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ERSTES ZWISCHENSPIEL Warum Vergil das Landleben über den grünen Klee lobte und Johann Heinrich Voß ihm glaubte. Wie die Antike den Boden unter den Füßen verlor.

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MANCHMAL TREFFE ICH KRISCHAN, EINEN ALTEN FREUND. Wir stammen nicht aus demselben Ort, aber aus demselben Schulbus. Der Bus sammelte allmorgendlich die Kinder aus den kleinen, weit abgelegenen Dörfern und brachte sie zur Mittelpunktschule, einige von uns noch zehn Kilometer weiter zum Gymnasium. Das bedeutete jeden Morgen eine Stunde Fahrt über die Dörfer, durch flaches Moor, über sandige Geestrücken, ein Gekurve auf engen, gepflasterten Landstraßen, vorbei an den Höfen, auf denen morgens gerade noch gemolken wurde, dann auf Asphalt an Einfamilienhäusern entlang, an Möbel- und Schuhgeschäften, einem Kieswerk, vorbei an großen Geschäften mit Höfen voller Landmaschinen und Baumaterial. Wenn der Bus uns am Mittag zurückbrachte und in jedem Dorf ein paar Kinder aussteigen ließ, war es leer auf den Straßen, die Geschäfte geschlossen zur Mittagsruhe. Auf den Bauernhöfen hob höchstens mal ein Hund den Kopf, wenn die Kinder vorbei- und nach Hause gingen.

Krischan und ich haben uns vorgenommen, uns regelmäßig zu treffen und über Bäuerlichkeit und Landwirtschaft zu sprechen. Die wachsende Kritik an der modernen Agrarwirtschaft hat uns immer mehr aufgebracht – zumal ja kaum einer kannte, worüber er sprach, und nichts wusste über landwirtschaftliches Leben und Arbeiten, über Ackerbau und Viehwirtschaft.

Anders als wir, wie wir meinten.

Aber was wussten wir wirklich über unseren damaligen, kindlichen Alltag hinaus? Wir kannten natürlich unsere eigenen Familienbilder und -erzählungen vom Bauernleben vor unserer Zeit. Daneben gab es jedoch all die Prägungen unserer Kultur, die durch Jahrhunderte agrarischer Lebensweise entstanden waren, und das Bild vom Bauern und vom Land, das wir nicht kannten, weil es von den Bürgern stammte – und weit vor ihnen von Adel und Klerus, aus Dichtung und Kunst.

Wir verabreden Lektüren, besuchen Museen, gehen in Galerien und ethnologische Sammlungen. Wir suchen nach Spuren des Agrarischen in unserer Kultur, forschen nach Elementen des Bruchs zwischen dem Städtischen und dem Ländlichen, zwischen Damals und Heute.

Wir fragen uns, um welches »Damals« es eigentlich geht.

Wann ist für Stadtbewohner Landwirtschaft noch akzeptabel gewesen?

Seit wann wurden ›Land‹ und ›Natur‹ derart romantisiert, dass die auf den Feldern und in den Ställen arbeitenden Menschen nicht mehr in den Blick kamen?

Wir wollen uns auch befassen mit dem Lob des Landlebens – und mit der gegenwärtigen Hassfigur des subventionsgestützten Landwirts, den Grundwasser-, Pflanzen-, Boden-, Menschen- und Tiervergifter. Und dabei bedenken, dass die heutige Landwirtschaft die billigsten und sichersten Lebensmittel produziert, die es je gegeben hat.

Wo fängt man an, wenn man über die Kultur schaffende Wirkung des Ackerbaus etwas erfahren will? Was sollten wir wissen über den ägyptischen und sumerischen Landbau?

»Vielleicht genügt es, festzustellen«, sagt Krischan, der schon in der Schule in Geschichte geglänzt hat, »dass die Erfindung der Schrift zurückgeht auf die Notwendigkeit, den bäuerlichen Mehrertrag aufzuzeichnen und die Steuern zu berechnen.« Es war eine von mehreren Schriften, die Keilschrift, die in Uruk bzw. Babylon, im Süden des heutigen Irak, entwickelt wurde. Die Getreideüberschüsse schufen die Grundlage für unsere Schriftkultur – und der Überschuss des Landes die Grundlage für die Entstehung der Städte.

Das Lob des Bauernlebens und die Verherrlichung der Natur kamen von den Herren aus der Stadt, die sich aufs Land begaben, um von der Arbeit auszuruhen, und die – anders als die Bauern – lesen und schreiben konnten. Die Arbeit auf dem Feld und mit den Tieren wurde nicht von den Bauern beschrieben – und erst recht nicht von ihnen gelobt.

Wir nehmen uns den römischen Schriftsteller Vergil1 vor, Autor der berühmten »Georgica«, »Vom Landbau«. Er schrieb das »Lied vom Landbau« ungefähr dreißig Jahre vor unserer Zeitrechnung, ein Hohelied auf die Mühe und den Segen bäuerlicher Arbeit und auf den in der Natur arbeitenden Menschen. »Landarbeit will ich besingen …, den Fleiß, der uns heitre Saaten beschert …, die Zucht von Großvieh, die Pflege von Kleinvieh; schließlich die Kenntnisse noch, die man braucht zur Betreuung der sparsam waltenden Bienen.« Die »Landmänner« werden beschrieben als »rüstige Menschen, zufrieden mit wenigem, zäh bei der Arbeit, Ehrfurcht vor den Göttern und Achtung vor Alten«. Schwere Arbeit als göttlicher Wille. »Vater Jupiter wollte den Feldbau schwierig gestalten, bewusst: Er ließ als Erster die Schollen aufbrechen, wollte durch Nöte und Sorgen den Menschengeist schärfen, duldete nicht, dass sein Reich in leidiger Trägheit erstarrte.«

Feldbau als Schärfung des Geistes, Maßnahme gegen Faulheit – sollte dies eine Kritik sein an denen, die andere für sich arbeiten ließen?

Aber haben die Herrschaften und auch der Dichter selbst nicht immer andere für sich arbeiten lassen, jedenfalls was die Feldarbeit anging? Die wurde nämlich von Sklaven gemacht – und sie kommen im Lob des Landbaus nicht vor.

Krischan stimmt mir zu. Vergil habe von der Landarbeit geschrieben, als ob sie von freien Bauern gemacht würde. Aber das sei natürlich nicht der Fall gewesen. Im Gegenteil, es hatte im Kernland der Römer zu Vergils Zeiten fast nur noch große Landgüter gegeben, auf denen Sklaven eingesetzt wurden, also ausländische Kriegsgefangene, Sträflinge und deren Kinder und Kindeskinder. Und diese Sklaven, bzw. die Tatsache, dass es Sklaven waren, die da pflügten und säten und ernteten, hat er mit keinem Wort erwähnt.

Man müsse verstehen, sagt Krischan, dass Vergils »Landbau« eigentlich mit Landwirtschaft nichts zu tun hat. Das Ganze sei ein Missverständnis von Anfang an gewesen. Im »Landbau« ging es vielmehr um eine Utopie. Der Dichter hatte an die Regierenden appellieren wollen, eine – wie wir wissen: geschönte – Vergangenheit zur Gegenwart werden zu lassen.

»Wollte er die Sklaverei abschaffen?«

»Nein, Vergil wohl nicht. Aber sein deutscher Übersetzer Johann Heinrich Voß wollte es.«

Voß verehrte die Antike und hasste den Feudalismus. In einer Fußnote zum »Landbau« schrieb er: »Jenen ländlichen Mann [also den Bauern] denkt sich wohl jeder von selbst als einen freien menschlich erzogenen Eigenthümer eines mäßigen Feldes, ohne Nebenbegriffe von Sklaverei, Schmutz und Vernunftlosigkeit, wozu der Leibeigene … in Jahrhunderten des Faustrechts erniedrigt ward.«

Dies entsprach selbstverständlich nicht der römischen Realität. Aber Voß hätte es gerne so gehabt. Seine Fußnote war ein politischer Angriff auf die Leibeigenschaft seiner Zeit. Denn sein eigener Vater war noch Leibeigener im Dienst eines mecklenburgischen Junkers gewesen. Voß kannte die dazugehörigen Demütigungen, auch wenn sein Vater Kammerherr und nicht Bauer gewesen ist. Er hasste die Leibeigenschaft aus tiefstem Herzen und schrieb bis zuletzt unbeugsam gegen sie an. Die von ihm so geliebte Antike wollte Voß nicht mit Sklaverei oder Leibeigenschaft in Verbindung gebracht wissen.

»Schon bei ihm ist es also ein Traum«, sage ich, »der Traum von der Einfachheit und Würde des Landes, von der guten Natur und der hohen Moral derer, die in und mit der Natur arbeiten.«

Aber Schmutz und Vernunftlosigkeit der auf dem Land arbeitenden Menschen entstehen für Voß nicht durch ihre Arbeit. Sie sind vielmehr Folge von Rechtlosigkeit, Durchsetzung des Stärkeren und seiner Gesetze. Gegen das Mittelalter, diese dunkle, vernunftlose Zeit, hielt er das helle Licht der Antike, den Geist der Aufklärung!

»Immerhin hatte Voß«, sage ich, »in Otterndorf eine neue Erfahrung gemacht.« Otterndorf war damals die Hauptstadt unserer Gegend und die der freien Hadelner Bauern. Ebenso wie die Dithmarscher* Bauern hatten sie sich durch den hohen Stellenwert der Landgewinnung, von Eindeichung und Küstenschutz eine ganz besondere Position erkämpft. Wie alle Ständeversammlungen bestand zwar auch die Hadelner Versammlung, die in Otterndorf tagte, aus den Vertretern dreier Stände. Aber hier waren es nicht Adel, Geistlichkeit und Bürgerschaft. Sondern hier waren der erste Stand die Vertreter der Marschbauern – die auf den fettesten Böden saßen; der zweite Stand fasste die Interessen der Sietlandbauern zusammen, also von denen, die im oft überschwemmten ›sieten‹ Land auf sandigen und moorigen Böden wirtschafteten. Erst die Vertreter des dritten Standes rekrutierten sich, wie es üblich war, aus dem Bürgertum, hier den Stadtbewohnern Otterndorfs. Die Hadelner Stände wählten ihre Pastoren, Richter und Lehrer selbst. Auch ihn, Johann Heinrich Voß aus Mecklenburg, hatten die Hadelner Stände zum Rektor ihrer Lateinschule gewählt, in der die Marschbauernsöhne – natürlich nur die Jungen – Latein und Griechisch lernten. Sie gingen sogar weiter nach Hamburg ins Johanneum, eine Art Universität, und kamen anschließend, so heißt es, trotzdem als Bauern auf ihre Gehöfte zurück. Schließlich waren sie Grundherren, die man in den benachbarten nord-niederländischen Marschen ›Herrenbauern‹ nannte, und auch sie hielten die Nase entsprechend hoch. Aber sie waren keine Adligen, und das hat Voß außerordentlich geschätzt. Wenn nicht das Marschenfieber, eine Art europäische Malaria, gewesen wäre – und natürlich die fehlenden Freunde, vor allem Matthias Claudius in Hamburg –, dann wäre Familie Voß wohl nicht nach drei Jahren wieder fortgezogen.

»Es ist vielleicht nicht unwichtig«, sagt Krischan, »dass die drei wichtigsten Sklavenkriege2 in Rom schon stattgefunden hatten, als Vergil seinen »Landbau« schrieb.« Im letzten und größten Aufstand unter Spartakus3 kämpften Tausende von Feldsklaven der großen Güter, und, wichtiger noch, ihnen schlossen sich viele verarmte, freie Bauern an. Dieser Aufstand, der den Herrschern wirklich gefährlich wurde, ist blutig niedergeschlagen worden. Das war zur Zeit von Vergils Geburt geschehen, also erst vierzig Jahre bevor er den »Landbau« schrieb.

»Es muss eine sehr bewusste Entscheidung gewesen sein, die Sklaven, also die eigentlichen Feldarbeiter, nicht zu erwähnen«, meint Krischan.

Wir halten fest: Nicht der Inhalt der »Georgica« allein ist entscheidend, sondern dass dieser Text immer wieder aufgelegt und sogar im Mittelalter in den Lateinschulen gelesen, oft für Übersetzungsübungen der Schüler herangezogen wurde und so das Bild von der guten Natur und den einfachen, edlen Menschen, die den Boden bearbeiten, festigte.

»Sollen wir jetzt dagegensetzen«, sage ich, »dass Landwirtschaft von vornherein Ausbeutung war – von der Natur und ja übrigens auch von Menschen?«

Jedenfalls gibt es einen Stoffwechsel zwischen Menschen und Natur, in dem sich die Menschen die Natur dienstbar machten. Das war von Anfang an. Die Menschen geben ihr und sie nehmen von ihr, sie säen und düngen und ernten. Sie ziehen ein Tier auf, dann schlachten sie es. Und weil solche Arbeit mit und in der Natur schwer und schmutzig ist, hat man sie immer gerne anderen über lassen – die man idealisieren oder verachten konnte, wie es gerade passte.

Ein weiteres Beispiel für das Lob des Landes finden wir bei einem Zeitgenossen Vergils, dem Dichter und Gutsbesitzer Horaz4. Von ihm stammt nicht nur die Satire von der Stadt- und Landmaus, in der sich die Landmaus durch das Versprechen auf tolle Leckereien in die Stadt locken lässt, dann aber wegen der ständigen Angst vor Entdeckung zurückkehrt und sich zu Hause lieber wieder mit »einfachem Wildkorn« zufriedengibt. Wichtiger noch ist der Brief von Horaz an seinen Gutsverwalter, dem er vorwirft, die Stadt mit ihren Reizen dem Lande vorzuziehen, während er selbst sein »Gütchen« liebt, weil es, so schreibt er, »mich mir selbst wieder schenkt«. Und an anderer Stelle bekennt er, nur auf dem Lande und nicht in Rom könne er Gedichte schreiben.

Hundert Jahre vor Vergil und Horaz hat Marcus Porcius Cato5 der Ältere, Feldherr und Staatsmann, noch ganz nüchtern über die Landwirtschaft als gewinnorientiertes Unternehmen geschrieben. Sein Werk »De agri cultura«, also »Vom Ackerbau«, ist das älteste, vollständig erhaltene Prosawerk in lateinischer Sprache. Darin berät er Gutsbesitzer und gibt ihnen Tipps, wie sie mit ihrem Besitz umgehen sollten, mit Land und Sklaven, und wann es sich lohnt, Oliven oder Wein anzubauen. Er schreibt, dass man zur Bewirtschaftung von 60 Hektar Olivenbäumen dreizehn Sklaven braucht, einen Verwalter und dessen Frau, fünf gewöhnliche Knechte, wie er schreibt, drei Ochsentreiber, einen Eseltreiber, einen Schweine- und einen Schafhirten, insgesamt sind es sechsundzwanzig Beschäftigte.

Sein Buch erschien ein paar Jahrzehnte vor dem ersten großen Sklavenaufstand.

»Cato«, sage ich und erinnere mich an unseren Lateinunterricht, »hat doch seine Reden im Senat immer mit dem Ruf beschlossen: ›Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago6 zerstört werden muss.‹«

Und es ist in unserem Zusammenhang höchst interessant, warum diese Stadt des Feindes zerstört werden sollte. Sie war der Hauptort an einer Spitze der nordafrikanischen Landmasse, die ins Mittelmeer ragt, gewissermaßen auf die Westspitze Siziliens zeigend; ihre Ruinen liegen heute zehn Kilometer östlich von Tunis, der Hauptstadt Tunesiens. Die Kriegführung der Römer in den Punischen Kriegen wollen wir hier nicht nachvollziehen, aber festhalten, dass Karthago mit seiner reichen Landwirtschaft und insbesondere dem Getreideanbau ein mächtiger Handelskonkurrent für Rom war. Die Menge der Lebensmittel, vor allem des Getreides, bestimmte, wie groß ein Staat sein konnte, wie viele Menschen, Steuerzahler und Soldaten ernährt werden konnten.

Die Bodengeschichte der Nordspitze Tunesiens zeigt, dass dort eine florierende Ackerwirtschaft auf fruchtbarem Boden betrieben wurde. Man baute vor allem Weizen an, das wertvollste Brotgetreide. Nach der Eroberung durch Rom wurden die nordafrikanischen Kolonien zusammen mit Sizilien zur Kornkammer des Römischen Reiches. Aber durch die extreme Übernutzung des permanenten Weizenanbaus wurden die Böden ausgelaugt. Heutige Bodenuntersuchungen zeigen, dass das Land durch Winderosionen von seiner Ackerkrume damals fast vollständig entblößt worden ist. Ähnliches war zuvor in Griechenland geschehen, schon 590 v. Chr. war das fruchtbare Erdreich der Hügel um Athen abgetragen. Für den Charakter der Mittelmeerlandschaft – dieses felsig-unbewaldete Land, das nur von einer flachen, schnell austrocknenden Erdschicht bedeckt ist – war neben der Rodung der Wälder für den Schiffsbau eine bodenübernutzende Landwirtschaft in der Antike verantwortlich.

Die wunderbar riechenden Kräuter auf kahlen Hängen und an kühlen Bachläufen zeigen, wie jede Artenvielfalt, einen Nährstoffmangel an. Und dieser Mangel ist kein natürlicher, er ist ein historischer, menschengemachter Zustand.

Dabei war es nicht so, dass die Griechen und Römer zu wenig vom Landbau wussten. Sie haben die Folgen von Aussaat und Düngung, von Brache und Fruchtwechsel sehr gut beobachtet und beschrieben. Aber es wurden keine Maßnahmen gegen die Bodenerosion ergriffen. Und bereits im Jahre 200 n. Chr., als die Erosion der Böden schon über dreihundert Jahre in vollem Gange war, schrieb der in Karthago lebende Römer Tertullian7: »Alles ist nun zugänglich, alles für den Handel erschlossen; wunderbare Bauerngüter traten an die Stelle schrecklicher Einöden, urbar gemachte Äcker lösten die Wälder ab … [Aber] wir sind zu viele auf dieser Erde, die Elemente sind uns kaum Nahrung genug, unsere Bedürfnisse werden größer und unser Begehren auch, nun, da die Natur uns bereits nicht mehr aushalten kann.«

Bauern, Land

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