Читать книгу Handbuch Ambulante Einzelbetreuung - Ute Reichmann - Страница 7
Оглавление[10][11]Einleitung
Meine Annäherung an die ambulante Einzelbetreuung mit jungen Menschen in der Jugendhilfe erfolgte als Sprung ins kalte Wasser: 1992 führte ich im Auftrag des Jugendamtes als Honorarkraft meine erste Erziehungsbeistandschaft mit einem zehnjährigen Jungen durch, dem ältesten Sohn einer vielköpfigen und – wie man heute sagen würde – bildungsfernen Familie. Dass der Junge und seine Familie Unterstützung brauchten, war leicht zu erkennen: Finanzielle Schwierigkeiten, Streit und Erziehungsprobleme prägten den familiären Alltag. Die Kinder wurden in Kindergarten und Schule von den anderen Kindern abgelehnt. Sie hatten Schwierigkeiten, die dortigen Bildungsansprüche zu erfüllen. Wie vermittels der Erziehungsbeistandschaft eine Verbesserung erreicht werden könnte, musste ich im Verlauf der Hilfemaßnahme selbst herausfinden. Weder gab es damals einen unterstützenden Hintergrunddienst des Jugendamtes, noch konnte ich auf Methodenliteratur für diesen speziellen Arbeitsbereich zurückgreifen.
Auf diese erste Erziehungsbeistandschaft, die für mich als unerfahrene Betreuerin wie für die von mir beratene und begleitete Familie nicht immer leicht war, folgten viele weitere Jugendhilfemaßnahmen. Die Jugendhilfe entwickelte sich weiter, ich lernte dazu: In den Jahren bis zur Jahrtausendwende etablierte sich das Hilfeplanverfahren. Bei den öffentlichen und freien Trägern verbesserten sich langsam die Rahmenbedingungen für ambulante Jugendhilfe. Der Schutzauftrag wurde gesetzlich konkretisiert und Qualität in der Jugendhilfe genauer definiert. Von der operativen Ebene wechselte ich in die Position einer Koordinatorin für ambulante Einzelbetreuung und Jugendhilfeplanerin. Auf diese Weise konnte ich sowohl bei der konkreten Fallarbeit beraten als auch Standards und Konzepte ausarbeiten. Doch auch in der Koordinierungs-, Leitungs- und Planungsrolle war die Arbeit dadurch geprägt, dass keine tätigkeitsbezogene, aktuelle Fachliteratur zur Verfügung stand. Bei der Umsetzung von Qualitätsstandards gab es kaum Vergleichsmöglichkeiten.
Bei der ambulanten Einzelbetreuung – das sind Erziehungsbeistandschaften, Betreuungshilfen auf gerichtliche Weisung und intensive sozialpädagogische Einzelbetreuungen – handelt es sich um ein Standardangebot der Jugendämter nach § 30 und § 35 SGB VIII, das entweder durch diese selbst oder durch freie Träger der Jugendhilfe durchgeführt wird. Dieses Tätigkeitsfeld dient häufig zum Einstieg in die Soziale Arbeit: Sei es schon während oder nach Beendigung eines Studiums der Sozialarbeit, sei es in Form eines Wechsels vor dem Hintergrund einer vorausgehenden anderen Ausbildung oder Berufsausübung.
Die Tätigkeit erfordert Selbstständigkeit, Verantwortung und methodische Flexibilität. Nicht immer sind die Rahmenbedingungen und die persönlichen Voraussetzungen den Anforderungen der Hilfeart angemessen. So ist die Unsicherheit von unerfahrenen Einzelbetreuerinnen und Einzelbetreuern groß und ihr Informationsbedarf vielfältig. Sie haben viele Fragen, zum konkreten Handeln im Einzelfall, zu den örtlichen Rahmenbedingungen und dem eigenen, manchmal schwierigen und bedrohten ökonomischen[12] Status. Doch auch für langjährig Tätige gibt es immer wieder Klärungsbedarf. Teamgespräche und Supervision sind häufig nicht genügend spezialisiert, um wirksame methodische Unterstützung zu leisten. Nicht zuletzt stehen Leitungskräfte und Träger vor der Herausforderung, einen in starkem Maße selbstorganisierten und eigenverantwortlichen Arbeitsbereich effektiv so zu gestalten, dass der Schutz der betreuten Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen und die Umsetzung qualitativ hochwertiger und wirksamer Hilfen garantiert sind.
Im vorliegenden „Handbuch ambulante Einzelbetreuung“ sind wesentliche Informationen zusammengeführt, die man in der ambulanten einzelfallbezogenen Jugendhilfe braucht. Es bietet Praktikerinnen und Praktikern – Betreuungskräften wie Leitungspersonen – und Lehrenden wie Studierenden der Sozialen Arbeit die Möglichkeit, sich über die Rahmenbedingungen und methodischen Möglichkeiten der ambulanten Erziehungshilfen, die direkt beim jungen Menschen ansetzen, eingehend zu informieren. Gerade in der Jugendhilfe ist die Fachliteratur teilweise zu unspezifisch, die Ansätze und Handlungsvorschläge sind nicht ausreichend auf die Hilfearten zugeschnitten und beziehen die Bedingungen des alltäglichen Berufshandelns nur ungenügend ein. Kurzfristig oder langfristig angelegte Maßnahmen, beziehungsorientierte oder zielbezogene Hilfen, Jugendhilfeangebote im strukturierten Setting – wie Tagesgruppen und stationäre Einrichtungen – oder im ambulanten, alltagsnahen Setting erfordern sehr unterschiedliche Herangehensweisen und setzen den jeweiligen Fachkräften unterschiedliche Vorgaben und Grenzen. Das Studium der Sozialen Arbeit bereitet nicht überall ausreichend auf die Arbeit in einzelnen Tätigkeitsfeldern vor. Für Berufsumsteigerinnen und -umsteiger gilt, dass sie sich an keiner zentralen Stelle eingehend über die Hilfeart ambulante Einzelbetreuung – Erziehungsbeistandschaft und Betreuungshelfer – informieren und vorbereiten können.
Die Auswahl und Anordnung der Themen des Handbuchs erfolgte nach praktischen Gesichtspunkten. Der Band richtet sich an Leitungs- und Betreuungskräfte sowie an Studierende und Lehrende der Sozialen Arbeit mit Interesse an den spezifischen Methoden und Rahmenbedingungen der ambulanten Jugendhilfe.
Nach einem historischen Kapitel, in dem die Entwicklung der ambulanten Einzelbetreuung auf der Basis von Mary Richmonds Konzept der Case Work dargestellt wird, erfolgt ein Überblick über den aktuellen empirischen Wissensstand und den Status quo der Hilfeart. Anschließend werden die wesentlichen Spezialformen der Hilfe, die sich in Folge des Kinder- und Jugendhilfegesetzes entwickelten, vorgestellt. In den Kapiteln „Handlungsorientierungen“ und „Praxis gestalten“ werden theoretische Hintergründe, Diskussionslinien und Kontroversen mit ihren Folgen für die ambulante Einzelbetreuung dargestellt und diskutiert. Die darauf folgenden Kapitel „Phasenmodell des Hilfeverlaufs“ und „Der kleine Methodenkoffer“ liefern praktische Vorschläge zur Umsetzung. Daran schließen zwei Kapitel an, die die Begegnung mit Gewalt in der Jugendhilfe in den Fokus stellen: „Grenzsituationen der Jugendhilfe: Kindeswohlgefährdung“ und „Jenseits der Parteilichkeit: Täterarbeit mit jungen Menschen“. Das darauf folgende Kapitel zeigt auf typische Problemkonstellationen und passende Interventionsstrategien. Der Band schließt ab mit drei Kapiteln, die mit detaillierten Vorschlägen auf Möglichkeiten der Fallreflexion, auf Dokumentation und Datenschutz und die Organisation der Hilfe eingehen.
Das Handbuch verbindet jeweils theoretische Ansätze mit konkreten Handlungsvorschlägen, bietet eine Vielzahl von in der Praxis erprobten Instrumenten, Handreichungen, Formularen und Checklisten und liefert methodische Empfehlungen wie auch Hinweise zur Gestaltung der Rahmenbedingungen. Auch die Grenzen der Hilfeart werden[13] dargestellt. Anhand authentischer Fälle werden Reflexions- und Handlungsmöglichkeiten diskutiert und beispielhaft vorgeführt. Das Handbuch verfolgt einen individualisierenden Ansatz, den man nach Wahl als adressatenorientiert, Diversity-, inklusiven oder als Capability-Ansatz1 bezeichnen könnte. Unabhängig von der jeweiligen, der Mode unterworfenen Bezeichnung orientiert er sich an den individuellen Voraussetzungen, Fähigkeiten, Interessen und Perspektiven der Adressatinnen und Adressaten. Dass Minderjährige einen anderen Rechtsstatus haben als Erwachsene – der sich je nach Alter und Entwicklungsstand verändert – bestimmt notwendig die Rahmenbedingungen des professionellen Handelns in der ambulanten Einzelbetreuung. Da die Partizipation der jungen Menschen in der Jugendhilfe und im Hilfeplanverfahren leider immer noch nicht mit ausreichender Ernsthaftigkeit umgesetzt wird (vgl. Pluto 2005), ist die Verbesserung der Partizipation ein wichtiges Anliegen der vorgeschlagenen methodischen Hinweise.
Verwendete Abkürzungen:
AIB | Ambulante Intensive Begleitung |
ASD | Allgemeiner Sozialdienst |
BKiSchG | Bundeskinderschutzgesetz |
BW | Betreutes Wohnen |
ISE | Intensive Sozialpädagogische Einzelbetreuung |
JWG | Jugendwohlfahrtsgesetz |
KICK | Kinder- und Jugendhilfeerweiterungsgesetz |
KJHG | Kinder- und Jugendhilfegesetz (Sozialgesetzbuch VIII) |
RJWG | Reichsjugendwohlfahrtsgesetz |
SGB | Sozialgesetzbuch |
1 Zum adressatenorientierten Ansatz s. Kap. „Handlungsorientierungen“. Der Diversity-Ansatz geht davon aus, dass Menschen unterschiedliche Voraussetzungen haben, an denen man sich in der Weiterentwicklung ihrer Fähigkeiten orientieren sollte. Der inklusive Ansatz sieht die gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen als Ziel, insbesondere die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen. Der Capability-Ansatz, der auf Amartya Sen und Martha Nussbaum zurück geht, strebt ein auf individuelle Autonomie und Befähigung ausgerichtetes sozialprofessionelles, politisches und ökonomisches Handeln an.