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1 - Unruhe

Diesen Tag im Februar würde Ulla nie vergessen.

KH und sie hatten lange geschlafen an diesem zehnten Morgen nach ihrer Pensionierung. Nach einem ausgiebigen Frühstück hatte sie ein wenig Hausarbeit erledigt und war dann zum Bummeln und Einkaufen gefahren.

Als sie mit Körben beladen zurückkehrte, hatte KH sie zärtlich geküsst.

„Schön, dass ich dich schon um vier Uhr zu Hause habe“, hatte er gesagt und war sofort wieder hinter seinem PC im Arbeitszimmer verschwunden.Während sie die Einkäufe verstaute, versuchte sie, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Schließlich sollte er merken, dass sie anwesend war.

„Was gibt’s bei dir Neues?“

„Nichts, nur diese leidigen Anrufe.“

Sie kannte seine Klagen über „Dummenfang bei Rentnern“: angeblicher Gewinn in der Klassenlotterie, angeblich nicht bezahlte Internet-Rechnungen, angeblich getätigte Be-stellungen.

„Heute war jemand besonders hartnäckig. Er hat es wieder und wieder versucht. Mit dem umgekehrten Enkeltrick.“

„Was ist das denn – umgekehrter Enkeltrick?“

Neugierig stellte sie sich neben seinen Schreibtisch und faltete einen Einkaufsbeutel zusammen.

„Nun ja, ein sogenannter Manuel wollte dich sprechen. Im Auftrag deiner Mutter. Sie läge auf Malle im Krankenhaus. Natürlich sollst du Geld überweisen. Das hat er zwar noch nicht gesagt, aber darauf läuft es doch hinaus“. KH als eifriger Zeitungsleser kannte die Betrugsversuche an Senioren.

„Wer wollte mich sprechen?“

Die schrille Betonung des ersten Wortes und der Ton ihrer Stimme irritierten ihn.

„Ein Manuel. Wegen Mama auf Malle.“

KH sah die plötzliche Blässe in ihrem Gesicht und bemerkte, wie sie mit zitternder Hand nach dem Telefon tastete.

„Du meinst doch nicht etwa …? Liebes! Das ist doch nicht echt! Mama ist doch kerngesund!“

***

Viereinhalb Stunden später befand sich Ulla dank der Professionalität von Frau Bachlhubers Reiseboutique über den Alpen. Jedenfalls behauptete dies der Flugkapitän in seiner Zwischeninformation.

Sie sah nichts, sondern nagte an ihrem pappigen Käsebrötchen, eingequetscht zwischen zwei Mitreisenden. Zum hundertsten Mal versuchte sie, ihre Gedanken zu sortieren.

Frau Bachlhuber hatte ihr das letzte Ticket für diesen Flug besorgt und ohne Umstände eine Umbuchung vorgenommen. Genau dies hatte sie schon einmal vor vier Wochen getan, als Mama sich spontan entschlossen hatte, der Einladung ihrer angeheirateten Cousine zu folgen und vor dem gebuchten gemeinsamen Termin nach Palma zu fliegen. KH würde übermorgen wie geplant nachkommen.

Eigentlich war diese Reise zu dritt ein Weihnachtsgeschenk.

„Blüten gucken auf Malle“, hatte Mama im November auf die Frage nach einem Weihnachtswunsch geäußert. „Mandelblüte. Das kann man im Februar. Dann bist du in Pension und KH hat sowieso Zeit.“

Also lagen unter dem Weihnachtsbaum Tickets für die Flüge und zwei nette Hotelzimmer.

Aber nach Silvester hatte ETA bei Mama angerufen. Ihre Tochter Jenny werde im März eine Seniorenresidenz in Port d’Alcudia eröffnen. Sie könnten jetzt schon kostenlos probewohnen – als Test für eventuell notwendige Verbesserungen.

Warum nicht? Mama war rüstig und kam überall zurecht, wieso sollte sie nicht vorausfliegen?

Ulla hatte Bedenken.

„Du kennst ETA doch gar nicht mehr richtig. Und wie du sie immer beschreibst, hat sie sicherlich irgendeinen Hintergedanken.“

Ja klar, Mama sah das auch so. ETA würde Gegenleistungen erwarten. Aber was sollte das schon sein?

„Vielleicht, dass ich sie nett unterhalte. Oder ihr mal ein Fläschchen besorge. Oder zwischen ihr und Jenny vermittele.“

Also brach Mama auf.

Die regelmäßigen Telefonate zeigten Begeisterung über die Schönheit der Landschaft, das gute Wetter und „die netten Leute“.

Über ETA, Jenny und ETAs Söhne, Elmar und Manuel, die irgendwo auf Mallorca ein Restaurant betrieben, fielen Mamas Berichte deutlich knapper aus. Doch sie war munter und gesund.

Aber dann der Anruf heute.

Als Ulla endlich Manuel an der Strippe hatte, murmelte er nur etwas von „ernster Zustand“, „bewusstlos“ und „Unfall“. Falls irgend möglich, solle Ulla am besten sofort kommen.

Es folgten zwei hektische Stunden.

Am schwersten fiel der Abschied von KH.

„Übermorgen sehen wir uns wieder“, versuchte sie ihn zu trösten.

Seine lieben Augen blickten traurig und sie wusste, dass er sich todunglücklich fühlte.

Von jetzt an würde er unter Dauerangst leiden.

„Pass auf dich auf, Liebes!“

Sie versprach es immer wieder.

Noch vom Gate aus hatte sie ihm unzählige telefonische Anweisungen gegeben, nur damit er nicht ins Grübeln kam und sich die nächsten zwei Tage beschäftigte.

Sie versuchte, sich zu beruhigen und ein bisschen zu schlafen. Die Nacht würde lang werden. Doch ihre Gedanken kreisten.

Was wusste sie eigentlich?

ETA war eine Cousine ihres Vaters. Sie hatte nach dem Krieg einen britischen Ex-Major – Uncle Ed – geheiratet und hieß eigentlich Elvira. Weil sie „Tante Elvira“ als altmodisch empfand, hatte sie ETA erfunden.

„Ganz einfach – ElviraTAnte!“, hatte sie der kleinen Ulla erklärt, die hingerissen war von dieser Idee und dem Glamour, den ETAs Besuche in das verschlafene nordhessische Dorf brachten. Schicke Kleider, platinblonde Dauerwellen, hochhackige Stöckelschuhe und Onkel Eds Sportwagen!

Ulla hatte „Uncle Ed“ sehr gemocht; er war immer gut gelaunt, kümmerte sich um die Kinder und zeigte sich freigiebig. Sein Tod vor ein paar Jahren hatte ihr leidgetan, aber damals hatte sie die Familie schon längst aus den Augen verloren.

Eine schöne Kindheitserinnerung – ja, das war die Familie Gordon. Jenny, Manuel und Elmar waren jünger als sie. Sie hatten sich als Urlaubs-Spielkameraden gut geeignet – mehr nicht.

Oder?

Irgendetwas in ihrem Unterbewusstsein meldete sich.

War da nicht noch ein weiteres Kind? Sie versuchte, sich an die Besuche in Bonn-Bad Godesberg zu erinnern, wo die Gordons wohnten. Anspielungen von Mama fielen ihr ein, die irgendwelche tragischen Umstände andeuteten.

Plötzlich schreckte Ulla hoch; Panik überfiel sie.

Was war, wenn sie wieder ihre Pin vergessen würde und ihr Handy nach der Landung nicht mehr einschalten konnte?

Nach der Erfahrung des letzten Males hatte sie sich die Zahlen sicherheitshalber aufgeschrieben; aber wo war der Zettel?

Hektisch fischte sie unter dem Vordersitz nach ihrem Rucksack, wühlte nach der Handtasche, suchte ihr Portemonnaie. Kein Zettel. Vielleicht in der Brieftasche. Wo war die? Ach ja, vermutlich noch im Mantel oben in der Ablage. Trotz der missbilligenden Blicke ihrer Nachbarn versuchte sie, aufzustehen.

Eine Stewardess schob sie sanft, aber bestimmt zurück. „Bitte bleiben Sie angeschnallt. Wir befinden uns im Landeanflug auf Palma.“

Sie fühlte sich hilflos.

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