Читать книгу Blüten gucken auf Malle - Ute Vogell - Страница 8
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Beim Frühstück schmeckte ihr der frischgepresste Orangensaft am besten. Ulla füllte sich ein zweites Glas ein, trug es zu ihrem Platz zurück und beobachtete dabei unauffällig ihre Umgebung.
Mehrheitlich ältere Paare zu zweit oder zu viert; einige Singles vereinzelt an Zweiertischen; viele Sportler, vermutlich Fahrradfahrer – männlich und weiblich, gemeinsam an großen separaten Teamtischen, außerhalb des Speiseraums in der Bar. Dort lieferte ein Fernsehgerät ununterbrochen Bilder von der Winterolympiade in Sotchi.
Ulla las die Schilder der Gruppen.
„Racing Team Wales – Sky Team – Racing Team GB. Hmm, seit wann gehört Wales nicht mehr zu Großbritannien?”
Sie würde KH fragen müssen, ob sie etwas verpasst hatte.
Intensiv widmete sie sich ihrer frischen Ananas, der rosa Grapefruit, den Käsewürfeln und dem frischen Brot.
Nur nicht aufschauen, sonst würde wieder eine einsame, auf mondän getrimmte Alte versuchen, sie in ein Gespräch verwickeln wie gestern Abend an der Bar.
„Sie erinnern mich an eine Urlaubs-Bekanntschaft. Sind Sie schon länger hier? Ich komme aus Sachsen-Anhalt und Sie?“
***
Letzte Nacht hatte Ulla schlecht geschlafen.
Sie traute ihrer eigenen Interpretation nicht, Mama habe gelächelt.
„Du redest dir das schön, es geht ihr schlecht. Es ist ernst, todernst. Mach dich auf den Abschied gefasst. Sie ist 85!“
Doch dann setzte sich eine andere innere Stimme energisch durch: „Was willst du eigentlich? Du kennst doch deine Mutter! Was hätte sie im umgekehrten Fall gemacht? Wenn sie das Lächeln nicht gesehen hätte – sie hätte es erfunden!“
Ja, das stimmte, das passte zu Mamas unerschöpflichen Optimismus.
Mit dem festen Vorsatz, ab sofort diese Haltung ihrer Mutter zu übernehmen, schlief Ulla tief bis zum frühen Morgen.
***
Gerade deshalb wollte sie sich jetzt ihr Frühstück nicht durch irgendeine missmutige Alte verderben lassen.
Aber ein Blick in den Garten war unverfänglich. Sie erfreute sich am blauen Himmel, den Sonnenstrahlen auf Pool und Meer, den sich sanft wiegenden Palmen und den blühenden Alpenveilchen.
Eine plötzliche Bewegung ließ sie aufschrecken. Die beiden Gärtner stoppten abrupt ihre Arbeit und starrten direkt durch die Fenster in den Frühstücksraum.
Ulla folgte ihren Blicken.
Guardia Civil und Policia Local!
Zwei von ihnen gingen zielstrebig auf eine Sportlergruppe zu; vier andere verteilten sich im Raum.
Sie spürte einen Ellbogen in ihrem Rücken.
„Der vermisste Fahrradfahrer!“, zischte es hinter ihr.
Langsam drehte sie sich um. Sie hasste es, vertraulich angestoßen zu werden.
„Was, bitte?“, fragte sie langsam von oben herab in bester KH-Manier.
Sie blickte in das entzückte Gesicht der gestrigen Bar-Bekanntschaft, die plötzlich eine deutlich verjüngte Körperhaltung und eine freudige Miene zeigte.
„Seit Samstag! Der Fahrradfahrer!“
Die pechschwarz gefärbte Frau stand unvermittelt auf, zog sich das Tiger-T-Shirt glatt über die Rundungen an Hüfte und Bauch, schnappte mit ihren rot lackierten Fingern einen Teller und stieß unter dem Vorwand, sich neuen Essens-Nachschub zu besorgen, direkt mit dem jungen Vertreter der Policia Local zusammen.
„Perdon! – Entschuldigung, bitte“, sagte sie mit dem Versuch eines koketten Lächelns, „vielleicht kann ich weiterhelfen?“
***
Als Ulla den Frühstücksraum verließ, wartete Onkel Ed am Bartresen auf sie.
Er schüttelte gerade ein Tütchen Zucker in seinen Espresso, als er Ullas fassungslosen Blick bemerkte.
Er rutschte vom Barhocker – für seine Körperfülle sehr agil, fand Ulla – und kam auf sie zu.
„Ulla? Ich bin …“
„Elmar!“, unterbrach sie ihn. „Entschuldigung, Elmar, ich … ich war etwas verwirrt. Ich dachte, Onkel Ed …“
Er grinste verschmitzt. „Ja, ich weiß, dass ich meinem Vater sehr ähnlich sehe.“
Nun konnte sie zurücklächeln.
„Nicht direkt, die grünen Augen hast du von deiner Mutter.“
Irgendwie war er ihr sofort sympathisch – ganz im Gegensatz zu seinem Bruder. Vielleicht lag es daran, dass er einen Kopf kleiner war als sie und seine notdürftig kaschierte Glatze am Hinterkopf ihr Mitleid erweckte. Vielleicht hatte er aber einfach nur Onkel Eds Charme geerbt. Den setzte er jedenfalls sofort ein.
„Komm, setz dich zu mir. Lass mich eben meinen Espresso austrinken, dann fahren wir los. Möchtest du auch eine Kleinigkeit, vielleicht ein Glas Sekt?“
Natürlich mochte sie Sekt, aber nicht vor dem Besuch ihrer todkranken Mutter.
Als Elmar ihre Vorbehalte spürte, kippte er schnell seinen Espresso, legte einen Fünf-Euro-Schein auf den Tresen und führte sie zu einem roten BMW-Cabrio.
Ulla schmunzelte: „Vor mehr als fünfzig Jahren hat dein Vater mit einem weißen Opel-Kadett-Cabrio unser ganzes Dorf in Aufruhr versetzt! Die Dorfjungs haben eines Nachts dieses schöne Auto auf einem Holzstapel aufgebockt! – Weißt du das noch?“
Nein, er wusste es nicht mehr, er war damals einfach zu klein.
Sie stieg ein und nahm sich fest vor, sich nicht von Elmars Charme vereinnahmen zu lassen. Denn Mamas Warnung aus ihrer Teenager-Zeit fiel ihr ein: „Bei netten Männern musst du vorsichtig sein, Ulla!“ Und es gab immerhin viele ungeklärte Fragen.
Sie beschloss, mit leichter Konversation zu beginnen und lobte das schicke Cabrio. Dann erkundigte sie sich vorsichtig nach Manuel und seiner süßen Tochter.
„Ja“, sagte Elmar, „Veronica ist die Freude der gesamten Familie.“
Geht doch, dachte Ulla, wenigstens ein Fakt ist klar: Veronica.
Was als nächstes?
Sie wollte Manuels zerbeultem Auto auf den Grund gehen.
„Ist Manuel krank? Er wollte mich eigentlich abholen.“
„Nein, nein“, Elmar schaltete den BMW einen Gang höher, „sein Auto muss in die Werkstatt.“
„Inspektion?“, fragte Ulla unschuldig, „oder Reparatur? Ich glaub, ich hab’ ein paar Kratzer gesehen.“
„Natürlich Reparatur!“ Elmar schmunzelte. „Wenn Elfi ein Auto fährt …“ Seine Stimme versandete.
Ulla war erstaunt. „Wer ist Elfi?“
Elmar warf ihr einen empörten Blick zu, als ob sie gefragt hätte, was der Mond sei.
„Elfi ist unsere Mutter. Abkürzung von Elvira.“
Ja, das klang logisch.
„Aber warum? Warum nicht einfach Mama oder Mutti? Und seit wann?“, Ulla konnte sich immer noch nicht den Sinn der Kurzform erklären.
Elmar überlegte kurz.
„Warum? Wahrscheinlich, weil sie eitel ist. Und seit wann? Sicher spätestens, als sie sich für fünfzig ausgab und es nicht passte, wenn vierzigjährige Söhne sie mit Mama anredeten.“
Auch Elmars amüsiertes Lachen erinnerte sie an Onkel Ed, der die Eigentümlichkeiten seiner Frau immer mit Humor getragen hatte.
Das ermutigte sie, weiter zu fragen und Elmar gab bereitwillig Auskunft.
Nein, ETA lebte vorrangig in Bad Godesberg – dem damaligen Familienheim mit Ehemann Ed – nicht auf Mallorca. Auch Elmar selbst hatte seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland.
„Ich hab’ in Düsseldorf einen Anteil an einem Restaurant; und meine Frau und meine zwei Töchter freuen sich immer, wenn ich nach Hause komme.“
Ja richtig, Jenny hatte ihre Ferien-Sprachschule in Cala Millor beibehalten. Sie wollte diese nur im nicht-profitablen Mallorca-Winter durch ein Senioren-Wohnheim ergänzen.
Aber als Ulla sich an das heikle Thema herantastete und fragte, wie es ETA derzeit ginge, wich er mit einem achselzuckenden „Keine Ahnung“ aus.
Doch nun begann er seine Fragerunde.
„Wie geht es Karl-Heinz? Wann wird er hier sein?“
Sie war irritiert. „Wem? Wie geht es wem? Meinst du KH?“
Als Elmar nickte, lächelte sie.
„Wenn du es dir nicht mit KH verderben willst, nenn ihn nie Karl-Heinz. Er heißt Karl-Heinrich. Aber der Name ist viel zu altmodisch. Also nur KH – Ka-Ha. Wie im Alphabet. Punkt.“
Elmar grinste. „Na, dann wird er sich ja gut mit Elfi verstehen!“
***
Die Kabel aus Mamas Nase waren entfernt. Sie sah ein bisschen weniger blass aus und atmete ruhiger. Auf Ullas Kuss reagierte sie mit einem deutlichen Augenflattern.
Ulla hatte den Eindruck, dass Mamas Mund sich bewegte.
„Mein Kind …“
„Ja, Mama, ich bin hier und alle anderen sind in Gedanken fest bei dir!“
Ulla versuchte, sicher und zuversichtlich zu klingen.
Der junge, zugewandte Doktor sprach genau wie die Ärztin gestern Abend gut Deutsch.
Elmar fand dies überhaupt nicht überraschend, schließlich studierten viele spanische Mediziner in Deutschland oder absolvierten dort ein Praktikum.
Daher brauchte er nicht zu übersetzen und er konnte sich eine kleine Erfrischung gönnen.
Ulla sprach also allein mit dem Arzt.
Er war überzeugt, dass Mama gute Chancen zur Genesung hatte.
„Wie tief ist sie denn gefallen?“ Ulla wollte Genaueres zu dem Unfall wissen.
„Wieso gefallen?“, fragte er erstaunt zurück, als ob er sie nicht richtig verstanden hätte.
Ulla erläuterte geduldig in langsamem Deutsch: „Sie ist doch beim … beim Pipimachen abgerutscht und verunglückt.“
Der Arzt schüttelte den Kopf. „Nein, wir gehen von einem Autounfall aus.“
Ulla starrte ihn entgeistert an. „Autounfall, wieso denn Autounfall?“
„Ich denke, sie ist ausgerutscht und einen Abhang hinunter gestürzt …!?“
Der junge Doktor seufzte und schien zu überlegen.
Dann hob er vorsichtig die Bettdecke und zeigte Ulla einen dicken Bluterguss an der Innenseite von Mamas linker Wade.
„Diese Verletzung kann von einer Stoßstange herrühren. Ein heftiger Schlag gegen die Wade; sie hat ihr Gleichgewicht verloren und ist durch die Luft geschleudert worden. Wahrscheinlich ist sie mit ihrem Kopf auf einem Felsbrocken oder einem anderen harten Gegenstand aufgeschlagen.“
Als er Ullas ungläubigen Blick sah, verteidigte er sich: „Bei einem tiefen Fall hätte sie viel mehr Abschürfungen am ganzen Körper haben müssen und wahrscheinlich auch innere Verletzungen.“
Ulla war fassungslos.
Ihre Sprachlosigkeit tat dem jungen Arzt leid. „Das ist jedenfalls unsere Theorie: Autounfall. Vielleicht sollten Sie die Polizei einschalten?“, schlug er fragend vor, als er sich erhob.
***
Als sie Schritte auf dem Krankenhausflur hörte, brach sie abrupt die Kurzwahl ab und ließ ihr Handy schnell und unauffällig in ihrer Jackentasche verschwinden. Sie musste KH später informieren.
Jetzt hieß es erst einmal, klaren Kopf zu bewahren.
Sie küsste Mama zum Abschied, deren Gesicht einen zufriedenen Ausdruck zeigte.
Elmar öffnete die Tür und kam auf Zehenspitzen näher. „Tante Lilo, was machst du denn für Geschichten? Wir alle wünschen dir gute Besserung.“
Bildete Ulla es sich ein oder zeigte sich wirklich die steile Unmutsfalte über Mamas Nase, wie immer, wenn Mama sich ärgerte?
Am Empfang fragte sie nach persönlichen Gegenständen ihrer Mutter. Der freundliche Portier schaute in seinen Büchern nach.
Ihre Mutter war als Notfall eingeliefert worden.
Bewusstlos.
Nur was sie am Körper trug, war registriert worden.
Falls Ulla es wünschte, konnte sie die Kleidung sofort mitnehmen. Die beiden übereinander getragenen Eheringe waren an Mamas rechtem Ringfinger verblieben, weil sie bei der medizinischen Behandlung nicht störten.
Nein, es gab keine weiteren Gegenstände. Keine Handtasche. Keinen Rucksack. Kein Handy. Keinen Hotelschlüssel.
Nada de nada. Überhaupt nichts.