Читать книгу Eisblaue Sehnsucht - Ute Dombrowski - Страница 5
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ОглавлениеEs war elf Uhr, als sich Mariella verabschiedete. Kira war ungeduldig hin und her gerutscht, nachdem sie sich zurück auf die Couch gesetzt hatten. Als Mariella aus der Tür raus war, trat Kira vor die Staffelei. Ihr Herz schlug schnell, ein leichter Schwindel brachte sie ins Wanken und sie musste sich festhalten, um nicht umzufallen.
„Was hast du mit mir gemacht? Wer bist du?“
Sie hatte es laut gesagt und war vor ihrer eigenen Stimme erschrocken. Ihr Herz sagte ihr, dass sie ihn suchen musste. Heute Nacht noch wollte sie in den Park gehen, um ihn wiederzusehen. Sie würde erst Ruhe finden, wenn sie wusste, wer er war und was passiert war.
Eilig zog sie sich die dicke Jacke an, legte den Schal um ihren Hals und setzte sich die Mütze auf den Kopf. Im Spiegel sah sie aus wie ein Bär, der durch den Wald streunte. Sie steckte den Schlüssel ein und verließ das Haus. Am Tor zum Park zögerte sie.
„Verdammt, warum habe ich keine Taschenlampe mitgenommen?“
Sie zitterte trotz der warmen Jacke, doch es war nicht die Dezemberkälte, die sie erschaudern ließ, sondern eine Mischung aus Angst und Aufregung. Was, wenn er plötzlich vor ihr stehen würde? Oder wenn der Angreifer wiederkommen würde? Aber noch mehr hatte sie die Sehnsucht mit ganzer Macht gepackt und trieb sie voran.
Es war stockdunkel. Kira wusste, dass noch vor Mitternacht die Beleuchtung ausgeschaltet wurde, aber auch wenn die Lampen eingeschaltet waren, gaben sie nur ein diffuses Licht ab, das nicht über einen kleinen Kreis um die Lichtquelle hinauskam. In warmen Sommernächten war das unwichtig, aber jetzt im Dezember, wo die Kälte an den Beinen hochkroch und Nebelfetzen über die Wege waberten, erschien alles düster und gefährlich. Die alten Bäume sahen wie Riesen aus, die auf der Lauer lagen, dumpfe Nachtgeräusche klangen unheimlich. Sie wusste, dass niemand freiwillig um Mitternacht in den Park ging, also hoffte sie, dass sie auch niemanden treffen würde, außer vielleicht die Gestalt, nach der sie sich so sehnte, dass ihr die Gefahren gleichgültig waren.
Inzwischen hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt und sie lief den Weg in Richtung Uni, den sie im Schlaf gehen konnte. Sie war froh gewesen, als sie die Wohnung gekauft hatte, denn in der Nähe der Uni war so etwas eine Rarität, und dieser Park gehörte seitdem zu ihrem Leben dazu. Darum hielt sich ihre Angst wohl auch in Grenzen. Sie kam an eine Weggabelung. Links ging es zum Weiher, dessen dunkles Wasser die Fantasie in Gang setzte. In ihren Träumen sah Kira dort Nixen unter der glasklaren Oberfläche. Nur bei Sturm kräuselte sich das Wasser deutlicher, denn die dichten Hecken, die den Weiher umgaben, schirmten ihn gegen Wind und Wetter ab. Zurzeit waren die Äste kahl und reckten sich wie spitze Hexenfinger in den Himmel. Stellenweise gab es schmale Uferbereiche, an denen man bis ans Wasser herangehen konnte und im Sommer saßen dort oft Pärchen, die sich küssten.
Kira hatte sich auch mal gewünscht, jemanden zu haben, der sie unter dem Sternenhimmel am Ufer des Weihers küsste, aber so war es nur in ihren Gedanken gewesen. Bei Tageslicht war sie froh, ihr Leben mit niemandem teilen zu müssen. Ihre letzte Beziehung war in ihrem Heimatdorf zurückgeblieben, er hatte sich enttäuscht von ihr abgewendet, als er erfuhr, dass sie nicht die Ehe, einen braven Beruf und eine fröhliche Kinderschar zu ihrem Lebensziel auserkoren hatte. Hier in der Stadt, in ihrem neuen Leben, ihrer gefühlt endlosen Freiheit hatte sie nicht nach einer neuen Beziehung gesucht.
Seit gestern Nacht war alles anders. Sie wollte ihn, den Unbekannten, den Mann mit den eisblauen Augen. Wenn sie an ihn dachte, sah sie sich und ihn in einer innigen Umarmung. Plötzlich knackte es im Gebüsch hinter ihr und ein Rauschen zog an ihr vorbei. Sie war zusammengezuckt und erkannte eine Eule, die sich auf dem nächsten Baum niederließ. Kira atmete auf und dachte an Mariella, die nur den Kopf schütteln würde, wenn sie wüsste, dass ihre Freundin nachts im Dunkeln durch den Park streunte.
Sie war Mariella begegnet, als sie am ersten Tag in der Stadt aus dem Zug gestiegen war und unschlüssig vor dem Bahnhof stand. Die junge Frau war in rasantem Tempo mit dem Fahrrad gegen ihr Gepäck gefahren und gestürzt.
„Oh mein Gott, das tut mir so leid!“, hatte Kira gerufen.
Mariella hatte abgewinkt und erklärt, dass sie nicht aufgepasst hatte. Sie hatten sich zusammen auf den großen Koffer gesetzt und waren ins Gespräch gekommen, während Mariella ihre schmerzenden Glieder rieb.
„Wer bist du, woher kommst du und was machst du hier?“, waren die Fragen über Kira hereingebrochen.
Sie hatte lachend geantwortet: „Ich bin Kira, komme vom Lande und werde hier Kunst studieren. Ich habe ein WG-Zimmer in der Bergstraße, kannst du mir sagen, wie ich dahin komme?“
Mariella war begeistert aufgesprungen und hatte den Koffer auf den Gepäckträger gestellt. Sie begleitete Kira zu dem Haus und erklärte, dass sie auf der anderen Straßenseite der WG bei ihrer Mutter lebte und Tierarzthelferin war. Sie trafen sich auch jeden Tag, als Kira in ihre Wohnung am Park umgezogen war. Mariella zeigte Kira die Stadt und so waren sie Freundinnen geworden, selbst wenn sie im Wesen unterschiedlicher nicht sein könnten.
„Mariella, ich weiß, dass du ausflippen würdest, aber ich MUSS ihn einfach wiedersehen.“
Kira hatte es in die Nacht geflüstert und die Bedenken weggewischt. Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen und näherte sich dem Weiher. Sie trat zwischen zwei Büschen ans Ufer, als sich die Wolkendecke kurz öffnete und sich die Sterne in der Wasseroberfläche spiegelten. Sie ging in die Hocke und blickte über die glatte Fläche. Plötzlich spürte sie einen kalten Hauch im Nacken und eine Gänsehaut breitete sich auf ihrer Haut aus. Es war wie eine Berührung und sie zitterte. Sie blickte ängstlich über die Schulter und sah einen Schatten hinter einem Baum verschwinden.
Nachdem sie aufgestanden war und mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit starrte, fiel die Angst von ihr ab und sie ging einige Schritte vom Weiher weg.
„Hallo! Hallo, ist da jemand?“, hörte sie ihre gedämpfte Stimme.
Niemand antwortete, also lief sie weiter. Der Weg führte nun direkt in Richtung Uni, sie wusste es, weil er breiter geworden war und die roten Holzbänke am Wegesrand standen. Sie musste ständig an den Mann mit den eisblauen Augen denken. War er in der Nähe? War es sein Schatten gewesen, der hinter den Büschen verschwunden war?
„Quatsch, woher sollte er denn wissen, dass ich ihn suche. Vielleicht war es der Böse? Aber nein, das ist auch nicht möglich, denn der Kerl wäre bestimmt nicht vor mir weggelaufen.“
In der Ferne sah sie die Umrisse des schmiedeeisernen Tores, das sich genau in diesem Augenblick öffnete. Kira blieb fast das Herz stehen und sie stoppte in sicherer Entfernung, um hinter einem Baumstamm zu verschwinden. Ihr Atem ging schnell, ihre Hände zitterten. Dann sah sie eine dunkle Gestalt auf sich zukommen.
Sie presste sich an den Baum, in der Hoffnung, nicht entdeckt zu werden, schloss die Augen und musste beinahe lachen. Als sie klein war, hatte ihr Vater oft mit ihr verstecken gespielt. Er hatte ihr erklärt, dass man sie nicht sehen konnte, wenn sie selbst nichts sah, und so hatte sie sich immer die Hände vor die Augen gehalten. Heute wusste sie, dass es nicht funktionierte, aber es erfüllte sie mit Wärme, darum öffnete sie mutig die Augen und sah, dass die dunkle Gestalt genau vor dem Baum stand.
„Was machst du hier?“, fragte eine strenge männliche Stimme.
Kira trat hinter dem Baum hervor.
„Ich … ich … ich konnte nicht schlafen und bin …“
„Spazieren gegangen?“
„Ja“, sagte sie kleinlaut.
Vor ihr stand ein Mann in ihrem Alter, er trug Sportkleidung und hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen. Seine Augen lagen im Schatten, aber Kira spürte, dass er sie musterte.
„Und ich dachte schon, nur ich sei bescheuert, um diese Zeit durch den Park zu rennen.“
Kira entspannte sich sichtbar.
„Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Mich erschrecken?“, fragte der Mann ungläubig. „Mädchen, haben dir deine Eltern nicht gesagt, dass nachts im Park große Gefahren lauern? Räuber, Vergewaltiger und sowas?“
„Haben sie, aber ich muss es wohl vergessen haben.“
Kira trat von einem Bein auf das andere.
„Dann komm“, sagte der Mann versöhnlicher, „ich bringe dich ein Stück, damit du nicht überfallen wirst. Ich bin übrigens Linus, und wie du dir vorstellen kannst, ein Nachtmensch.“
„Ich bin Kira und studiere hier an der Uni Kunst.“
„So ein Zufall. Ich studiere auch hier, aber Mathematik.“
„Ah, also genau das Gegenteil.“
Linus streifte die Kapuze herunter, wobei wilde blonde Locken zum Vorschein kamen, und sie liefen in Richtung Ausgang. Er erklärte ihr die Nähe ihrer beiden Studienfächer, aber Kira hörte nur halbherzig zu. Seine Beschreibung der Gefahren hatte sie beunruhigt und sie war froh, dass er kein Räuber oder Vergewaltiger war.
Am Tor blieben sie stehen.
„Danke, dass du mich begleitet hast, ich wohne dort drüben.“
„Gute Nacht, Kira, und wenn du mal wieder nachts spazieren gehen willst, sag Bescheid und ich erschrecke dich hinter einem Busch.“
Linus hatte seine Augen zusammengekniffen und lächelte böse. Dann drehte er sich um und verschwand im Laufschritt. Kira trödelte nach Hause. Sie war überhaupt nicht müde, im Gegenteil, seit der Begegnung im Dunklen war sie aufgedreht.
In der Wohnung war es warm und gemütlich. Sie zog sich den Schlafanzug an, setzte sich mit einem Buch ins Bett und kam langsam zur Ruhe. Irgendwann war sie eingeschlafen und wachte erst auf, als der Wecker um sieben Uhr losdröhnte.
Nach einer Tasse Kaffee machte sie sich auf den Weg zur Uni.