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Оглавление[30][31]Die Ambulante Einzelbetreuung
Datenbasis und statistische Quellen
Schon das Jugendwohlfahrtsgesetz verpflichtete zum Sammeln statistischer Daten zur Jugendhilfe, die vom Statistischen Bundesamt direkt bei den Jugendämtern und den Jugendhilfeträgern erhoben und in die amtliche Kinder- und Jugendhilfestatistik eingepflegt wurden14. Mit der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, mit dem Kinder- und Jugendhilfeerweiterungsgesetz (KICK) 2005 und dem Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) 2012 wurde diese schrittweise ausgebaut.
Die Jugendämter exportieren den Beginn und die Beendigung der Hilfen zur Erziehung direkt und in anonymisierter Form aus ihren elektronischen Datenverarbeitungssystemen an die statistischen Landesämter. Durch Publikationen und auf einer Internetseite (www.destatis.de) macht das Statistische Bundesamt diese Daten der Öffentlichkeit zugänglich. Thematisch aufbereitete Statistiken werden dreimal jährlich und kostenlos über die Zeitschrift KomDat des Informationsdienstes Kinder- und Jugendhilfe (AKJStat) publiziert (www.akjstat.uni-dortmund.de).15
Kurze Zeit nach Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes wurde die sogenannte JULE-Studie – „Leistungen und Grenzen der Heimerziehung“ von Thiersch und anderen (1998) – durchgeführt. Sie bezog sich nur auf stationäre und teilstationäre Jugendhilfeangebote. Die sogenannte JES-Studie – „Effekte erzieherischer Hilfen und ihre Hintergründe“ von Schmidt und anderen (2002) – bezog erstmalig alle Jugendhilfemaßnahmen nach dem Hilfekatalog des KJHG ein und befasste sich damit auch mit der Erziehungsbeistandschaft. Die Datenlage zur Hilfeform ambulante Einzelbetreuung ist insgesamt gering. Einzig eine Untersuchung von Fröhlich-Gildhoff von 2003 bezieht sich genauer auf diese Hilfeform. Regina Rätz-Heinisch untersuchte im Rahmen ihrer qualitativen Studie „Gelingende Jugendhilfe bei aussichtslosen Fällen“ (2005), bei der sie biografische Bezüge von Jugendhilfeverläufen betrachtete, auch flexible und ambulante Angebote.
Sämtliche verfügbaren Daten belegen, dass seit der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes die Anzahl der ambulanten Einzelbetreuungen erheblich angewachsen ist16. 2014 betrugen die am 31.12. des Jahres laufenden Hilfen knapp das Doppelte des entsprechenden Wertes von 1995, obwohl seit 2010 demografische Rückgänge bei den Jugendlichen sichtbar werden (s. Tabelle 1).
[32]Tabelle 1: Zunahme der ambulanten Einzelbetreuungen (1995–2014)
§ 30 (Erziehungsbeistandschaft, Betreuungshelfer) (laufende Fälle am 31.12.) | |
1995 | 16.231 (100 %) |
2000 | 22.024 |
2005 | 25.847 |
2010 | 35.400 |
2014 | 29.896 (+ 84 %) |
Quelle: Stat. Bundesamt.
Erhöhte Fallzahlen in den Hilfen zur Erziehung können als Indiz für sich ausweitende gesellschaftliche Problematiken interpretiert werden, insbesondere als Effekt der Erosion traditioneller Familienstrukturen, eines zunehmenden Anpassungsdrucks im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt, der Individualisierung der Lebensläufe und der globalen Wanderungsbewegungen und damit einem problematisch erhöhten Migrationsanteil in der Bevölkerung (vgl. Beck 1986, Vester, Oertzen, Geiling, Hermann, Müller 2001). Vor allem in ländlichen Gebieten und in den neuen Bundesländern könnte sich der Infrastrukturabbau infolge der demografischen Entwicklung verschärfend auswirken.
Andere Erklärungsansätze sehen in einem erhöhten Normalitätsdruck in den Sozialisations- und Bildungsinstitutionen – Familien, Betreuungseinrichtungen und Schulen – die Ursache für anwachsende Fallzahlen in der Jugendhilfe. Dieser Erklärung entsprechend haben sich nicht primär die Kinder und Jugendlichen und ihre Lebenskontexte zum Negativen verändert, sondern die Sozialisations- und Bildungsinstitutionen sind normativer, rigider und exklusiver geworden, wodurch Minderjährige häufiger und schneller als früher aus dem normalen Bildungsgang heraus segregiert werden und sich in der Folge nur schwer in das Erwerbsleben integrieren können.
Aber nicht für alle Jugendhilfemaßnahmen ist in den letzten Jahren eine gleichmäßiger Anstieg erkennbar. So stagnierten die stationären Maßnahmen oder nahmen sogar zahlenmäßig ab, wogegen die ambulanten Hilfen und die Unterbringungen in Pflegefamilien zunahmen.
Diese Umverteilung ist auch ein Ergebnis der Strategie von Jugendämtern, kostenintensive stationäre Maßnahmen durch kostengünstigere ambulante Hilfen zu ersetzen17. Das KJHG setzte auf eine eindeutige familienunterstützende Orientierung und ordnete die Fremdunterbringung als nachrangig in der Hilfepalette ein. Zunehmende Fallzahlen in der ambulanten Jugendhilfe signalisieren, dass die gewünschte Neuausrichtung der Jugendhilfe hin zu mehr ambulanten und familienunterstützenden und -ergänzenden Hilfen im Wesentlichen gelungen ist.
Die ambulanten Jugendhilfen gingen aus einem hauptsächlich ehrenamtlich organisierten Bereich der Jugendhilfe hervor. Dies wirkt sich bis heute auf die Trägerlandschaft für diese Hilfearten aus. Insgesamt ist das Geschehen bei den ambulanten Einzelbetreuungen deutlich marktförmiger und zersplitterter strukturiert als bei den anderen Hilfen zur Erziehung. Die öffentlichen Träger und großen Wohlfahrtsverbände sind [33] weniger präsent. Dagegen sind privatwirtschaftliche Unternehmen doppelt so häufig aktiv. Vereinzelt werden Ambulante Einzelbetreuungen immer noch von Honorarkräften durchgeführt. Die Wahl der Hilfeart und die Organisation der Hilfe hat Einfluss auf die Kosten, die den Jugendämtern entstehen. Zurzeit liegen die Kosten, die ein freier Träger der Jugendhilfe einem Jugendamt für eine durchgeführte Fachleistungsstunde ambulanter Jugendhilfe (Sozialpädagogische Familienhilfe oder Erziehungsbeistandschaft) in Rechnung stellt, bei ca. 45–55 €. Ein fest angestellter Sozialpädagoge verursacht dem anstellenden öffentlichen oder freien Träger Kosten von ca. 45 €.18 Unter reinen Kostengesichtspunkten beinhaltet die Beschäftigung von Honorarkräften für die kommunalen Auftraggeber ein erhebliches Einsparpotenzial, vor allem wenn zusätzlich Maßnahmen zur Qualitätssicherung und -entwicklung eingespart werden.
Im Gesetzestext des Kinder- und Jugendhilfegesetzes war die Erziehungsbeistandschaft ursprünglich als eher niedrigschwellige familienunterstützende Hilfe angedacht, wogegen die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung nach § 35 SGB VIII zu den Maßnahmen höchster Intensität gehörte noch jenseits der aufwändigen und kostenintensiven stationären Maßnahmen. Diese Spannbreite hat sich mit mittleren Stundenzahlen zwischen fünf und sieben Stunden in der Woche angeglichen. Hinsichtlich der Dauer lagen sie bei durchschnittlich etwa einem Jahr.
Wen erreicht die Hilfe?
Die amtliche Kinder- und Jugendhilfestatistik bildet auch ab, bei welchen Zielgruppen die ambulante Einzelbetreuung bevorzugt eingesetzt wird.
Männliche junge Menschen sind in der ambulanten Einzelbetreuung dauerhaft überrepräsentiert. Bei den Hilfen zur Erziehung lag der Anteil der Jungen 2009 bei 60 % und bei den am 31.12.2015 laufenden ambulanten Hilfen nach §§ 30 und 35 SGB VIII lag der Anteil mit 61,3 % leicht darüber.
Der deutliche und anhaltende Überhang männlicher junger Menschen in der Jugendhilfe ist eine viel diskutierte Tatsache, die sich bislang kaum in die eine oder andere Richtung verändert. Heranwachsende Jungen zeigen mehr Verhaltensauffälligkeiten und sind häufiger delinquent. Bei den psychischen Störungen zeigen Jungen mehr Aggression und mehr Verhaltensauffälligkeiten, wogegen Mädchen unauffälliger bleiben. Das Leistungsversagen vieler Jungen in der Schule und ihre Schwierigkeiten sich sozial zu integrieren ist häufig Thema der Medien, wobei unterschiedliche Ursachen kontrovers diskutiert werden. Betrachtet man die geschlechtsspezifische schulische Leistungsfähigkeit im Verhältnis zu den anschließenden beruflichen Karrierechancen, zeigen Mädchen und Jungen dauerhaft stabile Diskrepanzen: Mädchen zeigen traditionell bessere Schulleistungen und kommen durchschnittlich mit den schulischen Verhaltensanforderungen besser zurecht. Dagegen sind weiterhin trotz durchschnittlich deutlich [34] größerer Anpassungsprobleme in der Schule die meisten Jungen bei der Durchsetzung beruflicher Karrieren im Vorteil. Gleichzeitig ist unter den Jugendlichen ohne Schulabschluss die Gruppe der männlichen Jugendlichen wesentlich größer. Die Situation dieser Gruppe lässt sich nur schwer durch außerschulische Hilfen im Übergangssystem verbessern.
In der Jugendhilfe werden nicht nur deutlich mehr Hilfen bei Jungen und männlichen jungen Erwachsenen eingesetzt, diese sind auch intensiver und dauern länger. Ähnlich wie in der Schulpädagogik ergibt sich die Situation, dass der höhere Förderbedarf der Jungen überwiegend durch weibliches Personal umgesetzt wird. Diese „Feminisierung“ der Pädagogik wird im öffentlichen Diskurs zum Teil für die diskrepanten geschlechtsspezifischen Ergebnisse verantwortlich gemacht. Doch alle statistischen Hinweise zeigen zumindest bezogen auf die Schulpädagogik das Gegenteil: In der Grundschule, wo der Anteil von Frauen am größten ist, ist das Gender-Gap in der Leistungsbeurteilung am geringsten, am Gymnasium mit dem größten Anteil männlicher Lehrer am größten. Lehrer bewerten Jungen durchschnittlich schlechter und männliche Lehrkräfte sind bei Jungen weniger beliebt. Vor allem im kritischen Diskurs um Jungenarbeit (beispielhaft Cremers 2011) wird die Konstruktion und Kritik von Geschlechtsstereotypen und die Rolle der Pädagogik dabei diskutiert. Während auf der einen Seite jungenbezogene Angebote durch männliche Pädagogen gefordert werden, macht die andere Seite auf Problematiken der Verfestigung traditioneller und wenig hilfreicher Männlichkeitsnormen in Jungengruppen aufmerksam.
Betrachtet man die Alterszusammensetzung, liegt bei allen ambulanten Einzelbetreuungen die Hauptzielgruppe bei den 15–18-Jährigen gefolgt von den 18–21-Jährigen bei den intensiven ambulanten Einzelbetreuungen (§ 35 SGB VIII) mit knapp 29 % und den 12–15-Jährigen bei den Erziehungsbeistandschaften und Betreuungsweisungen (§ 30 SGB VIII). Unter 9-Jährige werden selten betreut.
Etwa 83 % aller ambulanten Einzelbetreuungen werden mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter zwischen 12 und 21 Jahren durchgeführt. Davon etwa die Hälfte sind im Alter zwischen 15 und 18 Jahren.
Die Themen dieser Hilfeart werden durch die Entwicklungsaufgaben der brisanten Lebensphase Jugend bestimmt: Die langsame Ablösung aus der Familie und zunehmende Verselbstständigung, der Übergang zwischen Schule und Beruf bei der Bildungslaufbahn und die sexuelle und soziale Entwicklung. Ambulante Einzelbetreuung wird in vielen Fällen als Maßnahme zur Begleitung dieser Übergänge eingesetzt.
In den letzten Jahren ließ sich häufig feststellen, dass Migrantinnen und Migranten an den wohlfahrtsstaatlichen Unterstützungsangeboten nicht entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil partizipierten. Dies galt auch für die Hilfen zur Erziehung. Für die Ambulanten Einzelbetreuungen lässt sich das nicht nachweisen. Mit einem Anteil von 31 % an den Ambulanten Einzelbetreuungen zum Jahresende 2015 und einem Zuwachs von 29 % gegenüber den Daten des statistischen Bundesamtes von 2008 sind migrantische Jugendliche in den ambulanten einzelfallbezogenen Hilfen teilweise sogar überrepräsentiert.
Es gibt einen ausgeprägten Zusammenhang zwischen Sozialleistungsbezug und der Nutzung der Hilfen zur Erziehung. Der Anteil der Sozialleistungsempfänger bei den Hilfen zur Erziehung insgesamt liegt bei 43 % (2009).
Der Alleinerziehendenstatus, der ein erhebliches Armutsrisiko beinhaltet, erhöht die Wahrscheinlichkeit, Hilfen zur Erziehung in Anspruch zu nehmen, ebenfalls. 2007 hatten Alleinerziehende gegenüber nicht Alleinerziehenden eine fünffach erhöhte Erziehungshilfequote. Für diese Bevölkerungsgruppe lag der Anteil der Sozialleistungsempfänger[35] bei 70 %. Dabei waren es vor allem die familienergänzenden Hilfen, darunter die ambulante Einzelbetreuung und die Familienhilfe, die von diesem Klientel in Anspruch genommen wurde, weniger die Erziehungsberatung und die Hilfen bei seelischer Behinderung (§ 35a SBG VIII).
Nicht nur die Hilfen zur Erziehung insgesamt werden sozial selektiv genutzt, sondern bei den ambulanten Erziehungshilfeangeboten ist die soziale Selektivität noch einmal erhöht. Deren Klientel ist in weiten Teilen durch eine ungünstige finanzielle Lage verbunden mit großen sozialen Problemen gekennzeichnet. Beim Jugendamt des Landkreises Göttingen zeigte ein Vergleich von 383 Maßnahmen der ambulanten Einzelbetreuung mit 444 Maßnahmen der Sozialpädagogischen Familienhilfe aus den Jahren 2004–2008, dass die ökonomische Lage bei der ambulanten Einzelbetreuung sogar noch bedrückender war als in der sozialpädagogischen Familienhilfe. Ökonomische Probleme wurden um die Hälfte häufiger genannt, Delinquenz und Inhaftierung von Eltern war häufiger Hilfeanlass und die Beziehungen der jungen Menschen zum sozialen Umfeld waren deutlich schlechter.
Ambulante Einzelbetreuung setzt also als Hilfeangebot am unteren sozialen Spektrum an. Es werden oft mehrfach benachteiligte junge Menschen betreut, bei denen kaum finanzielle, soziale und bildungsbezogene Ressourcen vorhanden sind. Sozialpolitisch besonders problematisch ist der Umstand, dass ausgerechnet bei einem extrem benachteiligten Klientel die Qualitätsstandards nicht gesichert sind und die Kostenaspekte eine große Rolle spielen.
Ambulante Einzelbetreuung – Stiefkind der Jugendhilfe
Die ambulanten Jugendhilfeangebote Erziehungsbeistandschaft und Sozialpädagogische Familienhilfe verzeichneten nach der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes gleichermaßen hohe Zuwachsraten. Dabei galt vor allem die sozialpädagogische Familienhilfe als Hoffnungsträger für diejenigen, die vom KJHG einen Paradigmenwechsel erwartet hatten. Alltagsorientierte und unterstützende Angebote sollten die bisherige Eingriffsorientierung ablösen, die Erziehungskompetenz der Familien stärken und damit für Kinder und Jugendliche die Bedingungen des Aufwachsens innerhalb der Herkunftsfamilie nachhaltig verbessern. Die sozialpädagogische Familienhilfe schien all diesen Erwartungen ideal zu entsprechen. Ihr Ausbau war von einem intensiven Professionalisierungsschub getragen. In öffentlich geförderten Expertisen wurde eine elaborierte arbeitsfeldspezifische Methodik erarbeitet und Qualitätsstandards festgelegt (beispielhaft: Helming, Schattner, Blüml 19993). Dies blieb nicht ohne Auswirkungen auf das Qualifizierungsniveau der Fachkräfte. Träger bildeten hilfeartspezifische Angebotsstrukturen aus. Als Ergebnis entwickelte sich die Sozialpädagogische Familienhilfe von einem in früheren Jahren überwiegend ehrenamtlichen Tätigkeitsfeld zu einem professionalisierten, strukturierten und anerkannten Bereich der Jugendhilfe. Die Hilfeart ist als Arbeitsschwerpunkt auf Hochschulebene präsent und wird regelmäßig durch empirische Studien begleitet und evaluiert.19 Sozialpädagogische Familienhilfe [36] ist zu einem mindestens gleichberechtigten Standardangebot der Hilfen zur Erziehung geworden.
Für die Erziehungsbeistandschaften, den weitaus größten Anteil der ambulanten Einzelbetreuungen, ist eine vergleichbare Entwicklung ausgeblieben. Obwohl sie zahlenmäßig ebenfalls sehr stark zunahmen, entwickelte sich weder ein nennenswertes wissenschaftliches noch ein erkennbares methodisches Interesse. Bis auf eine Studie von Fröhlich-Gildhoff (2003) gibt es kaum empirische Literatur zu dieser Hilfeart, keine Forschung zu methodischen Weiterentwicklungen und keine wissenschaftlichen Evaluationen. Die verbreiteten niedrigschwelligen Betreuungsangebote mit geringen wöchentlichen Stundenzahlen blieben vom fachlich-methodischen Diskurs und von der strukturellen und wissenschaftlichen Weiterentwicklung weitgehend ausgeschlossen, obwohl die Betreuungszahlen weiterhin ansteigen.
Der geringen Aufmerksamkeit der Fachwelt entspricht eine heterogene und fast zufällig scheinende Umsetzung der Maßnahmen. Dabei existieren für den Tätigkeitsbereich keine spezifischen Mindestqualitätsstandards oder Strukturvorgaben.
Auch hinsichtlich der Indikationsfrage gibt es Verbesserungsbedarf. Schon bald nach der Einführung des KJHG wurde die Indikations- und Hilfeplanungspraxis der Allgemeinen Sozialen Dienste der Jugendämter allgemein kritisiert. So wird von der Jugendhilfe-Effekte-Studie (Schmidt, Schneider, Hohm, Pickartz, Macsenaere, Petermann, Flosdorf, Hölzl, Knab: 2002) über die Aufsatzsammlung „Was tun mit schwierigen Kindern?“ (Henkel, Schnapka, Schrapper 2002) bis zu Sabine Aders „Was leitet den Blick?“ (2006)20 durchgängig kritisiert, dass die Zuweisungen von Jugendhilfemaßnahmen willkürlich und hinsichtlich der zu bearbeitenden Problematik und der angestrebten Ziele zu wenig durchdacht sind. Besonders die ambulanten Einzelbetreuungen werden in der Jugendhilfe als unspezifisches Allheilmittel eingesetzt. Das mangelnde Methoden- und Wirkungswissen führt dazu, dass die Hilfe für beinahe jede Problematik, jedes Alter und bei beliebiger Problemintensität eingesetzt wird. Ausschlusskriterien scheint es keine zu geben. Hinsichtlich der Höhe der Stundenzahlen und der Kontaktfrequenz lässt sich kein Zusammenhang zwischen dem Maßnahmezuschnitt und der Intensität der Problematik feststellen. Für welche Zielgruppen und Problematiken sich diese Jugendhilfemaßnahme eignet oder nicht eignet, durch welche Hilfen sie gegebenenfalls sinnvoll ergänzt werden kann und – was wichtiger wäre – wo die Grenzen der Hilfeart liegen, ist bisher unbestimmt.
Möglicherweise entspricht dem geringen fachlichen und strukturellen Status der ambulanten Einzelbetreuung ein geringer Wirkungsgrad. In der großen Jugendhilfe-Effekte-Studie (Schmidt, Schneider, Hohm, Pickartz, Macsenaere, Petermann, Flosdorf, Hölzl, Knab) von 2002, die längsschnittlich über drei Messzeitpunkte die Wirkungen verschiedener Jugendhilfemaßnahmen erhob und miteinander verglich, wurde die Prozess-, Struktur- und Ergebnisqualität der untersuchten Erziehungsbeistandschaften im Vergleich zu den übrigen Erziehungshilfen als wenig günstig und die Hilfeform insgesamt als erschreckend gering wirksam beurteilt.
„Hilfen im Rahmen von Erziehungsbeistandschaften versorgten eine eher ungünstige Klientel. Die schwachen Prognosen für deren Entwicklung könnten durch vertiefte Diagnostik verbessert werden. Bei niedriger Strukturqualität und mittlerer Prozessqualität zeigte diese Hilfeform die höchste Rate an Abbrüchen; diese werden häufig vom Jugendamt und der hilfeleistenden Institution gemeinsam verantwortet. Die in dieser Hilfeform erzielten Wirkungen waren relativ schwach. Symptomreduktion und Kompetenzsteigerung gelangen [37] nur unterdurchschnittlich, die Beeinflussung des Umfeldes durchschnittlich. Schwierigkeiten bereitete die Herstellung einer ausreichenden Kooperation mit dem Kind oder seinen Eltern.“21
Die Erkenntnisse der Jugendhilfe-Effekte-Studie zur Erziehungsbeistandschaft sind ernüchternd, obwohl es sich schon im Untersuchungszeitraum um eine der ältesten, der am häufigsten durchgeführten und damit um eine außerordentlich erprobte Jugendhilfemaßnahme handelte. Bei unklarer Indikation und unspezifischem Einsatz wurden Familien mit den höchsten Problematiken umfasst, die durchschnittlich ältesten Kinder mit den schlechtesten Prognosen und der höchste Migrationsanteil aller Jugendhilfemaßnahmen. Der Anteil der Abbrüche (43 %) war unter allen Jugendhilfemaßnahmen am höchsten und die durchschnittliche Dauer am geringsten. Die Erziehungsbeistandschaft hatte insgesamt die geringsten Wirkungen und die geringste Zielerreichung von allen Jugendhilfen, ihre Strukturqualität war im Vergleich am geringsten und hohe Problembelastung und geringer Aufwand trafen aufeinander.
Wie die Daten der Kinder- und Jugendhilfestatistik zeigen, liegt das Erfolgsniveau der ambulanten Einzelbetreuungen noch immer deutlich unter dem Durchschnitt aller Hilfen zur Erziehung. Einer immensen Problembelastung steht eine Hilfe gegenüber, die mit Recht Stiefkind der Jugendhilfe genannt werden kann. Das geringe Engagement des Sozialstaats, der Träger und der Fachöffentlichkeit ist auch aus humanitären Gründen nicht vertretbar, da die Hilfeform offenbar bevorzugt bei besonders benachteiligten jungen Menschen eingesetzt wird. Ähnliches gilt für Betreuungsweisungen, also für die Erziehungsbeistandschaften, die bei Delinquenz auf Weisung der Gerichte anstelle von Sanktionen angeordnet werden. Auch hier existiert kein Methoden- und Wirkungsdiskurs, der über eine allgemeine Verurteilung des Zwangscharakters der Maßnahmen hinausgeht, und dies, obwohl diese Maßnahmen ausgesprochen problembelastete und benachteiligte Fälle versorgen, die kurz vor der Schwelle zum Erwachsenwerden und oft an einem biografischen Scheideweg zwischen gelingendem sozialem Anschluss und kriminellem Werdegang steht. Gelingt zu diesem Zeitpunkt eine Integration in die Bildungsinstitutionen und eine Normalisierung des Lebenslaufs auch mit Unterstützung von Jugendhilfe nicht mehr, sind die negativen Folgen später meist nicht mehr einzuholen. Wenn Jugendhilfemaßnahmen an dieser Schaltstelle der Biografie versagen, steigt das Risiko, dass eine selbstgestaltete und integrierte Lebensführung endgültig misslingt.
Merkmale des Angebots
In der Ausführung und im Setting weist die ambulante Einzelbetreuung charakteristische Merkmale auf, durch die sich das Hilfeangebot von den anderen Hilfen zur Erziehung unterscheidet (s. Tabelle 2).
[38]Tabelle 2: Überblick über die Merkmale des Angebots
Ort der Hilfe | Wohn- und Lebensort des jungen Menschen unter Einbeziehung des sozialen und institutionellen Umfelds |
Setting | Eins- zu- eins- Kontakt, Beziehungsarbeit |
Problemlagen | nicht näher eingegrenzt, oft diffus |
Zielgruppe | nicht näher eingegrenzt |
Funktion | multifunktional, unspezifisch |
Intensität | geringe Intensität und Struktur, niedrigschwellig – die meisten Maßnahmen < 10 h/Woche, durchschnittl. 6–7 h/Woche |
Quelle: Eigene Darstellung.
Ort der Hilfe
Das lateinische Verb ambulare bedeutet umhergehen, spazieren gehen. Ambulante – d.h. zugehende – Soziale Arbeit ist im Gegensatz zu stationärer – d.h. in einer stationären Einrichtung erbrachter – Sozialer Arbeit definiert. Der Wortgebrauch leitet sich ursprünglich aus der Medizin ab.
Arbeitsort der ambulanten Einzelbetreuung ist der Lebensort des jungen Menschen. Dies kann die Herkunftsfamilie sein, der eigene Haushalt, die Pflegefamilie, in der er lebt, die Freunde, bei denen er vorübergehend untergekommen ist. Sogar wenn der junge Mensch obdachlos ist, stellt das kein Hindernis für die Betreuung dar. Das Hilfeangebot ist nicht an Mindestbedingungen geknüpft und passt sich flexibel der jeweiligen Wohnsituation an, unabhängig von Milieus und Beziehungsstrukturen, solange ein Umzug des betreuten jungen Menschen oder seiner Eltern nicht zu einem Wechsel der Zuständigkeit des jeweiligen Jugendamtes führt. Die Hilfe bindet sich nicht an bestimmte Lebensstrukturen, sondern in erster Linie an die Person, mit der gearbeitet wird.
Die alltagsnahe Erbringung von Hilfen gilt im Sinne einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit (s.u.) als fachlich erstrebenswert, stellt aber die Betreuerinnen und Betreuer vor besondere Schwierigkeiten. Während im stationären und teilstationären Kontext ungünstige Lebensbedingungen durch eine Eigenstruktur des Hilfeangebots ersetzt werden können, muss die ambulante Betreuungsperson auf der Basis des Vorgefundenen arbeiten, wie mangelhaft und unbefriedigend es auch immer ausgestaltet ist. Mängel können in einem ungenügend eingerichteten Zimmer eines jungen Menschen bestehen, in dem mangels Tisch oder mangels Ruhe weder ein ungestörtes Gespräch noch das Anfertigen der Hausaufgaben möglich sind, oder darin, dass die familiäre Interaktion die Entwicklung von Selbstbewusstsein und Reflexion behindert. Das Lebensumfeld des jungen Menschen gibt den Handlungsrahmen und die -möglichkeiten für die ambulante Einzelbetreuung vor. Dies gilt für die materiellen, räumlichen und sozialen Lebensbedingungen. Aufgabe der ambulanten Einzelbetreuung ist, aus den gegebenen Voraussetzungen heraus das Verhalten des jungen Menschen zu verbessern. Damit obliegt die gesamte Veränderungslast der Betreuungsperson und den persönlichen und methodischen Kompetenzen, die sie vor Ort umsetzen kann.
Wenn die Arbeitsbedingungen für die ambulante Einzelbetreuung am Lebensort des jungen Menschen zu ungünstig sind, ist es gerade im ländlichen Raum schwierig eine Alternative zu finden, um sich zu treffen, Gespräche zu führen und zu arbeiten. In [39]Städten bietet der Träger der Maßnahme den Betreuungspersonen manchmal Büro- und Gesprächsräume zur Nutzung. Auf dem Lande können Jugendräume, Jugendzentren, Gemeinderäume oder Räume in kirchlicher Trägerschaft eine Ausweichlösung sein. Auf die Dauer sollte überlegt werden, wie die räumliche Situation für den betreuten jungen Menschen verbessert werden kann. Hat er kein eigenes Zimmer oder ist dieses nicht entsprechend ausgestattet, so dass er dort ungestört Besuch empfangen und seine Hausaufgaben machen kann, sollte ein Zimmer in der Familie ausgeräumt und renoviert, sollten Möbel besorgt und das Zusammenleben den Bedürfnissen des jungen Menschen entsprechend umgestaltet werden. Die Umsetzung dieses Handlungsplans beinhaltet notwendig die Einbeziehung der ganzen Familie und die Bearbeitung von Widerständen gegen diese Veränderungen.
Einschränkender als ungünstige oder beengte räumliche Gegebenheiten können sich die eingespielten Verhaltensweisen einer Familie auswirken. Vor dem Hintergrund von Familienkulturen, die in deutlichem Widerspruch zu gesellschaftlichen Normen, zu den Ansprüchen der Bildungsinstitutionen und sogar zu geltendem Recht stehen, lässt sich die individuelle Unterstützung eines jungen Menschen manchmal kaum ansatzweise verwirklichen. Die Fördermöglichkeiten durch ambulante Einzelbetreuung sind also an die Mitarbeits- und Veränderungsbereitschaft des familiären Umfelds gebunden. Es ist nicht sinnvoll gegen die familiären Gegebenheiten anzuarbeiten, weil dieses Vorgehen den betreuten jungen Menschen in einen problematischen Loyalitätskonflikt zwischen seiner Familie und der Betreuungsperson stürzen wird. Die Arbeit mit dem jungen Menschen ist fast immer begleitet von einer beharrlichen Arbeit mit dem sozialen Umfeld.
Ein wesentlicher Teil der Aufträge bei ambulanten Einzelbetreuungen ist das Bearbeiten von Bildungs- und Ausbildungsproblemen. Daher gehören auch die Kooperation mit den entsprechenden Institutionen und das Aufsuchen der entsprechenden Lern- und Ausbildungsorte als essenzieller Teil zur Arbeit dazu.
Setting
Ambulante Einzelbetreuung ist klassische Beziehungsarbeit im Eins-zu-eins-Kontakt. Die Maßnahme richtet sich auf den jungen Menschen aus und ihre Wirksamkeit und ihr Erfolg leitet sich aus dem gelingenden und vertrauensvollen persönlichen Kontakt zwischen Betreuungsperson und dem betreuten jungen Menschen ab. Durch die Art und Weise der Zusammenarbeit kann im besten Fall eine Arbeitsbeziehung entstehen, durch die der junge Mensch in seiner Persönlichkeitsentwicklung gefördert wird und die belastende biografische Erfahrungen kompensiert.
Diese Arbeitsbeziehung ähnelt in ihrer ganzheitlichen Charakteristik alltäglichen und manchmal sogar familiären Beziehungen und enthält emotionale wie kognitive Aspekte. Die Sprache ist alltagsnah und richtet sich an den Gepflogenheiten des jungen Menschen und seines sozialen Umfelds aus. Das Verhältnis erscheint Außenstehenden manchmal erstaunlich freundschaftlich (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2003). Die Kontaktfrequenz und die Dauer der Kontakte, die Inhalte der Gespräche und die Art der gemeinsamen Unternehmungen werden zwischen Betreuungsperson und betreutem jungen Menschen relativ frei ausgehandelt.
Doch sowohl die große emotionale Nähe als auch die Freiheit der Gestaltung beinhalten viele Verunsicherungsmomente und eine große Verantwortung für die Betreuerinnen und Betreuer, auch weil die personellen Aspekte die Arbeit sich kaum anhand[40] methodischer Richtlinien und Standards absichern lassen. Die in freier Aushandlung gefundenen Umgangsweisen und Interventionen werden durch die Fachkraft persönlich verantwortet. Die Wirksamkeit der jeweiligen Maßnahme ist eng an die Betreuungsperson und ihr Handeln gebunden. Während der praktischen Arbeit im Kontakt zum betreuten jungen Menschen kommen viele Fragen auf, deren Antworten in keinem Methodenhandbuch zu finden sind, wie die Frage, ob man sich siezen oder duzen soll, ob es unprofessionell ist, Adressatinnen oder Adressaten mit nach Hause zu nehmen und wie viel Einblick man ihnen in das eigene Privatleben gestatten soll. Die Verhaltensformen, die gültigen Regeln und Übereinkünfte des Miteinander-Umgehens sind nicht aus Konventionen und extern vorgegebenen Regeln ableitbar. Dabei ist die Grenze zwischen Privatperson und Berufsrolle schwer zu ziehen. An welchen Stellen muss man auf Einhalten der Form und Respekt bestehen, um nicht ins Laienhaft-Unprofessionelle abzudriften? Der Verlust der „professionellen Distanz“ als Signal mangelnder Expertise ist so berüchtigt wie undefiniert (vgl. Dörr, Müller 20072). Wodurch unterscheidet sich letztlich der private vom professionellen Kontakt, wenn sich die Anreden und Gesprächsformen, die Themen, die Kontaktformen annähern?
Auch aus der Perspektive des jungen Menschen ist die Situation nicht leicht einzuschätzen. Er hat ebenfalls Schwierigkeiten die Beziehung zu fassen und zu greifen: Wer ist die Betreuungsperson für ihn eigentlich? Ist er oder sie Freund, erwachsener Berater, emotionaler Elternersatz? Wie ist dieser Mensch einzuordnen, der biografische Relevanz für sich beansprucht? Mit welchen emotionalen Ansprüchen darf man ihm begegnen? Welches Vertrauen kann man ihm entgegenbringen und wie vertraut soll man sich ihm gegenüber verhalten? „Du bekommst doch Geld dafür, dass du bei mir bist!“ Dieser kritische, manchmal fragend, manchmal fordernd, manchmal auch provozierend geäußerte Hinweis junger Adressatinnen und Adressaten ist Ausdruck einer tiefen Verunsicherung, der Befürchtung, dass nichts als Geld die Beziehung zusammen hält, wodurch wichtige Kategorien wie persönliche Wertschätzung, Anerkennung und Sympathie entwertet werden. Dass die Betreuungsperson nur für Geld anwesend ist, beinhaltet eine persönliche Kränkung und verweist auf die unaufhebbare Kälte und prinzipielle Auswechselbarkeit und Beliebigkeit jeder professionellen Hilfebeziehung. Das Interesse der Fachkraft scheint nicht dem jungen Menschen als Person, sondern nur als Klienten zu gelten. Damit wird die Mühe der Betreuung anscheinend nicht um seiner selbst willen, sondern um eines beruflichen Arbeitsauftrags willen geleistet. Diese Erkenntnis kann die Bereitschaft eines jungen Menschen einschränken, sich auf die Betreuungsbeziehung rückhaltlos einzulassen, vor allem wenn er in seinem Leben viele unzuverlässige und enttäuschende Beziehungen erlebt hat.
Jede ambulante Einzelbetreuerin und jeder ambulante Einzelbetreuer muss einen eigenen Weg suchen, persönliche Nähe und professionelle Distanz zu verbinden. Leicht auflösen lässt sich dieser Widerspruch zwischen einem kühl-abwägenden, professionellen Blick und der Lebensweltnähe zu den Adressatinnen und Adressaten, der Orientierung an ihren Bedürfnissen, Wünschen und Zielen und einem vertrauensvollen Umgang mit ihnen nicht.
Die Problemlagen in der ambulanten Einzelbetreuung
Ambulante Einzelbetreuung wird selten problemspezifisch eingesetzt. In vielen Fällen bilden die Problemlagen zu Beginn der Hilfe eine diffuse und undurchsichtige Anhäufung einander verstärkender Schwierigkeiten, bei denen ein Ansatz für Veränderung[41] kaum erkennbar ist. Die Beteiligten drängen auf Unterstützung, weil es „so“ nicht weiter gehen kann. Die Eingangssituation ist durch Sachzwänge – ein drohender Schulverweis, der unbedingt abgewendet werden soll, eskalierte Konflikte, eine zugespitzte Drogenproblematik oder eine drohende Haftstrafe – dominiert. Daraus resultiert ein starker Handlungsdruck. Die Gefahr einer an schneller Entlastung orientierten und wenig inhaltlichen Hilfeindikation ist dann groß. Vielleicht wären weiter gehende Hilfemaßnahmen sinnvoller. Dafür konnte man aber weder die Eltern noch den jungen Menschen gewinnen. Eventuell war vor Ort kein geeignetes Gruppenangebot vorhanden, der junge Mensch schien zu alt für die sozialpädagogische Familienhilfe oder die Eltern stimmten dem Hilfeangebot nur deshalb zu, weil sie sich davon Erleichterung versprachen. Ambulante Einzelbetreuung wäre somit ein Kompromiss, der kleinste gemeinsame Nenner oder – das wäre die ungünstigste Variante – die Hilfeform, von der die Beteiligten annehmen, dass sie ihnen am wenigsten Engagement abverlangt. Dies kann auch für den Verhandlungspartner Jugendamt gelten: Ambulante Einzelbetreuung ist wegen der verhältnismäßig geringen Kosten und des geringen internen Begründungsaufwands leichter durchsetzbar als andere Hilfen.
Zielgruppe
Abgesehen von der Betreuungsweisung, die ein spezifisches Angebot für straffällige Jugendliche darstellt, wird ambulante Einzelbetreuung relativ alters- und zielgruppenunspezifisch eingesetzt – bei einer Präferenz für (männliche) Jugendliche.
Auf der Ebene der Hilfeindikation findet also kaum problembezogene Selektion statt. Nach welchen Kriterien die Allgemeinen Sozialdienste eine Abgrenzung der verschiedenen Hilfeangebote leisten ist unbekannt. Wünsche beziehen sich häufig auf persönliche Eigenschaften und Kompetenzen der einzusetzenden Betreuungspersonen wie Geschlecht, Alter oder bestimmte Kompetenzen und Interessen. So ist vor allem ab Vorpubertät eine gleichgeschlechtliche Kombination von Betreuungspersonen und betreuten jungen Menschen üblich. Dies wird damit begründet, dass Betreuerinnen und Betreuer des gleichen Geschlechts eine Vorbildrolle hinsichtlich der Geschlechtsrollenidentität einnehmen und bei sexuellen Fragen als Beraterinnen und Berater fungieren können. Gleichgeschlechtliche Zusammensetzungen gelten in der Beziehungsarbeit als wirksamer und unproblematischer. Auch ein eigener Migrationshintergrund, zum Fall passende spezielle sprachliche oder fachliche Kompetenzen und besondere professionelle Vorerfahrungen spielen häufig bei der Einsatzentscheidung einer bestimmten Person in einem bestimmten Fall eine Rolle. Das Alter der Betreuungsperson und persönliche Charakteristika und Interessen können ausschlaggebend sein. Dass die individuelle „Passung“ von Betreuungsperson und betreutem jungen Mensch die Wirkung der Hilfe erheblich bestimmt, ist in der Fachliteratur unumstritten (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2003, Rätz-Heinisch 2005). Ein Problem stellt aber nach wie vor die mangelnde Greifbarkeit der Faktoren dar, die eine persönliche Passung ermöglichen.
Funktion der Hilfe
Ambulante Einzelbetreuung ist multifunktional. Maßnahmen nach § 30 und § 35 SGB VIII vereinigen Sozialisations-, Bildungs-, Unterstützungs-, Kontroll- und – bei Betreuungsweisungen[42] anstelle strafrechtlicher Sanktionen – auch Resozialisierungsfunktionen. Diese Funktionen sind nicht klar voneinander abzugrenzen.
Der Unterstützungsgedanke steht bei allen Jugendhilfemaßnahmen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz im Vordergrund. Dies beinhaltet Freiwilligkeit und Partizipation bei der Hilfeplanung. Obwohl das Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) den Partizipationsgedanken auch für Minderjährige stärkt, ist er noch nicht befriedigend umgesetzt, weil Minderjährigen nach wie vor kein eigenes Antragsrecht auf Jugendhilfemaßnahmen zukommt (vgl. Urban 2004, Münder 2006, Pluto 2007). Beantragen Eltern eine ambulante Einzelbetreuung „für“ einen jungen Menschen, die von ihm abgelehnt wird, kann die Hilfe aus seiner Sicht als unfreiwillig, erzwungen und gegebenenfalls als Kontrollmaßnahme erscheinen.
Kontroll- und Eingriffsaufgaben gehören vor allem dann zum Pensum ambulanter Einzelbetreuungen, wenn ein Verdacht der Kindeswohlgefährdung aufkommt (s. Kap. Grenzsituationen der Jugendhilfe: Kindeswohlgefährdung).
Sozialisationsaufgaben stehen bei einem familienergänzenden Einsatz an erster Stelle. Dies gilt nicht nur für die Betreuung kleinerer Kindern, sondern kann auch bei Jugendlichen erforderlich sein, die durch Vernachlässigung und Alltagsstrukturprobleme altersentsprechende Kompetenzen nicht erworben haben.
Auch die Vermittlung von Bildungsinhalten kann zum Aufgabenbereich der ambulanten Einzelbetreuung gehören, zum Beispiel, um in der Schule den Anschluss wieder zu ermöglichen.
Diese vielfältigen Funktionen sind in der Praxis nicht zu trennen. Typisch für natürliche soziale Kontexte ist immer eine gewisse Rollen- und Funktionsmischung. Dies gilt auch für die kontroll- und unterstützungsorientierten Anteile der Arbeit. Freiwilligkeit zu Beginn eines Jugendhilfeangebots erhöht möglicherweise die Kooperationsbereitschaft. Aber das Entstehen einer konstruktiven Arbeitsbeziehung wird durch eine Zwangs- und Eingriffsstruktur nicht automatisch verhindert.
Gerade der auf den ersten Blick unproblematische Unterstützungsaspekt einer Jugendhilfemaßnahme kann für Jugendliche, die Wert auf Eigenständigkeit und Unabhängigkeit legen, unakzeptabel erscheinen. Ein junger Mensch kann es als Ausdruck persönlichen Versagens und Bedrohung von Souveränität empfinden, wenn ihm in der Hilfeplanung die Formulierung eines expliziten persönlichen Hilfebedarfs abverlangt wird. So kann es dazu kommen, dass ein eigentlich akzeptiertes und sogar gewünschtes Unterstützungsangebot allein infolge unannehmbarer Formulierungen nicht in Gang kommt oder abgebrochen wird
Intensität
Ambulante Einzelbetreuungen werden überwiegend mit einer wöchentlichen Stundenzahl von durchschnittlich fünf bis sieben Stunden pro Woche durchgeführt. Daraus ergeben sich etwa zwei Kontakte pro Woche. Zusätzlich finden Gespräche mit Eltern, Lehrerinnen und Lehrern und bei Bedarf weiteren institutionellen oder informellen Netzwerkpartnerinnen und -partnern statt. Bei ländlicher Struktur kommen längere Fahrzeiten hinzu und je nach der Organisationsstruktur und dem Abrechnungsmodus des Trägers Teambesprechungen. Die eigentliche Kontaktzeit ist also im Durchschnitt relativ kurz und erlaubt rein zeitlich keine zu enge Beziehung. Die in diesem Rahmen umsetzbaren Kontrollmöglichkeiten sind gering, weil der weitaus umfangreichere Teil des Alltags selbst gestaltet bleibt. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist eine[43] intensivere Betreuung oft gar nicht umsetzbar, weil sie als Einschränkung der persönlichen Freiheit empfunden wird.
Zwischen dem zeitlichen Umfang der Kontakte und der Wirkung der Maßnahme besteht oft kein direkter Zusammenhang. Wichtig für die Wirkung scheint zu sein, dass die jungen Menschen die gemeinsam verbrachte Zeit schätzen und Anregungen durch die Hilfe für ihre persönliche Weiterentwicklung nutzen.
Persönliche Eigenschaften, Haltungen und Kompetenzen, die Einzelbetreuerinnen und Einzelbetreuer brauchen
Die Wirkung, die eine Einzelbetreuung erzielen kann, hängt damit zusammen, ob und wie weitgehend es der Fachkraft gelingt, für den jungen Menschen biografisch relevant zu werden und damit zu einer Person, deren Meinung zählt, die um Rat gefragt und ins Vertrauen gezogen wird, die als Orientierung für das eigene Leben dient und mit deren Einstellungen man sich auseinandersetzt, ja, deren Haltungen man zu übernehmen geneigt ist, der man gefallen und vor deren Urteil man bestehen will. Es gibt einige persönliche Eigenschaften, Haltungen und Kompetenzen, die eine solche Wirkung unterstützen: Glaubwürdigkeit, Authentizität, Sympathie, Anerkennung, Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit, Klarheit, Respekt, Höflichkeit, Interesse, Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme.
Glaubwürdigkeit
Glaubwürdigkeit entsteht einerseits, wenn die Äußerungen eines Menschen in sich widerspruchsfrei und vom Ausdruck her glaubhaft sind, aber vor allem auch dann, wenn dieser Mensch für das, was er äußert, mit seinen Taten einsteht. Handelt ein Mensch deutlich sichtbar im Sinne seiner Einstellungen, gewinnt er an Glaubwürdigkeit und Autorität für andere und wird für sie überzeugend. Bei den eigenen Eltern und bei anderen pädagogisch Einfluss nehmenden Personen orientieren sich junge Menschen oft mehr am handelnden Beispiel als an ausdrücklichen Belehrungen und nehmen Widersprüche deutlich war.
Authentizität
Carl Rogers, der Begründer der Klientzentrierten Gesprächsführung, bezeichnete Kongruenz, die emotionale Echtheit und Transparenz des Therapeuten, als eines der drei wichtigsten Wirkungsmechanismen in der Therapie (die anderen beiden sind Akzeptanz und Empathie – s.u., vgl. Rogers 19813). Kongruent bzw. authentisch sein bedeutet seine eigenen Gefühle nicht zu verbergen, sondern sie im Umgang mit den Adressatinnen und Adressaten zu zeigen und zu thematisieren. Gemeint ist ein ehrliches, akzeptierendes, reflektiertes und ruhiges Umgehen mit den eigenen Gedanken und Gefühlen wie mit denen der Interaktionspartner.
[44]Sympathie
In seiner Studie über ambulante Einzelbetreuung verweist Fröhlich-Gildhoff darauf (2003), wie wichtig betreute junge Menschen die persönliche Sympathie zur Betreuungsperson und das Vorhandensein gemeinsamer Interessen nehmen. Gegenseitige Sympathie bildet offenbar die unverzichtbare emotionale Basis der Betreuung.
Anerkennung
Nach einer Erkenntnis von Klaus Wolf (2001) zeichneten sich Familienhelferinnen, denen es gelang ihre Adressatinnen und Adressaten wirksam zu Verhaltensänderungen anzuregen, dadurch aus, dass sie deren Kompetenzen aufspürten, diese hervorhoben, anerkannten und sie ermutigten, diese zu erproben und zu entwickeln. Übertragen auf die ambulante Einzelbetreuung bedeutet das, dass die jungen Menschen zur selbst verantworteten Entwicklung ermutigt werden müssen. Dies geschieht durch ein realistisches Erkennen und der Anerkennung dessen, wer sie sind, wozu sie fähig sind und wohin sie sich entwickeln könnten.
Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit, Klarheit
Bemüht sich die Betreuungsperson ehrlich um berechenbares und voraussehbares Verhalten, ist dies für die Adressatinnen und Adressaten ein wichtiger Faktor, um die Hilfe annehmen zu können. Ein alltagsnahes Jugendhilfeangebot beinhaltet immer eine Grenzüberschreitung, die dann akzeptabler wird, wenn sie nach transparenten Regeln stattfindet. Ebenso wenn das Hilfeangebot zuverlässig erbracht wird. Der informelle Kontext der ambulanten Einzelbetreuung kann Betreuungspersonen mangels Kontrolle und Rahmen zum nachlässigen Umgang mit Strukturen und Grenzen verführen. Regelmäßige und zuverlässige Termine, Pünktlichkeit im Rahmen des Möglichen, das Ankündigen und die Absprache von Änderungen und das Einhalten von Plänen von Seiten der Betreuungspersonen sollten selbstverständlich sein. Je klarer und offenbarer die Umgangsregeln der Maßnahme, desto geschützter sind die Integrität und die Partizipationsmöglichkeiten der Adressatinnen und Adressaten. Ambulante Einzelbetreuer sollten sich zum Sachwalter von Klarheit, Transparenz und Zuverlässigkeit der Maßnahme machen vor einem Lebenshintergrund, der diese Merkmale oft vermissen lässt.
Respekt, Höflichkeit
Von Herzen kommendes respektvolles und höfliches Verhalten ist nicht nur ein unübertroffener Türöffner, es ist ebenfalls Garant eines partizipativen, gewaltfreien Umgangs miteinander und wirkt auch in extrem hoch gekochten Situationen deeskalierend bzw. die Eskalationen verlangsamend, wenn nicht gar sie verhindernd. Darüber hinaus regt respektvolles Verhalten zur Nachahmung an.
[45]Interesse
Rogers (19813) Begriff der Empathie setzt sich aus einem echten Interesse am Gegenüber, dem Wunsch sie oder ihn zu verstehen, und der Fähigkeit der Perspektivenübernahme zusammen (s.u.). Interesse am anderen mobilisiert in der professionellen Fachkraft Engagement und Energie. Dadurch wird sie in die Lage versetzt, dem widerständigsten Problem länger auf der Spur zu bleiben als die Adressatin oder der Adressat selbst, die oder der zwar das Problem hat, aber vorzeitig an der Lösungsarbeit ermüdet. Ambulante Einzelbetreuerinnen und Einzelbetreuer brauchen Durchhaltevermögen, Geduld und ausreichend Energie, den Dingen auf den Grund zu gehen. Diese Energie wirkt auf die betreuten jungen Menschen ermutigend. Interesse und Neugier sind starke und nachhaltige Impulsgeber für die Betreuungsbeziehung, weil das Suchen nach Lösungen – beinahe mehr als das Finden von Lösungen – von Entdeckerfreude und Glück begleitet ist.
Einfühlungsvermögen, Perspektivenübernahme
Sich in die Perspektive eines anderen zu versetzen, sich wortwörtlich in die Schuhe einer anderen Person zu stellen – to put yourself in somebody’s shoes – ist eine anspruchsvolle kognitive Leistung, die nicht allen Menschen gleichermaßen gegeben ist, aber systematisch geübt werden kann. Ein Schritt dabei ist, nichts, was man verstanden zu haben meint, für sicher zu halten und alles, was gehört und beobachtet wird, zu überprüfen. Das Bemühen darum, sich die Perspektive des anderen zu erarbeiten und deshalb im Zweifel immer wieder nachzufragen, wie etwas gemeint war, wirkt glaubwürdig und vertrauensbildend, weil die Adressatinnen und Adressaten damit die Deutungshoheit darüber behalten, wie sie wirken und wahrgenommen werden.
Partner und Akteur: der junge Mensch
Drei authentische Beispielfälle für ambulante Einzelbetreuungen zeigten unterschiedliche Ausgangslagen:
Die 17- jährigen Zwillinge Dennis und Christian schwänzten seit einiger Zeit die Schule und verbrachten ihre Zeit ausschließlich mit Computerspielen. Julia war in der Schule durch ihr stilles Verhalten im letzten halben Jahr aufgefallen. Dies stand möglicherweise mit einer Ehekrise von Julias Eltern in Zusammenhang. Rina war sehr dünn und wegen ihres starken Untergewichts schon mehrmals in der Klinik gewesen. Sie nahm dort zu, aber ihr erreichtes Gewicht ließ sich jeweils nicht halten, nachdem sie nach Hause zurück gekehrt war. Aus Sicht der meldenden Ärztin hatte Rinas Untergewicht inzwischen lebensbedrohliche Züge angenommen.
Bei allen drei Fällen war der Zugang zum Jugendamt unterschiedlich gewesen: Bei den Zwillingen hatten die Eltern um Beratung gebeten, bei Julia hatte die Lehrerin angerufen und bei Rina ihre Ärztin. In keinem Fall war es der junge Mensch selbst, der beim Jugendamt um Beratung ersucht hatten. Bisher – dies hat sich auch nach der Umformulierung des § 8 SGB VIII durch das Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) im Januar [46]2012 nicht geändert22 – haben Minderjährige nur im Ausnahmefall das Recht, eine Beratung durch das Jugendamt ohne ihre Eltern in Anspruch zu nehmen.
Unabhängig vom Zugang und der Ausgangsproblematik werden die Hilfeangebote des Jugendamts durch das Verfahren der Hilfeplanung gesteuert, das alle Betroffenen, auch die jungen Menschen, an der Beratung, der Festlegung der Hilfe und der Interventionsplanung beteiligen soll. In der Praxis der Beratungs- und Erstgespräche tragen in der Regel die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialdienstes des Jugendamtes (ASD) zusammen mit den jungen Menschen und ihren Eltern die vorläufigen Ziele und Aufgaben für die zukünftige Jugendhilfemaßnahme zusammen.
In den Gesprächsprotokollen der oben genannten drei Fälle wurde unter der Überschrift „Was braucht der junge Mensch (notwendige Veränderungen)? Welche Ziele sollen mit der Hilfe erreicht werden?“ unter anderem Folgendes protokolliert:
„Christian und Dennis brauchen Stabilität und Konsequenz in der Erziehungshaltung. Es soll ein regelmäßiger Schulbesuch erreicht werden. Voraussetzung dazu ist die Erarbeitung einer Alltagsstruktur und ein Wiedererlangen des normalen Tag- Nacht- Rhythmus. Der ambulante Einzelbetreuer sollte den Zwillingen sinnvolle Möglichkeiten der Freizeitgestaltung vorstellen und sie ermutigen, sich sportlich zu betätigen, Kontakte zu knüpfen und sich ggf. in einem Verein zu engagieren.“
„Julia braucht eine ruhige und verlässliche Kommunikationspartnerin, der sie sich anvertrauen kann und an deren Seite sie mittelfristig lernt, sich zu öffnen und auf andere zuzugehen. Zunächst sollte die Einzelbetreuung hauptsächlich im Eins- zu- eins- Kontakt stattfinden. Da Julia in der Schule in ihren Leistungen zurückgefallen ist, sollte die Begleitung der Hausaufgaben mit zu den Aufgaben der Einzelbetreuerin gehören. Julia möchte gerne reiten lernen und wünscht sich, dass die Einzelbetreuerin ihr hilft, einen Verein zu finden, und sie anfänglich dorthin begleitet.“
„Rina soll vor allen Dingen an Gewicht zunehmen und in der Schule wieder Anschluss gewinnen. Die Einzelbetreuerin soll mit ihr eine gesunde Ernährung erarbeiten und mit ihr darauf achten, dass sie sie umsetzt. Die Jugendhilfemaßnahme soll darüber hinaus Rinas Eltern bei der Gesundheitsfürsorge unterstützen, nach Bedarf Rina zum Arzt begleiten und den Eltern vermitteln, was für Rinas Entwicklung und Förderung notwendig ist. Eine ständige Gewichtskontrolle Rinas ist erforderlich. Zu diesem Zweck soll engmaschig mit ihrer Ärztin kooperiert werden. Rina braucht Zuhause die Möglichkeit sich zurück zu ziehen und zum Beispiel in Ruhe ihre Hausaufgaben zu machen. Hierfür sollte die ambulante Einzelbetreuerin in Kooperation mit der Familie die Bedingungen schaffen.“
Auffällig an diesen Protokolltexten ist, dass sie einen starken Erwartungsgestus und zahlreiche Soll-Formulierungen in Bezug auf den jungen Menschen zeigen. Dessen Perspektive scheint gegenüber den Perspektiven der anderen Akteure nachgeordnet zu sein.
Es kommt leider nicht selten vor, dass in Hilfeplanprotokollen, Aufträgen und Zielformulierungen der ambulanten Einzelbetreuung und anderer Jugendhilfeangebote die betreuten jungen Menschen nicht als Subjekte betrachtet und angesprochen, sondern mit Forderungen der Eltern, Anpassungswünschen des Bildungssystems und gesellschaftlichen Ansprüchen auf Normerfüllung konfrontiert werden, hinter denen ihre eigenen [47]Vorstellungen, Planungen und Ziele unformuliert bleiben. Weder im Protokolltext zu den Zwillingen noch in dem zu Rina wird die Perspektive der jungen Menschen berücksichtigt. Auch wenn in Rinas Text anscheinend ihre Interessen formuliert werden, wird doch nur der gesellschaftliche Standard eines eigenen für die Anfertigung von Hausaufgaben angemessen ausgestatteten Zimmers mit ihren Bedürfnissen gleich gesetzt. Nur im Text, der sich auf die kleine Julia bezieht, kommen deren Wünsche als eigenständiger Auftrag an die Einzelbetreuung vor.
Wird die ambulante Einzelbetreuung zum Agenten der Interessen und Aufträge anderer Personen und Institutionen, kann dies die Möglichkeit verstellen, Ansatzpunkte, Motivation und Ziele beim jungen Menschen und seiner Perspektive zu finden. Einzelbetreuerinnen und Einzelbetreuer werden zum reinen Transporteur der Anforderungen Dritter an ein als passiv aufgefasstes Erziehungsobjekt.
Dies ist dann besonders heikel, wenn die Problemursache gar nicht beim jungen Menschen liegt. Nach den empirischen Daten der Kinder- und Jugendhilfestatistik werden nur etwa bei einem Drittel aller Jugendhilfemaßnahmen und bei weniger als der Hälfte der ambulanten Einzelbetreuungen die Gründe für die Beantragung der Hilfe in den Problemen des jungen Menschen gesehen. Dies können Verhaltensauffälligkeiten, eine von der Norm abweichende Entwicklung, schulische Schwierigkeiten oder Probleme bei der Ausbildung sein. Bei den übrigen zwei Dritteln aller Jugendhilfemaßnahmen und mehr als der Hälfte aller Einzelbetreuungen kommen elternbezogene Defizite als Hilfeanlass in Betracht: Junge Menschen werden durch die konfliktbeladene häusliche Situation, durch die Sucht der Eltern oder deren psychische Erkrankung, durch Erziehungsdefizite oder durch den Ausfall von Bezugspersonen infolge von Krankheit, Tod oder unbegleitete Einreise in ihrer Entwicklung beeinträchtigt und sogar gefährdet.23 Während bei den kindbezogenen Hilfeanlässen familienunterstützende Maßnahmen sinnvoll sind, wirkt Jugendhilfe bei den elternbezogenen Hilfeanlässen hauptsächlich familienergänzend: in Ersatzfunktion für eine ausgefallene oder disfunktionale elterliche Sozialisation und Erziehung. Trotzdem setzt – anders als bei der sozialpädagogischen Familienhilfe, bei der alle Beteiligten in ihrer Eigenverantwortung angesprochen werden – die ambulante Einzelbetreuung nicht auf eine direkte Einflussnahme bei den Eltern, sondern versucht eine elternunabhängige Förderung und Unterstützung des jungen Menschen unter Erhalt der familiären Strukturen. Den jungen Menschen wird die hauptsächliche Veränderungsverantwortung angelastet, ohne dass sie als Subjekte der Hilfe angemessen positioniert würden.
Neben diesem Widerspruch zwischen Veränderungsverantwortung und mangelndem Subjektstatus ist die methodische Position der ambulanten Einzelbetreuung auch deshalb unbefriedigend, weil die Problemursachen, die bei den Eltern liegen, im Konzept der Hilfe nicht ausreichend bedacht sind. Während die sozialpädagogische Familienhilfe sich methodisch eindeutig im systemischen Denken verorten konnte, alle Akteure zur Mitarbeit verpflichtet und eine vermittelnde, überparteiliche Einstellung einnimmt, bleibt die ambulante Einzelbetreuung auf den jungen Menschen fixiert.
Wenn der Veränderungsimpuls und die alleinige Verantwortung zur Problemlösung beim jungen Menschen angesiedelt ist, beinhaltet dies eine grundsätzliche Überforderung und kann als ungünstigen Nebeneffekt bewirken, dass Eltern vorschnell aus ihrer Verantwortung für die Problemlösung entlassen werden. Veränderung ist aber häufig nur als Entwicklung der ganzen Familie denkbar. Dies gilt besonders für Kinder, aber auch für [48]Jugendliche und sogar für junge Erwachsene, die meist auf ihre Herkunftsfamilien bezogen bleiben, selbst wenn der Kontakt nur selten stattfindet.
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz gesteht Kindern und Jugendlichen eine aktive Rolle im Prozess der Hilfeplanung zu. Doch dies wird bisher nicht umfassend umgesetzt (vgl. Pluto 2007). Die übergeordnete Aufgabe der ambulanten Einzelbetreuung wie jeder Jugendhilfemaßnahme besteht in der Ermöglichung von Partizipation und gesellschaftlicher Teilhabe des jungen Menschen. Dies bedeutet:
■ Die Einzelbetreuerin und der Einzelbetreuer sind angehalten die Partizipation des betreuten jungen Menschen in der Hilfeplanung so weitgehend wie möglich zu unterstützen (§ 8 und § 36 SGB VIII). Dies geschieht, indem die dazu notwendigen sozialen und Kommunikationskompetenzen angeeignet, die Reflexion, Formulierung und angemessene Durchsetzung der eigenen Interessen geübt, gemeinsam Planungs-, Verhandlungs- und Lösungsstrategien in der Auseinandersetzung mit anderen praktiziert werden und der Umgang mit Behörden und Institutionen trainiert wird. Die Jugendhilfemaßnahme und der sie begleitende Hilfeplanungsprozess ist selbst ein wesentliches Übungsfeld für die Haltungen und Kompetenzen, die gesellschaftliche Teilhabe und die Übernahme einer aktiven und verantwortungsvollen Rolle im Gemeinwesen ermöglichen. Dies kann nicht in Form von Anordnungen geschehen, sondern der Hilfeplanungs- und Hilfegestaltungsprozess als solcher muss von den Fachkräften so entworfen und umgesetzt werden, dass dem jungen Menschen die Vorteile eines kooperativen und demokratischen Verhaltens überzeugend erscheinen.
■ Die ambulante Einzelbetreuung beinhaltet gleichfalls die Aufgabe, eine demokratische Aushandlungspraxis in den betreuten Familien ausdrücklich zu unterstützen, die dazu notwendigen Haltungen und Kompetenzen bei allen Beteiligten zu fördern, auf eine demokratisch-partizipative Erziehung zu drängen und die dazu notwendigen Methoden zu vermitteln. Dies betrifft unmittelbar das gelebte Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Über den advokatorisch-parteilichen Auftrag gegenüber dem betreuten jungen Menschen hinaus folgt aus dieser Vorgabe, dass nicht seine Interessenvertretung um jeden Preis, sondern lösungsorientierte und auf Aushandlung und Ausgleich von Interessengegensätzen ausgerichtete kooperative Kommunikationsstrategien im Vordergrund der Maßnahme stehen müssen.
■ Bildungsinstitutionen sind nicht nur Einrichtungen sozialer Auslese, sondern sie können – und sollen zunehmend – als Ermöglichungsinstitutionen für individuelle Entwicklung und die Erschließung gesellschaftlicher Teilhabe für bildungsferne und benachteiligte junge Menschen nutzbar werden. Der Auftrag der Jugendhilfe und damit auch der Einzelbetreuung besteht also nicht in der Reproduktion des Anforderungsdrucks, den Schulen und Ausbildungsinstitutionen immer noch überwiegend hervorbringen, sondern in einer Umgestaltung des Bildungssystems in einen zugänglichen Raum für Handlungsmöglichkeiten, Gemeinschaftsgefühl, das Erleben von Sinn und das Entwickeln und Ausleben persönlicher Perspektiven.
Nicht zuletzt gehört zu den übergeordneten Aufgaben der Jugendhilfe, dem jungen Menschen die menschliche Gesellschaft als Horizont zur Verwirklichung individueller Möglichkeiten zugänglich zu machen. Mobilität muss gelernt, soziale und kulturelle Schwellen müssen abgebaut, kulturelle, musische und sportliche Betätigung geübt, Interesse an der natürlichen und sozialen Umwelt gepflegt und insgesamt eine angemessene und aktive Aneignung gesellschaftlicher Wirklichkeit praktiziert werden. Die Ächtung von gewalttätigen, andere schädigenden Strategien, eine respektvolle und[49] tolerante Haltung gegenüber anders Denkenden und Fühlenden und die Anerkennung der grundsätzlichen Gleichberechtigung aller Menschen ist unverzichtbarer Teil des Jugendhilfeauftrags.
Tabelle 3: Gesetzliche Orientierungen im Überblick
Paragrafen | Orientierungen |
§ 30 SGB VIII Erziehungsbeistandschaft, Betreuungsweisung | Verselbstständigung und Autonomie fördern |
Bewältigung von Entwicklungsproblemen unterstützen | |
Lebensweltorientierung | |
Erhalt des Lebensbezugs zur Familie | |
§ 35 SGB VIII Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung | soziale Integration unterstützen |
Autonomie fördern | |
AdressatInnenorientierung (Orientierung an den individuellen Bedürfnissen des jungen Menschen) | |
§ 5 SGB VIII Wunsch- und Wahlrecht | AdressatInnenorientierung |
§ 8 SGB VIII Beteiligung des jungen Menschen | Partizipation des jungen Menschen fördern |
§ 16 SGB VIII Allgemeine Förderung der Erziehung in der Familie | Gewaltfreiheit fördern |
§ 36 GB VIII Mitwirkung, Hilfeplan | Partizipation der Eltern und des jungen Menschen fördern |
§ 6 GG, KKG | Förderung der Familie |
§ 1631 BGB | Recht auf gewaltfreie Erziehung |
§ 1666 BGB, KKG | Kinderschutz, staatliches Wächteramt |
Quelle: Eigene Darstellung
Hilfe am Limit
Als Voraussetzung für die Hilfegewährung einer Jugendhilfeleistung nennt das Kinder- und Jugendhilfegesetz unter anderem die Geeignetheit und Notwendigkeit des jeweiligen Hilfeangebots (§ 27 SGB VIII). Obwohl dieses Kriterium im KJHG prominent platziert ist, sind die Grenzen der Hilfeangebote selten Thema der Fachdiskussionen. Aufgrund der jeweils spezifischen Rahmenbedingungen und Methoden sind nicht alle Hilfearten für die Bearbeitung aller Problematiken gleichermaßen geeignet. Bei welchen Problematiken gerät eine Hilfeart an ihre Grenzen? Wann also eignet sich eine Hilfe wie die ambulante Einzelbetreuung nach fachlichem Ermessen nicht für eine [50]Problembearbeitung und wann sollte sie durch ein anderes, geeigneteres Angebot ersetzt oder ergänzt werden?
Auch wenn die ambulante Einzelbetreuung ein außerordentlich flexibles Hilfeangebot ist, das aufgrund der geringen Strukturiertheit prinzipiell an beinahe jeden lebensweltlichen Kontext angepasst werden kann, entfaltet sie ihre Wirkung doch nur innerhalb der Grenzen ihres Betreuungssettings und ihren an zugehender, lebensweltorientierter Arbeit ausgerichteten Rahmenbedingungen.
Sozialkompetenzprobleme und Verhaltensauffälligkeiten junger Menschen stellen Problematiken dar, die häufig Hilfeanlass für eine ambulante Einzelbetreuung werden. Sozialer Rückzug und Isolation, unangemessenes Verhalten gegenüber anderen bis zur Übergriffigkeit und Aggressivität, Unruhe und Opposition in der Schule und allgemeine Schwierigkeiten bei der Kommunikation mit Gleichaltrigen gehören dazu. Soziales Lernen lässt sich aber in einem Eins-zu-eins-Kontakt nur eingeschränkt einüben, vor allem, wenn sich die sozialen Probleme des jungen Menschen in der Hauptsache auf Gleichaltrige oder einen speziellen Kontext wie die Schule beziehen. Zwar kann die Einzelbetreuung einen Reflexionsrahmen für die problematischen Verhaltensweisen des jungen Menschen und die theoretische Entwicklung alternativer Strategien bieten, aber um die Praxis im natürlichen Umfeld zu üben sind Gruppenkontexte notwendig, die denen ähneln, in denen die sozialen Schwierigkeiten der betroffenen Adressatinnen und Adressaten normalerweise auftreten.
So werden bei einer gut funktionierenden Betreuungsbeziehung im Eins-zu-eins-Setting Aggression, Impulsdurchbrüche, Unkonzentriertheit und massive Ängste, die junge Menschen in anderen Kontexten zeigen, nur eingeschränkt oder gar nicht auftreten. Auch das begleitete Aufsuchen von Gruppenkonstellationen verhilft nicht unbedingt zu sozialem Lernen, denn die Anwesenheit der betreuenden Fachkraft und das berechtigte Vertrauen des jungen Menschen darauf, dass diese auftretende Schwierigkeiten lösen werden, mindert den empfundenen Stress und führt damit zu einer Verminderung des Lernanreizes und der persönlichen Lösungsverantwortung.
Grundsätzlich ist die sozialpädagogische Bearbeitung von sozialen Kompetenzdefiziten, die vor allem in Gruppensituationen auftreten, nur im Gruppenkontext möglich. Um diesen Nachteil auszugleichen, wurden in den letzten Jahren flexible Hilfen entwickelt, bei denen dynamische Kombinationen aus Einzel- und Gruppenbetreuung möglich sind und bei denen in einem Stufenmodell auf eine zunehmende Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit des sozialen Handelns auch unter herausfordernden Bedingungen hin gearbeitet werden kann (s. Kap. Kombinations- und Gruppenangebote).
Bei ernsthaften Alltagsstrukturproblemen, massiver Schulverweigerung oder manifesten Essstörungen gelangt ambulante Einzelbetreuung ebenfalls schnell methodisch an ihre Grenzen. Diese sehr unterschiedlichen Problematiken haben gemeinsam, dass ihre Bearbeitung eine starke, konsequente und den gesamten Alltag umfassende Strukturierung verlangt, die familiäre Lebenswelt diese aber nicht bietet und die jungen Menschen eigenverantwortlich noch nicht dazu in der Lage sind. Nur wenn die Familie ein Mindestmaß an Mitarbeitsbereitschaft und Konsequenz in der Umsetzung zeigt, kann die Bewältigung dieser Probleme mit Hilfe ambulanter Jugendhilfe gelingen. Der Versuch, mit dem jungen Menschen – unabhängig vom familiären Umfeld und quasi gegen seine Einflüsse anarbeitend – eine gelingende Alltagsstruktur zu installieren, den Schulbesuch und seine alltagsstrukturellen Voraussetzungen zu gewährleisten oder ein verändertes Essverhalten umzusetzen, ist ein praktisch aussichtsloses Unterfangen. Es kann vorkommen, dass Eltern verbal die Ziele und Maßnahmen der Einzelbetreuung unterstützen, die erforderlichen Umsetzungsschritte aber nicht durchführen oder die Maßnahme sogar[51] unterlaufen. Aufgrund der zeitlich relativ geringen Präsenz der Fachkraft in der Lebenswelt des betreuten jungen Menschen bleibt der Einfluss der Eltern und der Familie gegenüber dem schwächeren Jugendhilfeeinfluss dominant. Die Wirksamkeit der Maßnahme ist folglich von einer kooperativen Einstellung und einem zuverlässig kooperativen Handeln der Familie abhängig.
Wenn also erkennbar wird, dass die Familie und die ambulante Einzelbetreuung hinsichtlich der Handlungsstrategien und Ziele der Maßnahme auf keinen gemeinsamen Nenner kommen, muss die Hilfeplanung grundsätzlich überdacht werden. Ambulante Einzelbetreuung kann unter diesen Bedingungen nicht zielführend wirken.
Sucht, Gewalt und Delinquenz sind im ambulanten Setting gleichfalls kaum erfolgreich umfassend zu bearbeiten, wenn die Problematik so schwerwiegend ist, dass umfassende Kontrolle und Unterstützung durch einen strukturierten Rahmen notwendig werden. Innerhalb der ambulanten Einzelbetreuung ist umfassende Kontrolle nicht umsetzbar. Punktuelle Überprüfungen von Verabredungen bezüglich des Schulbesuchs, des Wohnungszustands oder der Cannabisabstinenz sind allerdings ohne Weiteres mit dem ambulanten Unterstützungsauftrag vereinbar. Auch schließen sich eine vertrauensvolle Beziehungsarbeit und Kontrolle nicht automatisch gegenseitig aus.
Eher selten wird ambulante Einzelbetreuung in Fällen mit nachgewiesener oder vermuteter Kindeswohlgefährdung eingesetzt. Dies geschieht manchmal, weil keine ausreichenden gerichtlich verwertbaren Anhaltspunkte vorliegen und die Eltern einer weiter gehenden Jugendhilfemaßnahme nicht zustimmen. Diese Maßnahmen beinhalten einen impliziten Kontrollauftrag und sind für die durchführenden Betreuungspersonen außerordentlich belastend. Die Sicherung des Kindeswohls kann auf diese Weise nicht garantiert werden. Wird der Verdacht auf Kindeswohlgefährdung ernsthaft erwogen, sollte bei zweifelhafter Kooperationsbereitschaft der Eltern und fehlenden Kontrollmöglichkeiten der Gang zum Familiengericht nicht gescheut werden.
Abschließend muss noch auf die mangelnde Mitwirkungsbereitschaft junger Menschen als wirkungsbegrenzender Faktor der ambulanten Einzelbetreuung eingegangen werden. Tatsächlich lassen sich Erfolge mit dieser Hilfeart nur erzielen, wenn sich auf die Dauer eine gemeinsame Arbeitsbasis zwischen der betreuenden Person und dem betreuten jungen Menschen erarbeiten lässt. Das ist nicht immer gegeben. Äußern Adressatinnen und Adressaten wiederholt ihre mangelnde Bereitschaft, sich auf die Maßnahme einzulassen und aktiv mitzuarbeiten, und spiegelt sich diese Haltung dauerhaft in ihren Handlungen, sei es, dass sie Termine nicht einhalten oder das Gespräch verweigern, ist ein Erfolg der Maßnahme kaum zu erreichen.
Handelt es sich bei der ambulanten Einzelbetreuung um eine Jugendhilfemaßnahme für junge Erwachsene nach § 41 SGB VIII, sollte die Gewährung der Maßnahme an eine aktive Mitverantwortung und Mitwirkung des oder der jungen Erwachsenen gebunden sein.
14 Informationen zur Entstehung und Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfestatistik: Schilling 2002.
15 Weitere Internetquellen befinden sich im Anhang.
16 Sämtliche Daten im folgenden Text – soweit nicht anders angegeben – sind der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik in der zur Zeit der Entstehung dieses Buches aktuellsten Fassung entnommen.
17 Schone und Schrapper propagierten schon 1988, dass ambulante Hilfen stationäre ersetzen könnten (Schone, Schrapper 1988: 53).
18 Entsprechend den Tabellen der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt) sind die durchschnittlichen Arbeitskosten eines Büroarbeitsplatzes in der Entgeltgruppe S11 (Sozialpädagoge/ Sozialarbeiter) in den letzten Jahren gesunken und liegen aktuell bei kaum über 40 €. Dies ist u.a. durch die Gehaltseinschnitte bei der Einführung des TvöD und die geringen Zuwächse und die unübersichtliche Entgeltdifferenzierung bei den letzten Tarifrunden verursacht.
19 Wichtig ist hier die Arbeit von Klaus Wolf an der Universität Siegen. Beispielhafte Untersuchungen zur Familienhilfe: Petko 2004, Schrödter, Ziegler 2007.
20 S. auch Fröhlich-Gildhoff 2002.
21 Schmidt, Schneider, Hohm, Pickartz, Macsenaere, Petermann, Flosdorf, Hölzl, Knab: 2002, 39.
22 Die neue Formulierung in § 8 SGB VIII Abs. 3 lautet: „Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf Beratung ohne Kenntnis des Personensorgeberechtigten, wenn die Beratung auf Grund einer Not- und Konfliktlage erforderlich ist und solange durch die Mitteilung an den Personensorgeberechtigten der Beratungszweck vereitelt würde.“ Die Kann-Bestimmung im Kinder- und Jugendgesetz wurde in eine Verpflichtung umgewandelt, die aber immer noch eng an die als primär angesehene Beratung der Eltern gebunden ist.
23 Daten von 2009 der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik, www.destatis.de.