Читать книгу Nanopark - Uwe Hermann - Страница 10
Gestresste Smileys und eine feindliche Übernahme
ОглавлениеLeon beschloss, sich Zeit zu lassen, bevor er zu seinem Arbeitsplatz zurückkehrte. Zwanzig Minuten lang hatte er auf der Toilette versucht, den Fleck aus seinem neuen T-Shirt herauszubekommen, aber je mehr er rieb, umso schlimmer wurde es. Schließlich hatte er genervt aufgegeben. Er ging in die angrenzende Küche und zog sich einen neuen Becher Kaffee. Leon war ein Kaffeejunkie, der ohne fünfzehn Tassen pro Tag nicht auskam. Die Menge allerdings, die er heute schon in sich hineingeschüttet hatte, war sogar für ihn ungewöhnlich. Er überlegte, ob er seinen persönlichen Rekord von achtzehn Tassen würde knacken können. Sicher würde Doris, die Leiterin der Steuerzentrale, ihn wieder anmaulen. Es störte sie, wenn er so viel Kaffee trank, weil er dann angeblich seine Arbeit vernachlässigte. So ein Blödsinn! Der Computer überwachte die Anlage vollautomatisch. Was sollte da schon passieren? Janina, die nicht mit ihm ins Bett steigen wollte, hatte ihm erzählt, dass die Parkbetreiber nur aus versicherungstechnischen Gründen menschliches Personal einsetzten. Es war wie das Fahren in einem autonomen Fahrzeug: Es musste immer einen Menschen geben, den man im Falle eines Unfalls zur Rechenschaft ziehen konnte. Was aber bedeutete, dass er seinen Kopf hinhalten musste, wenn etwas passierte. Er grinste. Es sei denn, er stand in der Küche und trank Kaffee. Dann waren die anderen dran.
Hinter ihm flog die Tür mit einem Knall auf. Leon zuckte zusammen. Er erwartete, Doris zu sehen, aber als er sich umdrehte, stand vor ihm eine Gestalt in einem Mauskostüm. Er starrte verblüfft auf die großen schwarzen Ohren und die spitze Nase, bevor er die Pistole bemerkte, die sie auf ihn richtete.
Die Wand aus Überwachungsmonitoren in der Steuerzentrale bestand aus einer einzigen Fläche, unterteilt in zwei Dutzend Videostreams, die unterschiedliche Bereiche des Parks zeigten. Doris schaute mit zunehmender Verärgerung auf die Raftingbahn, die noch immer nicht lief. Das Ersatzteil, das eine Berliner Firma anfertigen sollte, war wieder nicht geliefert worden. Sie dachte an Leon, der vor Ewigkeiten in Richtung Toilette verschwunden war und sich seitdem nicht mehr hatte sehen lassen. Er sollte sich um die Reparatur kümmern, doch stattdessen erzählte er ihr immer wieder von neuen Problemen, ohne auch nur eines zu lösen. Leon hatte bei seiner Bewerbung einen Eignungstest ausfüllen müssen und als Einziger die volle Punktzahl erreicht. Damals hatte die Auswertung ergeben, dass er einen psychisch gefestigten Charakter besitze, teamfähig sei und über hervorragende Fachkenntnisse verfüge. Inzwischen war sich Doris sicher, dass Leon das Ergebnis gefälscht hatte. Er war labil, launisch und sexbesessen, also das genaue Gegenteil eines psychisch gefestigten Charakters. Auf solche Mitarbeiter konnte der Park verzichten – konnte sie verzichten. Sie tröstete sich damit, dass sie ihn bald los sein würde. Schon vor Wochen hatte sie seine Stelle neu ausschreiben lassen und die Bewerber auf der Festplatte ihres Rechners gespeichert. Sie musste Leon nur noch kündigen. Auch Bernd Gloeckner, der seinen Arbeitsplatz rechts am Ende des Raumes neben dem Regal mit den Fachbüchern hatte, würde das Unternehmen verlassen. Armin Schuster, der Direktor des Parks, hatte ihm selbst gekündigt. Am Ende des Monats würde sein Arbeitsverhältnis enden. Was genau vorgefallen war, wusste sie nicht. Gloeckner mochte sie nicht fragen und Schuster sprach nicht darüber, aber es konnte keine Lappalie gewesen sein, wenn er einen seiner besten und ältesten Programmierer entließ. Sie überlegte, wie lange Gloeckner schon für den Park arbeitete. Als sie ihre Stelle damals antrat, war er schon dabei gewesen. Es hieß, dass er und Schuster ihre Jobs nur bekommen hatten, weil sie Kontakte zur Politik besaßen. Ob das stimmte, wusste sie nicht. Und dann gab es da ja noch das Gerücht, dass auch Schusters Stuhl wackelte. Doris seufzte lautlos. Ihnen standen turbulente Zeiten bevor. Ihr Blick fiel auf die Uhr an der Wand. Sie hatte die Form der Nanoparkkuppel, nur dass sie anstatt des Schriftzuges ›Nanopark‹ die Zeit anzeigte. Es war fast Mittag. In einer halben Stunde würde der Computer die erste von zwei Parkparaden starten und Dutzende virtueller Figuren samt Fahrzeugen durch die Themenbereiche steuern. Viele Besucher standen schon jetzt an den Wegen und warteten darauf, dass es losging. Mit ihren Musikkapellen, den spektakulären Lichteffekten, den Unmengen an Luftballons und dem abschließenden Feuerwerk waren die Paraden eines der Highlights, auch wenn nichts davon echt war.
Auf einem Ausschnitt der Überwachungsmonitore sah sie eine Frau in einem pinkfarbenen Minirock, die mit zwei Kindern durch ein Spalier aus brüllenden Piraten die schmale Planke zur kleineren Achterbahn im Themenbereich Port Royal betrat. Sie gestikulierte mit den Händen und schien sich über irgendetwas aufzuregen. Was sie so ärgerte, konnte Doris nicht hören, da die Anlage keinen Ton übertrug. Jonas machte sie auf einen der anderen Videostreams aufmerksam. Er zeigte die Warteschlange vor dem Riesenrad auf der Ebene des Safariparks, in der ein paar Jugendliche randalierten. Ungeniert ließen sie eine Flasche Alkohol herumgehen und pöbelten die anderen Besucher an. Da es im Park keinen Alkohol zu kaufen gab, schmuggelten ihn Jugendliche immer wieder hinein.
Die meisten Bildausschnitte zeigten die Ebenen so, wie die Besucher sie sahen, kombiniert mit den gerenderten Elementen aus dem Computer. Nur so ließen sich Fehler in der Software entdecken. Und Fehler hatte sie zur Genüge. Doris hatte es längst aufgegeben, sie alle lösen zu wollen. Stattdessen sortierte sie die Probleme nach der Dringlichkeit und ignorierte alle unter einem gewissen Level. Zumindest die Kameras auf dem Parkdeck waren nicht erneut ausgefallen. Vielleicht hatten die Kabel den Ratten doch nicht geschmeckt. Sie drehte sich um. Leon war noch immer nicht zurückgekehrt. Heute trieb er es auf die Spitze. Vielleicht sollte sie die Gelegenheit nutzen und ihm fristlos kündigen. Dann brauchte sie aber jemanden, der seine Schichten übernahm. Sie schaute zu Daniel Osterhagen hinüber, der eine Reihe hinter Leons Platz neben Bernd Gloeckner saß und gerade einen Anruf beendete. Er bemerkte ihren Blick. »Ein Gast vermisst seine Frau und ihre Kinder. Ich habe sie für ihn lokalisiert.«
Doris nickte. »Schick Bruno zum Riesenrad. Dort randalieren Jugendliche.«
Bruno Meyer gehörte nicht zum Sicherheitsdienst des Parks, aber er half aus, wann immer Not am Mann war. Sobald der neunundsechzigjährige hagere Rentner die Kuppel betrat, sorgten die Nanoroboter dafür, dass er wie eine Kopie des legendären US-amerikanischen Präsidenten Dwayne Johnson aussah. Bis jetzt hatte sein Anblick immer ausgereicht, jeden Randalierer zur Vernunft zu bringen.
In diesem Moment wurde die Tür zur Steuerzentrale aufgestoßen. Leon stolperte herein, verlor das Gleichgewicht und stürzte vor der Videowand zu Boden. Er blutete aus der Nase, seine langen blonden Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Hinter ihm erschien eine Gestalt, kostümiert wie eine Maus. Weitere als Tiere verkleidete Personen folgten ihr und verteilten sich blitzschnell in der Steuerzentrale. Jede von ihnen hielt eine Waffe in der Hand. Doris dachte zuerst, dass sich jemand einen Scherz erlaubte und ein neues Parkprogramm an ihnen ausprobierte, doch dann schlug ein Mann in einem Löwenkostüm Jonas mit der Waffe nieder und sie begriff, dass die Szene echt war. Die als Maus verkleidete Person stieß Daniel zurück und zerschlug den Projektor seiner virtuellen Tastatur. Plastiksplitter flogen durch die Luft. Lea, die voller Angst von ihrem Platz aufsprang und zur rückwärtigen Tür lief, rutschte das Headset vom Kopf. Bevor sie auch nur in die Nähe der Tür gelangen konnte, packte ein Mann im Wolfskostüm sie an den Haaren und riss sie brutal zurück. Lea schrie vor Schmerzen auf. Hinter ihr brach der Löwe Bernd Gloeckner die Nase, als dieser nicht schnell genug die Hände von der virtuellen Tastatur seines Arbeitsplatzes genommen hatte.
Das alles dauerte nur Bruchteile von Sekunden. Dann kehrte Ruhe ein.
Durch die offenstehende Tür betrat eine Person in einem schwarzen Gorillakostüm die Steuerzentrale. Sie blieb vor der Videowand stehen und sah sie an. Ihr Blick fiel auf Lea, die noch immer leise weinte.
»Ruhe!«, fauchte der Wolf. Lea biss sich auf die Lippen und schwieg. Es wurde still in der Steuerzentrale.
»Meine Damen und Herren, schenken Sie mir bitte Ihre Aufmerksamkeit.«
Jeder in der Steuerzentrale schaute ihn an. Ohne das Kostüm hätten sie eine muskulöse, braungebrannte Gestalt mit schwarzen kurzen Haaren gesehen. Lorenz Hamilton, wie der Mann in dem Affenkostüm im richtigen Leben hieß, hatte, wie alle anderen, jahrelang in einer Sondereinheit der Bundeswehr gedient, bis diese von heute auf morgen wegen fremdenfeindlicher Tendenzen innerhalb der Truppe aufgelöst worden war.
»Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Die gute: Sie haben für den Rest des Tages frei. Die schlechte: Sie verbringen Ihren freien Tag hier!«
Doris zitterte am ganzen Körper. Trotzdem schaffte sie es, dass sich ihre Beine einen Schritt auf den Gorilla zubewegten. »Was soll das?«, stieß sie hervor, selbst überrascht, woher sie den Mut nahm.
Nun stand sie im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Der Gorilla kam auf sie zu. Seine Füße steckten in schwarzen, sorgfältig geschnürten Stiefeln, die unter seinem Affenkostüm hervorschauten. Durch die Öffnungen seiner Gesichtsmaske sah sie seine dunkelblauen Augen, die sie so eiskalt musterten, dass sie kaum zu atmen wagte. »Ist das so schwer zu verstehen, Frau Junker? Wir übernehmen Ihren Park!«
Doris wurde blass. Er kennt meinen Namen!, schoss es ihr durch den Kopf.
Der Gorilla streckte die Hand aus. »Geben Sie mir bitte Ihre Codekarte!«
Für den Bruchteil einer Sekunde wollte sie sich weigern, dann griff sie nach der rechteckigen Plastikkarte, die sie an einer Kette um den Hals trug, und reichte sie ihm.
Der Gorilla sah in die Runde. Kurz blieb sein Blick an Bernd Gloeckner hängen, der an seinem Schreibtisch saß und sich die blutende Nase hielt. Sein Blick wanderte weiter. »Jetzt möchte ich, dass sich jeder auf seinen Platz setzt!«
Leon, der noch immer wimmernd vor der Videowand auf dem Boden gekauert hatte, erhob sich und rannte zu seinem Arbeitsplatz hinüber. Sein gelbes T-Shirt mit dem gestressten Smiley war blutverschmiert. Der Wolf ließ Lea los, die ebenfalls zu ihrem Platz zurücklief.
»Wir sammeln jetzt Ihre Codekarten und Ihre Handys ein. Kooperieren Sie und Ihnen geschieht nichts!« Die Gestalt in dem Wolfskostüm griff nach einem der Mülleimer, die unter jedem Schreibtisch standen, kippte den Inhalt achtlos auf den Boden und ging mit ihm von Platz zu Platz. Nacheinander legte jeder sein Telefon und seine Codekarte hinein.
Zwei weitere als Tiere kostümierte Gestalten, eine Katze und ein Bär, betraten die Steuerzentrale. Sie führten Bruno, den Sicherheitsmann, herein. Denjenigen, deren Nanoroboter aktiviert waren, erschien er wie das muskelbepackte Ebenbild des ehemaligen US-Präsidenten. Für alle anderen war er nur ein alter, grauhaariger Mann mit Arthrose.
»Was soll das?« Bruno schimpfte und versuchte, sich aus dem Griff seiner Kidnapper zu befreien. Er sah Doris und gab seinen Widerstand auf. »Frau Junker, was geht hier vor?«
Der Gorilla richtete seine Waffe auf ihn und drückte ohne Vorwarnung ab. Doris hörte nur das leise Ploppen eines Schalldämpfers. Das Geräusch klang harmlos, dennoch verwandelte sich Brunos Gesicht in eine blutige Masse. Die Katze und der Bär ließen ihn los und der alte Mann fiel zu Boden.
Doris riss die Hände vors Gesicht und torkelte zurück. Sie verstand nicht, wie ein so harmloses Geräusch jemanden hatte verletzen können. Das war doch gar nicht möglich! Und dennoch lag Bruno in einer immer größer werdenden Blutlache vor ihnen und rührte sich nicht mehr.
Der Gorilla drehte sich um und sah sie an. »Wenn Sie nicht kooperieren, werde ich jeden einzelnen Ihrer Mitarbeiter erschießen, bis nur noch Sie übrig sind!«
Doris glaubte, sich übergeben zu müssen. Die Courage, die sie eben noch hatte leichtsinnig werden lassen, war blankem Entsetzen gewichen. Der Gorilla hatte Bruno erschossen. Einfach so! Nur um ihnen zu zeigen, dass er es ernst meinte. Und jetzt drohte er damit, sie ebenfalls zu töten. Doris zitterte so stark, dass die Schuhspitzen ihrer Pumps auf den Fliesen klackten, als schickten sie einen leisen Hilferuf im Morsecode. Ihr Puls raste und ihr wurde schwindelig.
Der Gorilla schien Bruno bereits vergessen zu haben. Er ging an den Steuerkonsolen vorbei und blieb vor Hannas ausgeschaltetem Rechner stehen. Wieder sah er sie an. »Befindet sich außer den Besuchern noch jemand innerhalb der Kuppel?«
Als Doris nicht antwortete, wiederholte er seine Frage. Diesmal mit schneidender Stimme.
Jetzt erwachte sie aus ihrem Schock und sah ihn mit einer Mischung aus Wut, Entsetzen und Angst an. Sie schüttelte den Kopf. »In dem Hotel gibt es ein paar Angestellte. Sonst niemanden!«, rutschte es ihr dann trotzig heraus.
Leon sah sie überrascht an. Und auch Bernd Gloeckner schaute erstaunt. Für einen Moment schien er ihr widersprechen zu wollen, doch dann hielt er sich seine blutende Nase und schwieg.
Der Gorilla hob das Namensschild von Hannas Schreibtisch hoch und schaute darauf. »Was ist mit Frau Lehnhardt?«
Doris antwortete nicht.
»Hanna hat Urlaub«, sagte Jonas von seinem Platz aus.
Der Gorilla ließ das Schild zurück auf den Schreibtisch fallen. Er blickte jeden der Reihe nach an. »Wenn Sie tun, was wir von Ihnen verlangen, sind wir in ein paar Stunden verschwunden und Sie können Ihren Liebsten zu Hause eine spannende Geschichte erzählen. Wenn nicht, erschießen wir Sie und das einzig Spannende wird sein, welche Blumen auf Ihr Grab kommen!«
Doris klammerte sich an die Kante des Tisches neben sich und überlegte, ob sie dem Gorilla erzählen sollte, dass Hanna doch im Park war. Was würde geschehen, wenn sie plötzlich hier auftauchte? Aber jetzt, da Jonas ihre Geschichte bestätigt hatte, konnte sie nicht mehr zurück.
»Bitte, lieber Gott«, betete sie leise, »lass Hanna nicht in die Steuerzentrale kommen!«
Der Wolf stülpte Doris eine schwarze, undurchsichtige Kapuze über den Kopf und zog sie an einer Schnur um ihren Hals zusammen. Es wurde dunkel. Der Seilzug schnürte ihr die Kehle zu. Sie kämpfte einen Moment lang gegen die Panik an. Ihre Arme wurden nach hinten gerissen. Sie spürte, wie der Wolf sie mit Kabelbinder auf ihrem Rücken fixierte.
»Meine Leute bringen Sie jetzt in den Aufenthaltsraum. Verhalten Sie sich ruhig. Dann geschieht Ihnen nichts!«, sagte Gorilla.
Der Wolf zog Doris hinter sich her. Sie prallte gegen einen der Stühle und stieß ein leises Wimmern aus. Plötzlich dachte sie daran, dass sie heute eigentlich Urlaub gehabt hätte. Es war der 10. Juni, ihr Hochzeitstag. Heute vor siebenundzwanzig Jahren hatten ihr Mann und sie geheiratet. Sie wusste, dass er eine Überraschung für sie geplant hatte, doch Doris war einer der Menschen, die glaubten, die Welt drehe sich nicht ohne sie. Warum verdammt noch mal hatte sie den Urlaub nicht genommen?
Bär, alias Martin Böhme, schwitzte unter seiner Maske erbärmlich, trotzdem nahm er sie nicht ab. Gorilla hatte ihnen unmissverständlich klargemacht, dass er jeden erschießen würde, der sein Gesicht zeigte. Bär wollte nicht erschossen werden. Außerdem war die Maske seine Garantie dafür, nach dem Raub ein neues Leben beginnen zu können, aber das würde unmöglich sein, wenn sein Foto auf jeder Polizeiwebsite stand. Noch immer plagte ihn die Angst, dass es ein Fehler gewesen war, bei diesem Coup mitzumachen. Zuvor hatte er immer versucht, auf der richtigen Seite des Lebens zu stehen. Aber was war schon richtig oder falsch? Selbst seine Vorgesetzten hatten diese Frage nicht beantworten können. Oder sie hatte sie nicht interessiert. Immer wieder hatten sie während ihrer Bundeswehrzeit verdeckte Aufträge ausführen müssen, die sich eindeutig nicht mit dem Grundgesetz vereinbaren ließen. Trotzdem waren sie befohlen worden. Wie also konnte dann diese Aktion falsch sein?
Gorilla hatte ihnen befohlen, die Geiseln in den Aufenthaltsraum zu bringen. Bär war froh, als er die Steuerzentrale verlassen konnte. Er mochte Gorilla nicht. Dessen launische Art hatte schon während seiner Dienstzeit oft zu Problemen geführt. Und Probleme hatte Bär auch ohne ihn genug. Da waren zum einen die Schulden, die seit seiner Entlassung aus der Bundeswehr ständig größer wurden. Außerdem musste er dringend einige Reparaturen an seinem Haus erledigen, bevor ihm das Dach über dem Kopf einstürzte, und als ob das nicht reichte, juckte jetzt auch noch seine Nase. Trotzdem wagte er nicht, seine Hand unter die Maske zu schieben, um sich zu kratzen. Verdammte Maske!
»Träumst du?«, fuhr Maus ihn mit einer Frauenstimme an, als er einen Moment lang nicht aufpasste und seine Geisel Daniel Osterhagen ins Straucheln geriet. Er zog den Mann ruckartig weiter, dieser stieß einen leisen Schmerzensschrei aus. Vor ihnen öffnete Hund die Tür zum Aufenthaltsraum. Sie führten die Geiseln hinein und ließen sie sich an der rückwärtigen Wand auf den Boden setzen. Die Frau weinte leise. Bär hatte sich ihren Namen nicht gemerkt. Das tat er nie. Es fiel ihm leichter, Menschen zu töten, deren Namen er nicht kannte. Während er und Hund auf den Ausgang zugingen, zog Maus hinter ihnen einen Stuhl vom Tisch zurück und setzte sich. Sie legte die Füße auf die Tischplatte und ließ die Geiseln nicht aus den Augen.
Bär und Hund kehrten in die Steuerzentrale zurück. Sie mussten über den toten Wachmann steigen und Bär ärgerte sich darüber, dass Gorilla ihn direkt vor der Tür erschossen hatte.
Der Gorilla beglückwünschte sich zu seiner Entscheidung, den Wachmann zu töten. Der Widerstand, den er zuvor in den Augen von Doris Junker gesehen hatte, war augenblicklich erloschen. Nun würde sie ihnen keine Schwierigkeiten mehr bereiten. Der Tod des Wachmannes war zwar nicht Teil des Plans gewesen, aber bei so einem Projekt ließ sich nicht jede Kleinigkeit vorhersagen. Außerdem waren sie bereits vom Plan abgewichen, als Robert Neuhaus aussteigen wollte. Er hatte zuerst ihr Geld genommen, seinen Urlaub finanziert und dann kalte Füße bekommen. Als ob sie ein Buchclub wären, bei dem jeder nach Belieben ein- und austreten konnte.
Gorilla setzte seine Maske ab und legte sie auf Hannas Arbeitsplatz. Seine schwarzen, kurzgeschorenen Haare glänzten vor Schweiß. Es war heiß unter der Maske, aber ein paar Stunden Hitze ließen sich ertragen, wenn dafür niemand ihre Gesichter kannte. Er griff nach dem Mülleimer mit den Telefonen und den Codekarten und wollte ihn auf den Arbeitsplatz von Bernd Gloeckner stellen, dabei bemerkte er die blutverschmierte Oberfläche des Schreibtisches. Er blickte zu Löwe hinüber. »Warum hast du Gloeckner die Nase gebrochen? War das notwendig?«
Löwe zuckte wortlos mit den Achseln und Gorilla stellte den Mülleimer auf einen der anderen Arbeitsplätze. Er nahm die weißen, mit Namen bedruckten Codekarten heraus und reichte sie Wolf und Hund. »Riegelt den Park ab! Blockiert die Telefon- und Internetverbindung und legt das Handynetz lahm!«
Die beiden setzten sich und entsperrten mit den Codekarten die Rechner vor sich.
Wolf klickte sich durch die Menüs und die Zugänge zum Freizeitpark schlossen sich.
Sicherheitsgitter senkten sich vor den Augen der verblüfften Besucher und verriegelten die Ein- und Ausgänge. Die elektronischen Hinweistafeln, die zuvor Werbung für die vielen Attraktionen gemacht hatten, zeigten nun an, dass der Park aufgrund technischer Probleme geschlossen werden müsse. Von nun an ließ das Parkleitsystem keine neuen Fahrzeuge mehr auf das Gelände. Gleichzeitig fuhr Hund die Telefonanlage herunter und schaltete den Mobilfunkmast auf dem Gelände ab.
»Es geht los.« Gorilla nickte Löwe und Katze zu. Beide griffen nach ihren Masken und verließen mit ihren Sporttaschen den Raum.
Gorilla blickte auf die Uhr an seinem Handgelenk. Es hatte begonnen!
Lutz Brendinger konnte es kaum abwarten, Charlize-Zoe Watson zu sehen. Seit dem Tag, an dem er von diesem speziellen Dienst des Parks erfahren hatte, freute er sich auf sie. Selbst wenn er sein Idol nicht würde lieben können – was er gehofft hatte –, würde er einen unvergesslichen Tag mit ihr verbringen. Charlize-Zoe Watson! Allein der Name ließ seine Haut kribbeln. Unauffällig zog er die Flasche Rum aus der Tasche und nahm einen weiteren Schluck. Der Alkohol brannte in seiner Kehle wie Chili. Die Flasche war bereits zu einem Drittel geleert, ohne dass ihr Inhalt ihn beruhigt hätte. Im Gegenteil! Er hatte das Gefühl, dass er mit jedem Schluck nervöser wurde. Er beschloss, es langsamer angehen zu lassen. Schließlich wollte er den Körper seiner Traumfrau mit allen Sinnen genießen.
Der Typ am Telefon hatte gesagt, dass Lutz im Hafen auf sie warten solle, und so saß er auf einer Bank am Kai und sah sich ständig um, während die anderen Besucher den Blick aufs Meer richteten, wo sich zwei spanische Galeeren mit einem Schiff der Piraten duellierten. Lutz fühlte sich seltsam. Die Farben um ihn herum leuchteten intensiv. Das Wasser bewegte sich nicht, dafür wankten die Pflastersteine unter seinen Füßen, als hätte jemand die Perspektive vertauscht. Die Luft duftete aufdringlich nach Meer, Salz, Schießpulver und Kakao – was ihm seltsam vorkam –, und jedes Geräusch hallte echogleich in seinem Kopf nach. Vielleicht lag es am Glücksgefühl und den Schmetterlingen in seinem Bauch, oder die Nanoroboter vertrugen sich nicht mit dem Alkohol. Ihm war das egal. Hauptsache, er traf endlich seine Traumfrau.
Die Menge um ihn herum jubelte, als das Piratenschiff eine der Galeeren versenkte. Und dann setzte sich jemand zu ihm auf die Bank.
»Hallo Lutz«, sagte die Person neben ihm mit Rauschen in der Stimme.
Er blickte sie an und für einen Moment hörte die Welt auf, sich zu drehen. Ihr Anblick verscheuchte die Schmetterlinge aus seinem Bauch. Lutz’ Hoffnung auf einen wunderschönen Tag mit seiner Traumfrau zerplatzte wie ein Luftballon.
Diese Charlize-Zoe Watson war nicht die Art von virtueller Begleitung, die er erwartet hatte. Nichts an ihr wirkte menschlich. Sie war eine Mischung aus Comicgrafik und einer Figur aus einem alten 16-Bit-Videospiel. Und als ob das nicht reichte, besaß sie dort, wo das Original mit üppigen Formen ausgestattet war, nur Kanten und Ecken.
Lutz wollte etwas sagen, aber er fand keine Worte. Bernd Gloeckner hatte ihn reingelegt! Anstatt einer realistischen Kopie seiner Traumfrau hatte er ihm eine Klötzchengrafik als virtuelle Begleitung geschickt.
Ein Ehepaar ging vorüber und blickte erst sie und dann etwas länger ihn an. Nun schauten auch andere zu ihm herüber. Alle starrten auf seinen Kopf. Lutz fühlte, wie seine Haut unter ihren Blicken kribbelte. Er stand auf und trat an die Kaimauer. Seine Gestalt spiegelte sich im Wasser des Hafens. Das zweite Mal innerhalb von Sekunden erlebte er einen Schock. Seine Haare wechselten im Sekundentakt ihre Farbe. In einem Augenblick leuchteten sie erdbeerrot, um sich im nächsten Moment in ein giftiges Tannengrün zu verfärben.
Lutz wischte sich die Tränen der Enttäuschung aus seinem Gesicht. Nach einem Moment nahm er sein Telefon aus der Tasche und drückte die Kurzwahltaste von Bernd Gloeckner.
Er wartete.
Als keine Verbindung zustande kam, griff er nach der Flasche Rum und trank einen großen Schluck.
»Alkohol ist im Park nicht erlaubt«, kommentierte die virtuelle Gestalt hinter ihm mit verrauschter Stimme. Sie lächelte, aber wegen ihrer polygonarmen Gestalt wurde daraus ein schiefes Grinsen. »Trink doch lieber eine unserer eiskalten, köstlich schmeckenden Nanobrausen in achtundneunzig verschiedenen Geschmacksrichtungen!«
Lutz heulte vor Wut. Nicht so sehr wegen des Geldes, das er bezahlt hatte, sondern weil seine Erwartungen enttäuscht worden waren. Was hatte er sich auf den Sex mit einer virtuellen Kopie seiner Traumfrau gefreut!
Er drehte sich um und ging davon. Damit würde Bernd Gloeckner nicht durchkommen! Auch er hatte seine Rechte. Selbst wenn diese Zusatzoption in keinem Parkprospekt stand, hatte er für sie bezahlt. Also musste der Park sie ihm auch liefern. Und das hatte er nicht! Lutz ballte wütend die Fäuste. Er würde sich beschweren.
»So warte doch auf mich!« Seine Traumfrau sprang auf und folgte ihm mit ruckartigen Bewegungen.