Читать книгу Handbuch Ambulante Einzelbetreuung - Ute Reichmann - Страница 10
Оглавление[52][53]Handlungsorientierungen
Case Work oder Case Management?
In der Sozialen Arbeit haben sich im Prozess ihrer Professionalisierung einige Arbeitsprinzipien etabliert. Der Begriff der Arbeitsprinzipien stammt aus einer Systematik, die von Maja Heiner u.a. entwickelt wurde und bezeichnet umfassende und relativ abstrakte Handlungsorientierungen, die unabhängig von Arbeitsfeldern, Rahmenbedingungen und Methoden umgesetzt werden können (Heiner, Meinold, Staub-Bernasconi 1995: 291ff.). Manche dieser Arbeitsprinzipien sind für die Fallarbeit besonders relevant. Sie gehen zum Teil auf Einzelkonzepte bestimmter Autoren zurück. Beispielhaft ist Hans Thierschs Ansatz der Lebenswelt- oder Alltagsorientierung (vgl. Thiersch 2006, 20098, Thiersch, Grunwald 2008). Zu einem anderen Teil handelt es sich auch um Leitkonzepte, die sich in der Praxis etabliert haben, ohne als Methode umfassend ausformuliert und operationalisiert zu sein,24 die im Kinder- und Jugendhilfegesetz Eingang gefunden haben25 oder unter deren Überschrift sich verschiedene Positionen zusammen finden.26 Arbeitsprinzipien dienen im beruflichen Alltag als Richtlinien des Handelns (Petko 2004: 32ff.), stehen aber manchmal miteinander im Widerspruch (Winkler 2001: 253).
Bei der ambulanten Einzelbetreuung stellt die Beziehung zwischen Betreuungsperson und betreuter Person das tragende Element der Hilfe dar. Genau dies bietet immer wieder Anlass für Kritik. Kritisiert werden die mit den emotionalen Komponenten der Arbeitsbeziehung verbundenen Manipulationsmöglichkeiten und die Verflechtung staatlich reglementierter Wohlfahrt mit privater Beziehungs- und Alltagsgestaltung (u.a. Fröhlich-Gildhoff 2003: 58, Heiner 2007: 19). Die Gefahr der Überschreitung persönlicher und privater Grenzen ist bei der ambulanten Arbeit besonders groß und wurde bei der Entwicklung der sozialpädagogischen Familienhilfe in den 80er Jahren als Versuch zur „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (vgl. Habermas 1981, Rauschenbach, Gängler 1984) angeprangert.
Die mangelnde Abgrenzung zwischen wohlfahrtsstaatlicher Aufgabenerfüllung und Beziehungsorientierung ist ein grundsätzliches Problem zugehender Einzelfallarbeit. Der informelle, alltagsnahe und empathische Zugang erschwert es Fachkräften wie Adressatinnen und Adressaten, die Grenze zwischen professionellen Kontakten und privaten Beziehungen jederzeit deutlich zu erkennen und zu ziehen. Soziale Arbeit soll aber transparent und partizipativ ausgestaltet sein. Adressatinnen und Adressaten dürfen nicht emotional verstrickt werden. Sie sollen den Überblick über die Umsetzung und [54]Gestaltung „ihrer“ Hilfe behalten, sie überwachen, steuern und auch eingrenzen können. Beziehungsarbeit nutzt dagegen sehr wohl emotionale Elemente als Zugangs- und Bindungsmittel – dies vor allem bei Adressaten, die schwer erreichbar und besonders benachteiligt sind und von Unterstützungsmaßnahmen besonders profitieren könnten. Mit der Methode des Case Management sollte auf diese Widersprüche zwischen Entscheidungsfreiheit und emotionaler Bindung eine Antwort gefunden werden.
Der mit Mary Richmond als erstes in Verbindung gebrachte Ansatz der Einzelfallarbeit – Case Work – (Richmond 1922) vertritt ein ganzheitliches und relationales Konzept, bei dem Beziehungsarbeit und Sach- bzw. Zielorientierung, Diagnose und Intervention, Umwelt- und Personenbezug untrennbar ineinander greifen. Die Betreuungsarbeit ist nach ihrem Ansatz klassisch-sozialpädagogisch an der Förderung der individuellen Persönlichkeitsentwicklung ausgerichtet und folgt damit dem subjektorientierten Bildungsbegriff des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Betreuungsaktivitäten integrieren Beratungs-, Alltagsbegleitungs- und Kontrollaspekte.
In Deutschland wurde die Methode der Fallarbeit in den 70er und 80er Jahren teilweise auf der Basis einer unvollständigen und tendenziösen Rezeption des ursprünglichen Konzepts Richmonds kritisiert (Müller 20064: 171ff.). Ihr Beziehungsansatz wurde als die Persönlichkeitsgrenzen überschreitend verurteilt und galt als methodisch kaum operationalisierbar. Am individuellen Ansatz der Fallarbeit wurde bemängelt, die Verantwortung für die Lösung sozialer Probleme werde allein bei den Individuen gesehen (Staub-Bernasconi, Meinhold 19984: 362). Strukturelle und gesellschaftliche Problemursachen würden demgegenüber unterschätzt. Auch der potenziell stigmatisierende Effekt einer Identifizierung von Fall und Person in der Fallarbeit wurde kritisiert (Müller 20 064: 34). Allerdings hatte gegen diese Einstellung schon Mary Richmond explizit Stellung bezogen und darauf bestanden, dass Adressatinnen und Adressaten nicht auf ihre Probleme reduziert werden dürften (Richmond 1922: 29).
Infolge dieser Kritik der Fallarbeit als Reaktion auf neue gesellschaftliche Entwicklungen und aufgrund neuer professioneller Optionen differenzierte sich die Methodentrias aus Einzelfallarbeit, Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit zunehmend und wurde durch spezialisierte Konzepte wie den Case Management-Ansatz ergänzt. Case Management reagiert auf die ausdifferenzierte Infrastruktur eines entwickelten Sozialstaats und versucht in den Arbeitsbündnisstrukturen der Sozialen Arbeit Selbstbestimmung, Mündigkeit und Steuerungsfähigkeit der Adressatinnen und Adressaten bezüglich der Prozessdynamiken zu erhalten bzw. erst herzustellen. Der Schwerpunkt verschiebt sich daher gegenüber der Case Work auf beratende, koordinierende und netzwerkerschließende Tätigkeiten. Die Betreuungszeiten werden beim Case Management kürzer und projekthafter und das Verhältnis zwischen Betreuungsperson und betreuter Person kühlt auf ein vertraglich geregeltes, zielorientiertes Miteinander ab (Meinhold 20053: 365f.).
Tatsächlich entwickelte sich der Case Management-Ansatz genauso heterogen und vielseitig wie das weiterhin existierende Case Work-Konzept, das durch die neuen Methoden keinesfalls abgelöst wurde. So lassen sich Ansätze dahingehend unterscheiden, ob sie eher an der Infrastruktur (vgl. sozialökologischer Ansatz von Wendt 20084) oder ob sie eher an der individuellen Beziehung zwischen Fachkräften und Adressatinnen und Adressaten (vgl. Neuffer 20094) ansetzen. Bei der Umsetzung von Case Management-Arbeit spielt das jeweilige Tätigkeitsfeld eine große Rolle. Praktiziert in Form sozialer Basisdienste wie Allgemeiner Sozialdienst im Jugendamt oder Sozialpsychiatrischer Dienst wird der Case Management-Ansatz durch eine über längere Zeiträume gestreckte Fallführung umgesetzt. Die eigentliche Durchführung von Hilfen wird an andere Dienste delegiert. In diesen Arbeitsbereichen erfolgt eine Distanzierung[55] zu den Adressatinnen und Adressaten als zwangsläufige Auswirkung der erhöhten Fallzahlen und des Handlungsdruckes. Der Case Management-Ansatz bietet hier eine methodisch saubere Möglichkeit, mit den Realitäten der Arbeit umzugehen und gleichzeitig Ganzheitlichkeit und biografisch relevante Kontinuität für die Adressatinnen und Adressaten auf der Fallführungsebene über Hilfe- und Angebotsübergänge hinweg aufrecht zu erhalten.
Auf der Ebene der Einzelangebote und -hilfen wird derselbe Ansatz meist in Form kurzfristiger, zielbezogener Projekte realisiert, wobei zu Beginn ein Kontrakt über anvisierte Ziele und die zu erbringende Dienstleistung und am Ende die Evaluation der Maßnahme steht. Einige Autoren27 unterscheiden das eigentliche Case Management vom Fallmanagement, das aus einer festgelegten Abfolge von Phasen besteht und bei den Leistungen nach SGB II fest als Arbeitsmethode etabliert ist:28
■ Intake (oder auch Clearing): Intake ist ein eher technischer, englischer Begriff, der einen Einlassprozess mit einem gewissen Sogeffekt bezeichnet (auch: Einsaugen). In dieser Einstiegsphase der Hilfe erfolgt eine Rollenklärung und Darstellung des zur Verfügung gestellten Hilfeangebots. Die Adressatin oder der Adressat stimmen auf der Basis eines „informed consent“ – einer informierten Entscheidung – der angebotenen sozialen Dienstleistung zu. Dies schließt die detaillierte Aufklärung über die Rechte und Pflichten der Beteiligten und die geltenden Datenschutzbestimmungen ein.
■ Assessment (inkl. Zielvereinbarung): Assessment meint die Abschätzung, Beurteilung und Bewertung der Ausgangssituation. Es handelt sich also um eine Maßnahmephase der Anamnese und Diagnose. Das Assessment erfolgt ressourcenorientiert und in Zusammenarbeit mit der Adressatin oder dem Adressaten und wird systematisch dokumentiert. Hierzu gehört die Herausarbeitung der Ziele, die durch die Hilfe angestrebt werden, damit verbundener Indikatoren, durch die eine spätere Zielerreichung messbar wird, und ein Zeitschema für die Umsetzung.
■ Service-Planning/Maßnahmeplanung: Auch der Maßnahmeplan soll gemeinsam so erstellt werden, dass die Ressourcen der Adressatin oder des Adressaten möglichst weitgehend genutzt und institutionelle Hilfeangebote erschlossen werden. Der Maßnahmeplan wird verschriftlicht – zum Beispiel in Form eines ratifizierten Gesprächsprotokolls – und erhält auf diese Weise Vertragsstatus.
■ Monitoring: Die eigentliche Maßnahme wird meist durch beauftragte Leistungserbringer durchgeführt. Der Verlauf wird durch den Case Manager überwacht und gesteuert. Je nach Fortschreiten erfolgt ein regelmäßiges Re-Assessment mit einem Nachjustieren der Hilfeplanziele und Zeitschemata.
■ Evaluation: Der Hilfeprozess wird durch die abschließend vorgenommene Evaluation – die Erfassung und Auswertung der Ergebnisse und eine Einschätzung des Zielerreichungsgrades – abgeschlossen.
[56]Case Management hat sich außerhalb der eigentlichen Tätigkeitsfelder der Sozialen Arbeit – im Gesundheitssystem oder bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt – leichter und schneller etablieren können als innerhalb. In diesen Humandienstleistungssystemen hilft die Methode, vereinzelte Angebote gezielt zusammen zu führen und aufeinander und auf die Bedarfe der Adressatinnen und Adressaten abzustimmen.
Case Manager werden häufig als Lotsen, Führer, Piloten oder Koordinatoren bezeichnet. Dies betont ihre Hauptaufgabe, die in der Vermittlung vorhandener Angebote liegt. Die ganzheitlichen, lebensweltorientierten und sozialpädagogischen Anteile der Case Work sind in diesem Ansatz nur noch bedingt enthalten. Auf der Ebene der Umsetzungsinstrumente werden die informellen Interaktionen der Case Work teilweise durch formelle, bürokratische und standardisierte Verfahren, zum Beispiel in Form von Verpflichtungspraktiken in Vertragsform, ersetzt (Kontraktmanagement). Der Case Management-Ansatz passt zu einer Vorstellung von Sozialer Arbeit als sozialstaatlich organisierter Humandienstleistung. Adressatinnen und Adressaten werden als freiwillige, selbstbestimmte und kompetente Nutzerinnen und Nutzer des zur Verfügung stehenden Dienstleistungsangebots angesprochen. Diese Auffassung ignoriert allerdings die real sehr große Spannbreite der Zugangsmöglichkeiten und Kompetenzen. Die Gefahr besteht, dass beim Case Management der Anspruch auf Partizipation und das Recht auf Teilhabe nur noch im Sinne formal-bürokratischer Strukturen umgesetzt wird, nicht im Sinne eines Prozesses realer Handlungsermächtigung. Der Case Management-Ansatz setzt bei den Adressatinnen und Adressaten das Vorhandensein weitreichender Kompetenzen voraus: Interaktionskompetenzen, verbale und schriftliche Kommunikationskompetenzen, Fähigkeiten zum aktiven Umgang mit Institutionen und deren bürokratischem Schriftgut, Verhandlungskompetenzen. Dagegen setzt der Case Work-Ansatz bei den tatsächlich individuell vorhandenen Kompetenzen und Zugangsmöglichkeiten an und strebt die reale Mündigkeit der Adressatinnen und Adressaten als Ziel an. Er betrachtet sie nicht als Eingangsvoraussetzung für ein Hilfeangebot.
Die starke Ausrichtung von Case Management auf messbare Wirkungen macht die Methode anschlussfähig für betriebswirtschaftliche Steuerungsansätze. Die begrenzte Außensteuerbarkeit und mangelnde Berechenbarkeit menschlichen Handelns gerät hier leicht aus dem Blick und wird einem funktionalen Steuerungsdogma unterworfen. Dass die Ziele von Hilfeangeboten zu Beginn der jeweiligen Maßnahme durch Fachkräfte wie durch Adressatinnen und Adressaten kaum antizipierbar sind und sich im Verlauf der Hilfe erst offenbaren bzw. sich mit der persönlichen Weiterentwicklung ebenfalls verändern, setzt dem „informed consent“ zu Beginn Grenzen. Hilfe- und Maßnahmeplanung beinhaltet immer einen guten Teil Unsicherheit und Risiko und die Aushandlung der Hilfegestaltung muss dieses Risiko immer offen legen, anstatt vollständige Berechenbarkeit zukünftiger Abläufe zu suggerieren. Unter diesem Aspekt betrachtet erscheint Case Work mit ihren nicht-operationalisierbaren, unberechenbaren Beziehungsanteilen plötzlich deutlich wahrhaftiger als Case Management mit seinem impliziten Versprechen universaler Steuerbarkeit.
Alltags-, Lebenswelt- und Adressatenorientierung
Als wesentliche Bedingung für den Erfolg Sozialer Arbeit gilt die gelingende Anpassung eines Hilfeangebots an die individuelle Lebenslage der Adressatin oder des Adressaten.[57] In der Mitte der 70er Jahre wurde von Hans Thiersch für die Soziale Arbeit das Prinzip der Lebensweltorientierung formuliert und teilweise synonym mit „Alltagsorientierung“ verwendet (vgl. Thiersch 2006, 20098, Thiersch, Grunwald 2008). Es impliziert die methodische Ausrichtung der Sozialen Arbeit an den Gegebenheiten der sozialen Umwelt, in der die Adressatinnen und Adressaten leben. Der Ausdruck Lebenswelt beinhaltet nach Alfred Schütz’ Phänomenologie (Schütz 1932, Schütz, Luckmann 1975) die in ihren Strukturgesetzlichkeiten immer nur teilweise bewusste Erlebens- und Erfahrungsganzheitlichkeit des alltäglichen Lebens und wurde unter anderem von Jürgen Habermas als Gegenwelt zu institutionellen Systemen wie Staat oder Wirtschaft verstanden (vgl. Habermas 1981).
In der Sozialen Arbeit repräsentiert Lebensweltorientierung die Abkehr von hierarchisch-formalen Interaktionsstrukturen zwischen Fachkräften und ihren Adressatinnen und Adressaten, seien sie auf staatlicher oder bürokratischer Macht, auf normativen Vorgaben oder auf Expertenwissen gegründet. Thierschs Ansatz basiert auf einer Anerkennung der Eigensinnigkeit der Lebenszusammenhänge der Hilfeempfänger und ihres Status als „Experten ihres eigenen Lebens“. Professionelle Hilfsangebote sind daher gehalten, sich an die jeweiligen lebensweltlichen und individuellen Bedingungen anzupassen und nicht im Gegensatz dazu eine Anpassung der Adressatinnen und Adressaten an die Angebote zu verlangen. Rahmenbedingungen von Hilfen sollten also niedrigschwellig, zugehend und alltagsnah gestaltet sein und Angebote sollten dezentral und regional vorgehalten werden und den Zugangsmöglichkeiten der Zielgruppe angepasst werden. Fachkräfte sollten sich verständlich ausdrücken, einen alltagsnahen und informellen Habitus pflegen, in der Wahl ihrer Kleidung die Wirkung auf ihre Zielgruppe berücksichtigen und die Grenzen zum Privaten beachten. Hinzu kommt die Einbeziehung der Selbstdeutungen und Handlungsmuster der Hilfeempfänger in Fallreflexion, Diagnostik und Hilfeplanung und eine allgemeine Ausrichtung der Arbeit auf Partizipation und Teilhabe.
Während der Begriff der Lebenswelt das Private und Informelle im Gegensatz zum Staatlichen, Normierten und Systematischen betont, bezieht sich der Begriff des Alltags auf die normalen Abläufe des täglichen Lebens im Gegensatz zu herausgehobenen Situationen und Zeiten. Thiersch bezieht sich bei beidem eher auf die prägenden Umwelteigenschaften als auf die Adressatinnen und Adressaten selbst. Sie werden als Teil ihres Milieus begriffen. Um Zugang zu ihnen finden zu können, muss ein Verstehens- und Anpassungsprozess der Fachkräfte an die Lebenswelt und den Alltag der von ihnen betreuten Personen geleistet werden. Dies soll nicht primär aus strategischen Gründen erfolgen, sondern im Sinne eines verstehend-nachvollziehenden Zugangs. Eine effektive Hilfeleistung kann nach Thiersch nur auf der Basis eines Verstehens des bisher gelebten Lebens gelingen. Insgesamt gibt er die Ansicht auf, dass Fachkräfte den Adressatinnen und Adressaten höherwertige Normen zu vermitteln haben. Auch wenn deren Verhalten Probleme verursacht, erscheint es aus dem Lebenskontext heraus meist nachvollziehbar und sogar sinnvoll.
Alltagsorientierung bedeutet in der Jugendhilfe auch die Einbeziehung des sozialen Kontextes in die Maßnahme. Da das Handeln von Menschen immer sozial eingebettet ist, werden isolierte Verhaltensveränderungen einzelner Menschen von der Umgebung oft nicht verstanden und sanktioniert, selbst wenn die Problemreduktion für die Umwelt eine Erleichterung bietet. Gerade für junge Menschen ist es kaum möglich sich von ihrem Lebensumfeld unabhängig zu entwickeln. Für angestrebte Veränderungen muss also im Umfeld geworben und auf vollzogene positive Veränderungen und Lösungen muss aufmerksam gemacht werden, damit die Beteiligten nicht im Status quo verhaften.
[58]Das Konzept verarbeitet darüber hinaus die Erkenntnis, dass die Lösung sozialer Probleme für die Adressatinnen und Adressaten meist mit längeren, schrittweise zu bearbeitenden Lernprozessen verbunden ist. Die Gestaltung dieser Lernprozesse im Rahmen sozialpädagogischer Hilfen verlangt eine Orientierung an den jeweils gegebenen Voraussetzungen – an den persönlichen Kompetenzen wie an den Umfeld-Ressourcen. Damit geht der lebensweltorientierte Ansatz unmittelbar in das Konzept der Adressatenorientierung über, das stärker person- als umfeldbezogen ausgerichtet ist (vgl. Bitzan, Bolay, Thiersch 2006). Den Sinn des individuellen Handelns und der individuellen Biografien und Hilfe-Vorgeschichten zu verstehen, um damit besser an Interessen, Motiven und Zielenansetzen zu können, steht im Mittelpunkt des adressatenorientierten Ansatzes. Dies ermöglicht sowohl die Berücksichtigung der individuellen Beschränkungen und Behinderungen, die die Nutzung eines Unterstützungsangebots verhindern könnten, als auch die Einbeziehung der vorhandenen Möglichkeiten, Ressourcen und Kompetenzen.
Alltagsorientiert arbeitende Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter verzichten auf professionelle Habitussignale in ihrer Sprache, in ihrem Verhalten und in ihrer Kleidung. Damit geht ein partieller Verzicht auf Expertenautorität einher, wie sie andere Professionen selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Der Kommunikations- und Interaktionsstil orientiert sich am Alltagsverhalten und der Umgangssprache der Adressatinnen und Adressaten. Der praktizierte Sprachstil sollte transparent und um Verstehen und Verständnis bemüht sein, keine ausgeprägten Habitus- und Statussignale beinhalten, soziale Unterschiede möglichst wenig betonen und hinsichtlich der ausgedrückten Emotionalität und der geäußerten Meinungen eher neutral sein. Dazu gehört eine verständliche Terminologie und ein nachvollziehbarer Satzbau, der sich an den kognitiven Möglichkeiten der Kommunikationspartner ausrichtet.
Alltags- und Adressatenorientierung impliziert weder eine kritiklose Überahme der Interaktionsstile der Zielgruppe noch eine bedingungslose Anpassung im Erscheinungsbild. Damit würden Entwicklungsmöglichkeiten, die den Adressatinnen und Adressaten durch die Erschließung neuer Verhaltensformen geboten werden sollen, verstellt. Fachkräfte sollten die sozialen Signale, die sie durch ihr Verhalten, ihren Sprachstil oder über Kleidung und Accessoires an die Hilfeempfänger senden, kritisch reflektieren und als Wirkungsmomente der Arbeit sinnvoll gestalten.
Alltags-, Lebenswelt- und Adressatenorientierung bezieht sich auch auf das Hilfeziel, nämlich die Wiederherstellung eines autonomen Alltags durch „Hilfe zur Selbsthilfe“, ein Ausdruck, der für die sozialpädagogische Familienhilfe in den Gesetzestext des Kinder- und Jugendhilfegesetzes aufgenommen wurde, aber für andere Angebote der Sozialen Arbeit ebenso gilt (Petko 2004: 32, Helming, Schattner, Blüml 19993 : 229ff. Rauschenbach, Ortmann, Karsten 1993: 12ff.). In der ambulanten Jugendhilfe sollen die natürlichen sozialen Gefüge vorrangig erhalten werden.
Kritisch kann zu dem Konzept angemerkt werden: Lebenswelt- und Adressatenorientierung setzt auf akzeptierende, an das gegebene angepasste und affirmative Handlungsstrategien. Schon Thiersch erkannte, dass der Alltag und die Lebenswelt nicht zu idealisieren seien, sondern beschränkend und destruktiv wirken können (Thiersch 20097: 41ff.). Gerade in der ambulanten Jugendhilfe setzt die vorhandene Lebenswelt den Förder- und Veränderungsmöglichkeiten der betreuten Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen oft enge Grenzen und beschränkt auch ihre Teilhabemöglichkeiten in der Gesellschaft. Auf solche destruktiven Tendenzen müssen Fachkräfte nicht mit Akzeptanz, sondern mit Konfrontation und im Extremfall der Schädigung und Gefährdung junger Menschen mit Herausnahme reagieren.
[59]Förderung von Autonomie oder intermediärer Auftrag?
Für Berufspraktikerinnen und -praktiker Sozialer Arbeit können verwirrende „Theoriekonkurrenzen“ entstehen (Winkler 2001: 247), wenn sich aus unterschiedlichen fachlichen Ansätzen eine unübersichtliche Vielfalt möglicher Konsequenzen ergeben. Beispielhaft lässt sich das im Vergleich zwischen dem dienstleistungsorientierten Ansatz (vgl. Dewe, Otto 2002) und dem intermediären Ansatz zeigen (vgl. Heiner 2007), dass sich daraus sehr unterschiedliche und sogar widersprüchliche Schlussfolgerungen für die Praxis ziehen lassen können.
Der dienstleistungsorientierte Ansatz interpretiert die Unterstützungsangebote der Sozialen Arbeit als Beitrag zur Kompensation sozialer Ungleichgewichte und Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft und orientiert sich an der Förderung der Autonomie der Personen, die die Angebote sozialstaatlich organisierter Humandienstleistungen in Anspruch nehmen. Die Qualität der angebotenen Leistungen wird danach bewertet, inwiefern sie die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer erfüllen. Die Hervorbringung der Sozialleistungen vollzieht sich in einem Koproduktionsprozess zwischen Fachkräften und Nutzerinnen und Nutzern, wobei professionelles Handeln auf deren aktive Mitarbeit angewiesen ist (vgl. Oelerich, Schaarschuch 2005). Prozess und Ergebnis werden dabei als eine prozessuale Einheit aufgefasst, was in der Sozialwirtschaft als uno-actu-Prinzip der Dienstleistungsproduktion bezeichnet wird (vgl. v. Spiegel 20083). Wesentliches Qualitätskriterium des professionellen Angebots ist sein Gebrauchswert für die Nutzerinnen und Nutzer. Die gesellschaftliche Aufgabe von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern ist bei diesem Ansatz parteilich an den Autonomieinteressen der unterstützten Individuen ausgerichtet.
„Professionelles Handeln ist […] als stellvertretendes Handeln […], d.h. als die stellvertretende Interpretation von Handlungsproblemen, zu begreifen, die aber, so wie ihre Lösungen, in der Verantwortung der AdressatInnen Sozialer Arbeit bleiben […]. Im Zentrum professionellen Handelns steht also nicht „Expertise“ oder „Autorität“, sondern die Fähigkeit der Relationierung und Deutung von lebensweltlichen Schwierigkeiten in Einzelfällen mit dem Ziel der Perspektivenöffnung bzw. einer Entscheidungsbegründung unter Ungewissheitsbedingungen.“ (Dewe, Otto 2005: 197 f.).
Die Aufgabe der Fachkraft besteht darin, die Bedürfnisse, Motive und das Handeln von Adressatinnen und Adressaten herauszufinden, in seiner gesellschaftlichen Bedingtheit einzuordnen, einzelfallbezogen angepasste Handlungsmöglichkeiten dialogisch zu erarbeiten und zu vermitteln. Durch diesen Prozess ergibt sich, zumindest in der Theorie, eine Erweiterung der individuellen Entwicklungs- und Handlungsoptionen der Adressatinnen und Adressaten.
Dieser Ansatz kann in der Realität zu Konflikten zwischen Fachkräften führen, wenn diese sich jeweils an verschiedenen Personen und ihren Interessen orientieren. Schone und Wagenblass haben am Beispiel der mangelnden Zusammenarbeit zwischen Psychiatrie und Jugendhilfe beobachtet, welche Auswirkungen es haben kann, wenn sich Fachkräfte an unter Umständen entgegengesetzten Partikularinteressen einzelner Adressatinnen und Adressaten ausrichten, ohne übergreifende Zusammenhänge einzubeziehen, das Gemeinwohl zu bedenken oder interessenausgleichend zu arbeiten (vgl. Schone, Wagenblass 20103).
Der intermediäre Ansatz, wie er von Maja Heiner vertreten wird, geht dagegen davon aus, dass der grundsätzliche gesellschaftliche Auftrag Sozialer Arbeit in einer [60]Vermittlungsaufgabe besteht, nämlich dem Interessenausgleich zwischen Individuen oder zwischen Individuum und Gesellschaft bzw. gesellschaftlichen Institutionen.
„Die gesellschaftliche Funktion der Sozialen Arbeit ist eine intermediäre: Sie tritt vermittelnd zwischen Individuum und Gesellschaft mit dem Ziel, ein besseres Verhältnis der Menschen in ihrer näheren und ferneren sozialen Umwelt zu erreichen […]. Ihr Handeln im Rahmen dieser intermediären Funktion wird auch als „Intervention“ bezeichnet, d.h. als Dazwischentreten, als Vermittlung zwischen Gruppen, Organisationen, Einzelpersonen […].“ (Heiner 2007: 101f.).
Da die ambulante Einzelbetreuung eine auf die Förderung einzelner junger Menschen ausgerichtete Jugendhilfemaßnahme ist, bietet sich der Autonomieansatz zunächst als Handlungsorientierung an. Er versagt aber schon bei alltäglichen Situationen wie der Aushandlung von Pflichten und Rechten zwischen Eltern und Kindern. Beim Zusammentreffen jeweils durch professionelle Unterstützer begleiteter Adressatinnen und Adressaten mit unterschiedlichen Interessen führt er zu einer absurden Reduplikation von Konflikten auf der Helferebene. Hier ist ein überparteilicher, vermittelnder professioneller Standpunkt wesentlich hilfreicher.
Nach der These der intermediären Funktion ist Soziale Arbeit in der Hauptsache zwischen Individuen, sozialen Gruppen und Institutionen tätig und zwar genau dann, wenn es hier zu Konflikten und Widersprüchen kommt. Dabei müssen die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Individuen mit den gesellschaftlichen Zugangsmöglichkeiten und Anforderungen ausbalanciert werden. Das Ziel ist eine sozial verantwortete Selbstverwirklichung der Individuen auf der einen und eine sozial gerechte, Zugang und Teilhabe ermöglichende Gesellschaft auf der anderen Seite. Ein funktionierender Ausgleich zwischen diesen beiden Polen, die tendenziell immer in Spannung stehen und der permanenten, dynamischen Vermittlung bedürfen, gewährleistet soziale Stabilität (Heiner 2007: 101 ff.). Dieses Modell setzt die individuellen Bedürfnisse und Ansprüche der Hilfeempfänger nicht absolut, sondern sieht sie jeweils in Beziehung zu den Ressourcen der sozialen Umwelt. Die Gesellschaft wird nicht als verabsolutiertes Großsystem gesehen, das dem Einzelnen anonym und unbeeinflussbar gegenüber steht, sondern als aus dem sozialen Miteinander der Einzelnen entstehendes und durch individuelles Verhalten beeinflussbares Ganzes. Bezogen auf einen Konflikt zwischen Eltern und Kindern bedeutet das, dass in der so ausgerichteten ambulanten Einzelbetreuung Rechte und Pflichten, Interessen und Verantwortung als ineinander greifende Momente des gemeinsamen sozialen Prozesses verstanden und begleitet werden. Es geht also nicht um die parteiliche und advokatorische Unterstützung des jungen Menschen um jeden Preis, sondern um eine Aushandlung der für alle Beteiligten nachhaltig besten kooperativen Lösung und eine lebbare soziale Integration.
Während der Autonomie-Ansatz mit egozentrischen und sogar sozialparasitären Haltungen harmoniert und die Strukturen des sozialen Dienstleistungssystems auf reine Bedürfnisbefriedigung der Nutzerinnen und Nutzer zuschneidet, geht der intermediäre Ansatz von einem dynamischen Wechselspiel zwischen den Individuen und ihren sozialen Umwelten aus. Dies beinhaltet als Ziel keine konsumierende, sondern eine aktiv und verantwortlich gestaltende Haltung gegenüber der Gesellschaft.
[61]Partizipation und Inklusion
Der Partizipationsbegriff meint zunächst die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger eines demokratisch verfassten Staatswesens an der politischen Willensbildung. In der Sozialen Arbeit wurde Partizipation seit den 1980er Jahren als Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an Sozialplanungsprozessen und in den 1990er Jahren im Sinne einer stärkeren Adressatenbeteiligung an der Steuerung der sozialen Dienstleistungen thematisiert und in den entsprechenden Paragraphen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ausformuliert (vgl. Pluto 2007). Nach wie vor besteht allerdings zwischen dem Partizipationsanspruch des Kinder- und Jugendhilferechts und dem zugrunde liegenden Rechtssystem, das Kinderrechte als von den Rechten der Eltern abgeleitet begreift, ein Widerspruch (vgl. Urban 2004, Münder 2006, Pluto 2007). Immerhin werden infolge der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 im deutschen Recht Kinder zunehmend als eigenständige Rechtssubjekte angesehen und zuletzt wurde im Dezember 2011 durch die Zustimmung des Bundesrats zum BKiSchG der Partizipationsgedanke – bezogen auf die Beteiligung von Erziehungsberechtigten und jungen Menschen – als wesentlicher Teil der Qualität von Jugendhilfe noch einmal stärker im Kinder- und Jugendhilfegesetz verankert.
Bei der Umsetzung von Partizipation stehen verschiedene Modelle zur Auswahl: Advokatorische Konzepte, realisiert zum Beispiel durch Kinder- Frauen- oder Behindertenbeauftragte, beziehen Vertreterinnen und Vertreter der entsprechenden Gruppe in einen Entscheidungs- oder Planungsprozess ein. Verfahrenspflegerinnen und Verfahrenspfleger als Beteiligte in familiengerichtlichen Verfahren nehmen als professionelle Stellvertreterinnen der betroffenen Kinder diese Funktion war. Bei repräsentativen Modellen werden gewählte Delegierte eingesetzt. Unmittelbare Beteiligungsformen erlauben möglichst vielen Betroffenen eine möglichst vollständige und möglichst aktive Teilnahme am gesamten Steuerungs- und Entscheidungsprozess. Das Aushandlungsmodell der Hilfeplanung in der Jugendhilfe nach § 36 SGB VIII folgt diesem Modell. Eine weitere Form ist die geteilte Entscheidung („shared decision making“, Pluto 2007: 24).
Beteiligung bezieht sich in der Jugendhilfe sowohl auf die Auswahl und Steuerung der Hilfe als auch auf ihre Durchführung und bei den stationären Angeboten auch auf den gemeinsamen Alltag in der Einrichtung. Schon bei der Auswahl und Steuerung der Hilfe über die Hilfeplanung können Spannungen zwischen den Interessenlagen verschiedener Parteien aufkommen, zwischen Eltern und Kindern, Elternteilen oder Geschwistern. Es können auch Zielkonflikte zwischen Selbstbestimmungs- und Beteiligungsrechten und der Anpassung an Sachzwänge bestehen. Sobald sich Jugendhilfe im Bereich potenzieller Kindeswohlgefährdung bewegt, kommt als weiterer Aspekt ihr „doppeltes Mandat“ ins Spiel29. Beteiligungsrechte werden ausgesetzt und allgemeinen Schutznormen unterworfen, sobald ein Jugendhilfefall als Gefährdungsfall klassifiziert ist. Die Fachautorin Liane Pluto schreibt hierzu:
[62]„Eine klare Auftragssituation ist wahrscheinlich sogar in den seltensten Fällen gegeben. In der Regel wird sich die Fallkonstellation durch eine diffuse Gemengelage auszeichnen, die sich irgendwo zwischen Hilfe und Kontrolle bewegt und von Eltern einerseits und Kindern andererseits unterschiedlich interpretiert wird.“ (Pluto 2007: 46).
Im Hilfeplanungsprozess sind mindestens zweierlei Machtungleichgewichte in ausgleichende Partizipationsaktivitäten der Fachkräfte einzubeziehen: Das strukturelle Ungleichgewicht zwischen Fachkräften und Adressatinnen und Adressaten und das zwischen Erwachsenen und Minderjährigen. Darüber hinaus haben die Adressatinnen und Adressaten nicht immer Interesse an einer aktiven Beteiligung und bringen häufig – Erwachsene wie junge Menschen – eine geringe Partizipationskompetenz bezüglich der Verwaltungsabläufe mit. Liane Pluto schreibt:
„Die Anforderung, dass Kinder und Jugendliche beteiligt werden sollen, ist im Bereich der Hilfen zur Erziehung immer auch eine pädagogische und damit eine paradoxe Anforderung. Damit ist gemeint, dass man in Erziehungsprozessen das, was man zu erreichen sucht, bereits vorauszusetzen hat. […] Das gilt auch für Beteiligungsprozesse: Sie sind in dem Kontext der erzieherischen Hilfen immer auch Weg und Ziel zugleich.“ (Pluto 2007: 52).
Es soll ergänzt werden, dass das auf die zu beteiligenden Erwachsenen in vielen Fällen ebenso zutrifft. Bei der Hilfeplanung soll durch eine transparente, an Verständigung und den jeweiligen Kompetenzen der Beteiligten orientierte Verfahrensausgestaltung eine aktive Beteiligung an der Hilfeauswahl und -steuerung gefördert und unterstützt werden. Das praktische Einüben von Beteiligung ist bei der Ambulanten Einzelbetreuung im Vergleich zur stationären Heimerziehung und der Gruppenpädagogik beschränkt, bei denen kollektive Entscheidungsformen alltagspraktisch erprobt werden können. Doch auch hier ergeben sich viele Chancen zur Förderung von Partizipation. Zum einen kann die Betreuungsperson dem jungen Menschen in der Hilfeplanung stellvertretend eine Stimme verleihen oder besser noch: Die Betreuerin oder der Betreuer achtet darauf, dass der junge Mensch dort mit seinen Anliegen angehört und wahrgenommen wird. Das Hilfeplangespräch sollte gemeinsam vorbereitet werden und der junge Mensch kann darin unterstützt werden, seine Perspektive zu entdecken, auszuformulieren und selbst vorzubringen. Dies ist auch in anderen Kontexten wie der Familie und der Schule sinnvoll. Dabei lernt der junge Mensch, eigene Sichtweisen und Interessen zu entwickeln, gegenüber anderen Personen und Institutionen in verschiedenen Konstellationen selbstbewusst und angemessen zu vertreten, praktische Umsetzungswege im Diskurs zu entwickeln und dabei auch Kompromisse auszuhandeln. Auch die Förderung der politischen Willensbildung und Beteiligung und die Unterstützung der aktiven Wahrnehmung eigener Rechte gehört zu den Aufgaben der Einzelbetreuung. Praktizierte Partizipation hat hierbei die Komponenten: Mitdenken, Mitreden, Mitplanen, Mitentscheiden, Mitgestalten, Mitverantworten (Pluto 2007: 53). Betreuende Fachkräfte können die von ihnen betreuten jungen Menschen bei diesen Aktivitäten unterstützen, indem sie sie über Rechte und institutionelle Abläufe informieren, ihnen Zugänge eröffnen, ihre kommunikativen Kompetenzen anregen, entwickeln und fördern, sie zur Wahrnehmung ihrer Rechte ermutigen und sie in schwierigen Situationen begleiten. Stellvertretende Aktivitäten, bei denen die betreuende Person für den jungen Menschen spricht, können dabei am Anfang einer Entwicklung stehen, bergen aber immer die Gefahr der Entmündigung und Passivierung.
Während der Partizipationsgedanke vom Individuum her gedacht ist, reflektiert der Begriff der Inklusion als Leitbegriff des Bildungssystems und der Sozialen Arbeit die strukturellen Bedingungen, die für eine vollumfängliche Teilhabe an der Gesellschaft[63] notwendig sind. Er löst den älteren Begriff der Integration ab. Während Integration noch stark an normativen Vorstellungen orientiert war, hat sich die Idee der Inklusion vollständig davon gelöst. In einer inklusiven Gesellschaft sind die Diversität der Individuen und das Vorhandensein unterschiedlichster persönlicher Kompetenzniveaus vollständig akzeptiert. Die Verantwortung für die Beseitigung von Zugangshindernissen für Einzelne oder Gruppen, seien es räumliche, soziale oder kulturelle Barrieren, und für die aktive Kompensation von Benachteiligungsfaktoren liegt nicht mehr beim Individuum, sondern bei der Gesellschaft. Damit fordert der Begriff Inklusion vor allem die auf Segregation und Leistungsauslese ausgerichteten Bildungsinstitutionen und die Wirtschaft heraus. Die Inkusionsforderung u.a. durch die UN-Behindertenkonvention stellt das gegliederte Schulsystem und die Ausdifferenzierung spezifischer, auf Segregation beruhender Förderangebote fundamental in Frage. Auch für die Soziale Arbeit, die sich in diesen Bereichen etabliert hat, bedeutet Inklusion eine Infragestellung und veränderte Aufgabenwahrnehmung. Inklusion beinhaltet die Überwindung und Aufhebung von Barrieren der Wahrnehmung und Kommunikation, von räumlicher Trennung, das reflexive Aufbrechen von Vorurteilen und die Förderung von Kommunikation, Toleranz und Unterschiedlichkeit. Um dieses Ziel realisieren zu können, müssen spezialisierte Institutionen für Benachteiligte zugunsten breiter aufgestellter Regelinstitutionen aufgelöst werden. Um die zusätzlichen Aufgaben erfüllen zu können, müssen diese Systeme zukünftig mit den entsprechenden Ressourcen und Kompetenzen ausgestattet werden. Dies impliziert eine zunehmende Einbeziehung sozialarbeiterischer Kompetenz in alle gesellschaftlichen Bereiche.
Jugendhilfe arbeitet vorrangig mit als benachteiligt und unterstützungswürdig klassifizierten Personen und Familien. Insbesondere die ambulante Einzelbetreuung wird häufig bei jungen Menschen eingesetzt, die aus verschiedensten Gründen vom Bildungssystem ausgesondert wurden. Inklusion bedeutet, dass die Einbeziehung dieser jungen Menschen in normale gesellschaftliche Abläufe Vorrang haben muss vor speziellen Förderangeboten. Als Reaktion auf die große Zahl an jungen Menschen, die den Weg durch das Bildungssystem nicht schaffen, haben sich zahlreiche Organisationen Sozialer Arbeit etabliert, deren Arbeit letztlich auf sozialem Ausschluss beruht. Inklusiv zu arbeiten heißt, primär auf Reintegration in Regelinstitutionen hinzuwirken.
Soziale Arbeit hat nicht nur mit Menschen zu tun, die durch gesellschaftliche Strukturen und Institutionen ausgeschlossen werden, sondern auch mit denjenigen, die Exklusion gegenüber anderen praktizieren. Ambulante Einzelbetreuung wird als Hilfemaßnahme bei jungen Menschen eingesetzt, die sich als intolerant, andere unterdrückend und gewalttätig zeigen. Dies kann sich als extremistische politische oder religiöse Position ausformen oder als abwertendes Alltagsverhalten gegenüber Behinderten, Menschen mit einer sexuellen Orientierung, die als abweichend bewertet wird, dem anderen Geschlecht, das als minderwertig klassifiziert wird o.ä. Hier besteht die Inklusionsfunktion der Betreuungspersonen darin, die individuellen Gründe für das jeweilige Exklusionsverhalten zu eruieren und eine Veränderung der zugrunde liegenden Einstellungen und des daraus folgenden Handelns anzubahnen, strukturell einzubetten und zu begleiten.
24 Dies wäre zum Beispiel eine Orientierung der ambulanten Jugendhilfe an Sauberkeits- und Bildungsnormen der Mittelschicht.
25 So das Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe“, das im § 31 SGB VIII als Leitprinzip der Sozialpädagogischen Familienhilfe formuliert ist.
26 So die Orientierung an Autonomie (vgl. Dewe, Otto 2002, Oelerich, Schaarschuch 2005) und Empowerment (Helming, Schattner, Blüml 19993: 183ff,).
27 Auf der Internetseite des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge werden einige Informationen zum Case Management bereit gestellt. Darüber hinaus bietet die Seite www.casemanager.de von Prof. Dr. Peter Löcherbach verschiedene Informationen über Standards, Organisationen, Weiterbildungsmöglichkeiten und Texte zum Download.
28 Die Terminologie variiert je nach Autor, wobei die wesentlichen Schritte übereinstimmen. Hier wird die Terminologie von Löcherbach verwendet.
29 Unter dem „doppelten Mandat“ der Sozialen Arbeit verstand man seit den 70er Jahren eine Verpflichtung der Fachkräfte gegenüber dem Staat auf der einen und den Adressatinnen und Adressaten auf der anderen Seite. Dies wurde als Gegensatz angesehen. Neuere Ansichten gehen von einer doppelten Loyalität aus, die zwar in Spannung steht, aber zwei Seiten einer Medaille bildet (Heiner 2004: 37).