die Kneipe. Vera Büntes Tante-Emma-Laden lag um die Ecke in einer Nebenstraße und doch strategisch günstig.

Nicht nur der Laden befand sich dort im Parterre eines vier-stöckigen Rotklinkerhaus, auch sie selbst wohnte gleich darüber auf der ersten Etage. Damit war sie natürlich für Tottenbüttels Bewohner permanent erreichbar. Denn dort, wo man früher schon mal bei seinem Nachbarn klingelte, um sich Zucker, Milch oder Salz auszuleihen, musste nun Vera Bünte herhalten. Am Wochenende war das häufiger der Fall. In der Vergangenheit kam es auch schon mal vor, dass sie nachts rausgeklingelt wurde. Doch den Fehler machte man nur ein einziges Mal.

In der Vergangenheit gab es hin und wieder Ärger, weil sich die alte Bewohnerin aus dem vierten Stock über Vera mehrfach beschwerte, dass am Wochenende die Gehwege zugeparkt waren, wenn es in der Kneipe wieder hoch her ging, und sich die Betrunkenen mitten in der Nacht laut grölend auf die Suche nach ihrem Fahrzeug machten. Die Anzeigen gegen die Kneipe häuften sich. »Parkt bitte in Zukunft nicht mehr um die Ecke vor Veras Laden, sonst machen die noch meine Kneipe dicht. Die Anweisung kommt von ganz oben«. Dabei zeigte der Wirt mit dem Finger mehrfach Richtung Decke. Die gemobbten Gäste schauten betreten. Natürlich hatte das ›von ganz oben‹ nichts mit Politik oder Gott zu tun, sondern mit dem Drachen aus dem Dachgeschoss. Irgendwann wurde sie, mit den Füßen zuerst, aus ihrer Wohnung getragen. Niemand wusste warum. Aber von da an war Ruhe. Man parkte wieder um die Ecke.

Die Dorfkneipe ›Bei Kuddel‹ sorgte für willkommene Abwechslung. Dort trafen sich die Bewohner regelmäßig um sich auszutauschen, Skat zu kloppen und das eine oder andere Bierchen zu trinken – auch schon mal um die Mittagszeit. Es existierte auch eine kleine Speisekarte. Neben Käse-, Salami- und Schmalzstullen, gab es so vielfältige Angebote wie: Currywurst mit Pommes, Frikadellen und Würstchen – wahlweise mit Kartoffelsalat. Und für den kleinen Hunger lockten Tomaten- und Gulaschsuppe. Es war sogar möglich, sich aus dem ganzen Sortiment ein Menü zusammenstellen zu lassen.

Ein weiterer Höhepunkt war das jährliche Schützenfest – das gesellschaftliche Ereignis – Weihnachten mal nicht mitgerechnet. Dann wurde das offizielle Saufen eröffnet. Nach diesem Wochenende der Entgleisungen und Fehltritte waren sämtliche Erinnerungen von der Festplatte gelöscht. Allerdings holten diese den einen oder anderen männlichen Dorfbewohner schnell wieder ein, wenn nämlich die frohen Botschaften ins Dorf getragen wurden, dass neun Monate später neue Dorfbewohner dazu kommen würden. Doch ohne diesen, meist ungewollten Zuwachs, wäre Tottenbüttel schon lange von der Landkarte verschwunden, futsch, ausgestorben.

Am nächsten Tag, es war ein Freitag der Dreizehnte, wurde die abendliche Stille jä durchbrochen! Dass es sich an diesem Tag um den dreizehnten handelte, spielte eine sehr untergeordnete Rolle und war reiner Zufall. Die Tür zur Dorfkneipe wurde mit lautem Krachen aufgerissen. Gleichzeitig wehte der draußen einsetzende Herbst-Sturm die ersten Blätter hinein. Um diese Zeit, es war wohl so gegen 17 Uhr und vielleicht 2 Minuten, war hier in der Kneipe schon viel los. Der Wirt war am Zapfen im Akkord. Am Stammtisch gleich neben der Tür, wirbelten die Skatkarten wild durcheinander. Hier traf sich allabendlich eine illustre Runde, die sich sofort laut fluchend auf die Karten warf, in der Hoffnung, ihren ›Stich‹ zu retten. Immerhin ging es um nicht unerhebliche Geldeinsätze. Vor allem der Bürgermeister, ein As (ein Aas) im Bluffen, trieb diese stetig in die Höhe. Alle Gäste starrten zur Tür. In einer Art ›Blaumann‹, der augenscheinlich noch nie gewaschen wurde, und mit matschigen Gummistiefeln, stand dort extrem aufgeregt ein kleiner, pausbäckiger Mann mit dickem Bauch – Bauer Werner Jensen. Er war schon wieder mit einer Mistgabel bewaffnet. Das Wetter draußen wurde hörbar schlechter. Zum Sturm gesellte sich jetzt auch noch Gewitter.

Jensen stand immer noch an der geöffneten Tür, als es hinter ihm grell aufblitzte und einen unheimlichen und skurrilen Schatten seiner Körper-Masse samt Mistgabel in den Raum warf. Der darauf folgende Donner tat das Übrige. Richtig gruselig war das und für einige Gäste Grund genug, spontan zu zahlen und das Lokal fluchtartig zu verlassen. Kuddel, der Wirt von ›Bei Kuddel‹ (einfach, aber schlüssig) schimpfte laut, als sich Jensen auf den Weg von der Tür hinüber zum Stammtisch machte – samt Arbeitskleidung, Matschstiefeln und Mistgabel. Bei jedem Schritt machten die Stiefel diese Schmatz Geräusche, als hätte er eine ›Handbreit Wasser unterm Kiel‹. Seine rote Gesichtsfarbe zeugte von Bluthochdruck oder zu viel Fleisch-Konsum – oder beides. Rot waren auch seine Haare.

»Gesine is wech! Entführt!« keuchte er und baute sich vor Hansen auf. Jensens Kopf hatte Platzreife und Schweiß lief ihm übers Gesicht, den er mit dem Handrücken hastig entfernte. Alle starrten ihn ungläubig an. »Wie, weg. Und wieso kommst du damit zu uns? Du glaubst doch nicht etwa, dass einer von uns ne Kuh klaut! Wozu!?« Bürgermeister Hinnerk Hansen lachte, während er seine Karten in der Hand erneut auffächerte. Hansen war groß und kräftig, der sein Rest-Haar kreativ von einer Kopfseite über die andere kämmte, um mehr Volumen vorzutäuschen. »Wo kommst du eigentlich her?« Diese Frage war natürlich überflüssig. Es war offensichtlich, dass Jensen direkt von der Weide kam. Ungeduldig und schwer atmend wiederholte er: »Gesine is wech, heute Mittag stand sie noch auf der Weide…jetzt isse futsch!« Der junge Lehrer Nils Klausen mischte sich ein, ein Zugereister aus der Stadt mit sehr aufgeschlossenen Lehrmethoden, die nicht bei allen beliebt waren. Zum Beispiel gab´ s keine Schläge an den Hinterkopf, sondern Klassen-Diskussionsrunde in lockerer Atmosphäre mit anschließender Umarmung. Die meist älteren Tottenbütteler waren der Meinung, dass ein paar Schläge an den Hinterkopf noch niemandem geschadet hätten. Klausen hatte schon zwei Runden verloren und entschied sich deshalb aus dem Spiel auszusteigen. Er widmete nun dem Bauern seine ganze Aufmerksamkeit. »Wie kann sie futsch sein? Ist sie abgehauen oder was? Vielleicht hast du dich ja verzählt.«

Im Hintergrund sang der Apotheker leise: »2x3 macht 4, widdewiddewitt und 3 macht neune…« Jensen überging dieses dämliche Lehrergefasel und überhörte Gott sei dank auch Paulsens Gesänge. Stattdessen drohte er weiterhin wütend mit der Mistgabel.

»Ihr sagt mir jetzt sofort, wo sie is, oder…!«

»Ganz ruhig, Brauner«, versuchte der Tierarzt Hagen Petersen den Bauern zu beruhigen und schlug vor, mal gemeinsam nachzuschauen. Jensen war einverstanden. Petersen warf seine Karten auf den Tisch, stand auf und griff sich seine Jacke. Während er das Lokal mit dem Tierarzt verließ, lösten sich dicke Brocken angetrocknetem Matsch vom Profil der Gummistiefel und hinterließen eine eindeutige Dreckspur, die für jede Spurensicherung wie ein Sechser im Lotto gewesen wäre: Schlammabgleich – Zuordnung der Erde – anhand von zwei Grashalmen auch Zuordnung der Rasensaat – Überführung der Gummistiefel, wo wurden die zur Tat getragen. Rein theoretisch natürlich. Während die beiden hinauslatschten, vollendete der Apotheker leise: »Er macht sich die Welt, widdewidde wie sie ihm gefällt.«

Jensen kletterte auf seinen Trecker und fuhr los. Der Tierarzt folgte in seinem eigenen Wagen. Da er wieder Bereitschaft hatte, war er nüchtern geblieben. Petersen war ein Vermittler, ein Friedensstifter, die männliche ›Mutter Theresa‹. Im Schneckentempo schlich er hinter dem Trecker her. »So, welche ist jetzt Gesine?« fragte Petersen, als sie dort im Regen … im Matsch … der eine mit Schirm, der andere im Blaumann am Weidezaun standen und die Kuh-Herde betrachteten. Jensen war inzwischen extrem gereizt: »Na, keine. Die is ja wech!«

»Woher weißt du, dass ausgerechnet deine Gesine fehlt? Die sehen doch alle gleich aus.«

Empörung und Schwärmerei wechselten sich jetzt ab.

»Was? Wo sehen die denn alle gleich aus!? Gesine hat so hübsche braune Flecken genau an den richtigen Stellen, große braune Augen und so lange Wimpern! Sie ist eben was ganz Besonderes!« Jensen war Herr über eine ganze Kuh Herde, doch mit Gesine verband ihn eine gewisse Empathie, das merkte man sofort. So manches Mal hielt er mit ihr einen Klönschnack am Zaun. Dann erkundigte er sich nach ihrem Befinden, wie das Gras so geschmeckt hatte oder ob sie gemolken werden möchte … Kuh-Sachen eben. Bauer Jensen gestikulierte angriffslustig mit seiner Mistgabel, die er wie ein Zepter immer noch fest in der Hand hielt und zog einmal kräftig die Nase hoch.

Petersen schaute ihn überrascht von der Seite an: »Weinst du?«

»Quatsch!«

Der Tierarzt versuchte, ihn zu beruhigen: »Die taucht bestimmt wieder auf, warte bis Morgen.«

Jensen wäre zwar viel lieber die Nacht vor Ort geblieben, konnte dennoch überredet werden, nach Hause zu fahren. Allein schon wegen des Wetters.

Statistisch gesehen regnete es im Norden Deutschlands weniger als im Süden, doch das schien sich bis in den Norden noch nicht herumgesprochen zu haben. Das deutschlandweite subjektive Gefühl, es wäre genau anders herum, war verständlich.

Der Unterschied war: im Süden des Landes schüttete es einmal kräftig und dann war wieder alles gut. Der Norden hingegen hatte mit diesem quälenden tagelangen Nieselregen zu kämpfen. Da stand die Marsch schnell unter Wasser. Lebte man in einem Ort wie Tottenbüttel und es nieselte hier tagelang, konnte nicht nur der Mensch depressiv werden, das hielt eine Kuh auch nur begrenzt aus.

Am nächsten Morgen, nach der Entführung von Jensens Kuh, wurde die Tür der kleinen Polizeiwache in Tottenbüttel so kräftig aufgestoßen, dass sie an die hintere Wand knallte und einige Brocken Putz auf den Boden rieselten. Jensens Grobmotorik stellte ihn immer wieder vor Herausforderungen. Polizeimeister Dirk Schwartz posierte gerade vor dem Bild von Chuck Norris, indem er Bewegungen seines Idols nachahmte, als Werner Jensen hereinstürmte. Reflexartig schnellte eine Hand hektisch zu seiner Waffe, die er sofort entsicherte und umständlich aus dem Halfter zog. Gott sei dank erkannte er seinen alten Kumpel Werner noch rechtzeitig, bevor er ein Blutbad anrichten konnte. Wie schnell fällt im Eifer des Gefechts die Waffe auf den Boden, ein Schuss löst sich unkontrolliert und … Puh.

Schwartz führte die Wache alleine, da sich die Kriminalität hier im Ort in Grenzen hielt. Die kleinen Delikte, die sich meistens auf das Wochenende konzentrierten, vor allem, wenn in der Kneipe Fußball übertragen wurde und die Raufereien begannen oder sich die Dorffrauen zusammenrotteten, konnte er noch alleine bewältigen. Dann kam es schon mal vor, dass die beiden Zellen im Keller für eine Nacht doppelt belegt werden mussten.

»Bist du bescheuert!?«, schnauzte Polizeimeister Schwartz, sicherte die Waffe und steckte sie zurück in den Halfter, »ich hätte dich fast erschossen!«

Bauer Jensen, diesmal ohne Mistgabel, stand am Eingang. Hektische Flecken breiteten sich großflächig über den Hals und das gesamte Gesicht aus.

Nach einigen Sekunden der Schockstarre stotterte er: »M … m ... meine Kuh is ... ist ... lila!«

Nun versuchte der Bauer alles in einigermaßen verständliche Sätze zu packen, während er Schwartz berichtete. Der wusste ja auch noch nichts vom gestrigen Kuh-Napping. »Wieso!? Wieso Gesine!? Erst is sie wech…und dann…«, stammelte Jensen.

Beide Männer kannten sich seit der Schulzeit, daher wusste Polizeimeister Schwartz, dass der Bauer zu Übertreibungen neigte. Dirks Mund formte sich zu einem Grinsen, als er von einer lila Kuh erfuhr. Das blieb natürlich nicht unbemerkt von Jensen. »Das alles findest du wohl witzig, was? … Pelle!« provozierte er wütend den Polizisten. Polizeimeister Schwartz wurde sofort wieder ernst. Sein zweiter Vorname war ihm von klein auf an ein Dorn im Auge. Seine Mutter war als Kind bekennender Fan der Serie ›Ferien auf Saltkrokan‹. Diese alte schwarz-weiß Serie erzählte die Geschichte mehrerer schwedischer Familien, die auf einer fiktiven Insel Urlaub machten und über die Abenteuer, die deren Kinder dort erlebten.

Pelle war einer von ihnen. Die Namensauswahl der anderen Serienkinder wäre nicht besser gewesen: Nisse, Teddy, Freddy, Johann, Tjorven. Dann gab es da noch den Bernhardiner ›Bootsmann‹. Wir ahnen vielleicht alle, was in einer Mutter im postnatalen Zustand vor sich gehen kann!? Nicht auszudenken, hätte sie sich damals, im Gefühlstaumel nach den Geburtsstrapazen und unter Einfluss des ersten Glas Sekt, mit Bootsmann oder Teddy durchgesetzt. Ruckzuck ist so ein Name im Geburtsregister eingetragen und schwierig, bis gar nicht wieder zu löschen. Dann ist man bis zum Tod an diesen Namen gekettet, wird verhaltensauffällig und rutscht irgendwann in die Drogenszene ab. Da war doch Pelle das kleinere Übel. Dennoch – Pelle war peinlich. Schon im Kindergarten hänselten ihn die anderen: ›haha, die Wurst hat ne Pelle‹ oder ›Pelle Pelle, ich hau dir in dein´ Kopp ne Delle‹ und so weiter. In der Schule war er der erste, der im Winter einen Schneeball an den Kopf bekam oder eingeseift wurde. Beim Sportunterricht war er dagegen immer der letzte, der in die Mannschaften gewählt wurde. Im Sommer wurde er beim Schwimmen unter Wasser gedrückt oder vom Beckenrand ins Wasser gestoßen und dabei wurde keine Rücksicht genommen, ob er noch Kleidung trug oder nicht. Fast schon regelmäßig ließen seine Klassenkameraden die Luft aus den Reifen seines Fahrrades, wodurch er häufig zu spät von der Schule nach Hause kam und es dadurch Ärger mit seiner Mutter gab. Die wartete nämlich mit dem Essen auf ihn (Köttbullar, Fisch, Knäckebrot…)

Ja, er musste viel einstecken. Kinder können ja so grausam sein.

Nun lag das natürlich nicht nur am Namen allein. Der kleine Dirk war ein Junge, der seine Mitschüler auch gerne mal verpetzte. Lange waren diese Leiden aus der Kindheit vergessen – bis jetzt. Er hatte sich ganz bewusst für die Polizeilaufbahn entschieden, um Gerechtigkeit zu üben und um sich an dem einen oder anderen, der nach der Schulzeit auch hier im Ort geblieben war, zu rächen. Mal war es ein Strafzettel für falsch parken hier, eine Fahrzeugkontrolle dort oder spontaner Luftverlust bei den neuen Autoreifen des SUV – ganz nach Belieben und Tagesform. Er kannte seine Pappenheimer gut. Erste-Hilfe Kasten war meistens abgelaufen, Warndreieck irgendwo vergessen oder die Reifen waren abgefahren. Dazu kamen noch: während der Fahrt mit dem Handy telefoniert und überhöhte Geschwindigkeit. Letztes Jahr war Frau Schneider negativ aufgefallen, als sie mit ihrem Handy am Ohr und in ihrem Auto mit 70 KM/H durch die geschlossene Ortschaft bretterte. PM Schwartz konnte sie damals nur durch einen beherzten Sprung auf die Straße stoppen, bevor sie die 30-Zone vor der Schule erreichte.

Seitdem gab es an der Schule eine feststehende Radarfalle.

Letztes Jahr feierte Dirk seinen vierzigsten Geburtstag und hatte fast das ganze Dorf eingeladen. Für die Sause im angeschlossenen Tanzsaal der hiesigen Kneipe musste er sogar ein kleines Darlehen aufnehmen. Aber das war ihm egal, er wurde schließlich nur einmal vierzig. Ansonsten gab es über den Polizeimeister nicht so viel zu sagen. Er war ein durchschnittlich großer Mann mit durchschnittlich vollem Haar, durchschnittlicher Figur mit kleinem Bauch und durchschnittlichem Gehalt. Alles an ihm war durchschnittlich. Bis auf seine Liebe zu Chuck Norris Filmen, die war alles andere als durchschnittlich. Er wollte so sein wie sein Idol, mutig, immer kampfbereit, ein Held. So manches Mal träumte er auch von einem Cowboyhut.

Schwartz fuhr gemeinsam mit Jensen im Streifenwagen zum Tatort. Der Bauer bestand darauf mit Blaulicht und Martinshorn zu fahren, um die Ernsthaftigkeit dieser abscheulichen Tat zu unterstreichen. Dirk Schwartz spürte, dass er etwas großem auf der Spur war. Er steckte das Weidestück um die Kuh herum mit dem rot-weiß-gestreiften Absperrband ab und befestigte es an Strauch und Zaun – sicher war sicher.

Natürlich sprach sich eine lila Kuh im Ort schnell herum. Das halbe Dorf hatte sich schon um Gesine versammelt. Einige machten auch gleich Fotos mit ihrem Handy und es war nur eine Frage von Sekunden, bis die Bilder im Netz kursierten. Viele waren entsetzt, einige belustigt. Polizeimeister Schwartz stellte allerdings fest, dass es sich bei der Farbe nicht um lila, sondern um ein fliederfarben handeln würde … allenfalls ein ›Magenta‹. Werner strafte Dirk mit einem vernichtenden Blick.

Die Ermittlungen wurden aufgenommen. Polizeimeister Schwartz wollte nun allen beweisen, dass er es drauf hatte. Vorbei mit kleineren Delikten wie, Ruhestörung oder Streitereien zwischen Betrunkenen oder Eheleuten schlichten. Hier ging es schließlich um kriminelle Machenschaften von Vieh-Diebstahl und Tierquälerei. Wer wäre in der Lage dazu? Wer hatte so viel kriminelle Energie? PM Schwartz musste gar nicht lange ermitteln.

Relativ schnell stellte sich heraus, dass die beiden Terroristen-Zwillinge von Familie Schneider in der Lage dazu waren und über die nötige kriminelle Energie verfügten. Tim und Tom, die 9-jährigen kleinen Racker wurden bei einer Gegenüberstellung im Tante-Emma Laden von Vera Bünte wieder erkannt und überführt. Sie war nur nicht in der Lage, die Zwillinge optisch auseinander zu halten. Sie glichen sich tatsächlich wie ein Ei dem anderen. Schon im Kindergarten verwirrten die beiden vorsätzlich die Erzieherinnen.

Deshalb wurden auch immer beide gemeinschaftlich bestraft. Das war natürlich juristisch nicht ganz korrekt, aber was soll man machen.

Bei Frau Bünte hatten sich die Jungs vor ein paar Tagen von ihrem Taschengeld rote und blaue Farbe in einem 10-Liter Eimer, zwei große Pinsel und eine Malerrolle gekauft. Einen Tag zuvor stahlen sie die Kuh von Jensens Weide und parkten sie vorübergehend im Garten der Eltern. Dann wurde angemischt und angemalt. Nach der kreativen Tat wurde Gesine ganz früh am Morgen zurück gebracht. Zusätzlich konnten Farbreste auf der Kleidung der beiden sichergestellt werden. Angesichts dieser erdrückenden Beweislast waren sie geständig. Sie wurden zur Reinigung des Felles, zu wochenlangem Stall-Ausmisten und täglichem Melken verurteilt – aber mit der Möglichkeit auf Begnadigung.

Von Papa Schneider gab es am Abend noch ein abschließendes Arschvoll.

Später beschuldigte Tim, seiner Mutter gegenüber, Vera Bünte der Mittäterschaft.

Sie hätte ihnen schließlich die Farbe verkauft. Mama Schneider versicherte, dass das vor Gericht für eine Verurteilung nicht ausreichen würde. Man könnte sie ja auch nicht zur Rechenschaft ziehen, wenn irgendwo ein Haus abbrennt, nur weil sie Streichhölzer verkauft. Nachdem sie die leuchtenden Augen ihrer Sprösslinge bemerkte, ergänzte sie noch schnell: »Das war nur ein Beispiel! Habt ihr verstanden?« Die beiden nickten und verschwanden in ihren Zimmern. Vermutlich recherchierten sie erst einmal im Internet nach irgendwelchen Gesetzeslücken, nach Auslegungen und Beispielen für Strafminderung wegen Unzurechnungsfähigkeit und/oder Strafunmündigkeit. Sie wollten wohl für alle Fälle vorbereitet sein.

Tim und Tom waren verhaltensauffällig. Egal, ob Telefonverbindungen gestört waren, das Internet nicht zustande kam, falscher Alarm bei der Feuerwehr ausgelöst wurde oder die Ernte einen schlechten Ertrag hatte, immer fuhr man als erstes zu Familie Schneider und ihren Zwillingen, um ihre Alibis zu überprüfen.

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