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Die Macht der Manipulation oder Zuckerwasser in achtundneunzig verschiedenen Geschmacksrichtungen
ОглавлениеNach ein paar Schritten blieb Simon wie angewurzelt stehen. Der Anblick war so überwältigend, dass er glaubte, jemand würde ihm den Boden unter den Füßen wegziehen. Er wollte etwas sagen, aber er brachte kein Wort heraus.
Vor sich sah er eine futuristische Stadt mit unzähligen größeren und kleineren Verkaufsgeschäften, Parks und Karussells. Gewaltige Wolkenkratzer, in deren unteren Etagen sich Themenrestaurants befanden, schraubten sich in einen von einem leuchtenden Schutzschirm überspannten Sternenhimmel. Dazwischen folgten fliegende Autos einem unsichtbaren Highway. Auf den Parkwegen, inmitten von Trauben aus Besuchern, bewegten sich Roboter. Es gab Selbstbedienungsstände mit Getränken, Eis, Waffeln und Snacks. An einer Haltestelle schwebten chromblitzende Limousinen der sechziger Jahre, mit gewaltigen Triebwerken im Heckbereich. Gesteuert wurden sie von menschenähnlichen Maschinen, die wie Chauffeure gekleidet waren.
Simon sah sich fassungslos um. Nichts deutete mehr darauf hin, dass er sich im Inneren einer Kuppel befand. Das alles hatte keine Ähnlichkeit mit der Stadt der Zukunft, wie er sie sich vorgestellt hatte. Diese Szene wirkte eher wie das zum Leben erweckte Cover eines Science-Fiction-Romans aus den Sechzigern: Chrom und Glas, und anstatt rechter Winkel Rundungen und geschwungene Linien.
»Beeindruckend, oder?«, fragte Hanna, die offensichtlich Spaß daran hatte, ihn so zu sehen.
Er nickte. »Das kann man wohl sagen.«
Aus den Eingängen schob sich ein stetiger Strom an Besuchern und Hanna zog Simon mit sich zu einem der Schwebewagen hinüber. Sie wählte ein blaues Cabrio ohne Türen aus, hinter dessen Lenkrad ein Roboter sie begrüßte. Sie setzten sich auf den Rücksitz. Im Heckbereich wummerte ein gewaltiges Triebwerk. Hitze stieg in die Höhe und ließ die Luft flimmern.
»Dieser Wagen schwebt doch nicht wirklich?«, fragte Simon.
»Natürlich nicht. Er rollt auf Rädern, wie jeder andere Wagen auch, aber der Parkcomputer sorgt dafür, dass Sie sie nicht sehen. Der Rest ist ein 3D-Modell, das in Echtzeit abhängig von Ihrer Blickrichtung generiert und über das echte Fahrzeug gelegt wird. Die Manipulation Ihrer Wahrnehmung, zusätzliche Videooberflächen mit der richtigen Animation und etwas optische Täuschung sorgen dafür, dass Sie glauben, der Wagen würde schweben. Aber natürlich ist das nur eine Illusion. Genauso wie seine Triebwerke.«
Simon streckte die Hand nach den Flammen aus. »Ich kann die Wärme aber spüren.«
»Das glauben Sie nur. In Wirklichkeit gibt es das Triebwerk ja gar nicht. Was Sie fühlen, sind Impulse der Nanoroboter, die Ihrem Körper vorgaukeln, dass er die Hitze spürt.«
»Es ist so unglaublich … echt.«
»Ich weiß. Anfangs passten wir sogar die Kleidung unserer Besucher dem jeweiligen Themengebiet an, aber das haben wir schnell wieder aufgegeben. Zum einen kostete dieses Echtzeitrendering eine Menge an zusätzlicher Prozessorleistung, doch der Hauptgrund war, dass es den Gästen Angst machte. Zu viel Realität. Niemand wusste mehr, wer ein virtueller Charakter und wer ein Besucher war. Manche vergaßen sogar, dass sie sich in einem Freizeitpark aufhielten. Zwar können die Besucher auch heute noch ihr Aussehen in einem unserer Shops verändern, aber da das Geld kostet, nutzen nur die wenigsten diese Möglichkeit. Außerdem haben wir den Grad der Perfektion verringert. Bewusst nehmen die Besucher die Fehler nicht wahr, aber ihr Unterbewusstsein registriert sie und erinnert sie daran, wer sie sind und wo sie sich befinden.«
»Geht mir nicht so. Ich habe das Gefühl, in einen Science-Fiction-Film gebeamt worden zu sein.«
Sie lachte. »Das ist ja auch der Sinn des Ganzen.«
»Und das bewerkstelligen ausschließlich diese Nanoroboter?« Simon dachte an sein Schulterproblem. »Wie mächtig sind sie? Können die auch medizinische Probleme beseitigen?«
Hanna verneinte. »Das funktioniert nur im Film. Nanoroboter sind dumme Maschinen. Unsere können nur an die Nervenenden im Gehirn andocken und die Informationen, die von unserem Computer kommen, weitergeben. Aber das machen sie so gut, dass auch heute noch Besucher vergessen, dass alles um sie herum nur eine Illusion ist. Sie zücken ihre Telefone, schießen fleißig Fotos und glauben, so ihre Erlebnisse festhalten zu können, dabei ist nichts von dem, was sie sehen, real. Im Internet finden Sie unzählige Aufnahmen, auf denen nur nackte Betonwände zu sehen sind. Und obwohl jedermann weiß, dass Fotografieren und Filmen keinen Sinn ergibt, werden es immer mehr Aufnahmen. Aber unsere Nanoroboter beeinflussen nicht nur die visuelle Wahrnehmung.« Sie deutete auf einen Eisstand, vor dem sich eine lange Schlange aus Wartenden gebildet hatte. »Dort können die Besucher aus achtundneunzig verschiedenen Eissorten wählen. Schauen Sie sich den Selbstbedienungsautomaten an. Glauben Sie, in den passen achtundneunzig verschiedene Eissorten?«
Er schüttelte den Kopf. »Wohl eher nicht.«
»Richtig. Die Kunden bekommen alle die gleiche geschmacksarme Grundsubstanz aus Eiern, Milch, Sahneersatz und viel Zucker, doch mit dem entsprechenden Befehl an die Nanoroboter schmeckt eben jedes Eis anders. Genauso ist es mit den Getränken, die sie hier im Park bekommen. Nur Zuckerwasser, auch wenn die Besucher glauben, sie bekämen das, was sie bestellt haben.«
Simon spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. »Eine erschreckende Vorstellung.«
Hanna nickte. »Eine erschreckende und faszinierende zugleich. Darauf beruht die Technik unseres Parks.«
»Ich lasse mich aber nicht gerne manipulieren.«
»Tja, dann gehören Sie eben nicht zu unserer Zielgruppe«, antwortete sie schroffer, als Simon erwartet hatte.
Da war sie wieder, die Abneigung, die er schon anfangs bei ihr gespürt hatte. So wie sie diese Technik verteidigte, hatte sie mit Menschen schlechte Erfahrungen gemacht. Anscheinend verließ sie sich jetzt lieber auf die Computer. Dazu passten auch ihr Aussehen und ihre schroffe Art, die signalisierte: Lasst mich in Ruhe! Vielleicht hatte sie eine gescheiterte Ehe hinter sich oder eine unglücklich zerbrochene Freundschaft. Er schaute auf ihre Hand und suchte nach einem Ring, doch er fand keinen.
Sie erriet seine Gedanken. »Analysieren Sie mich etwa?«
Simon sah sie mit einem unschuldigen Blick an. »Nein«, log er.
Hanna hielt ihre Identifikationskarte vor den Scanner des Roboters. Dabei fiel Simon ein Kunststoffarmband mit einem winzigen Bildschirm auf, das sie um ihr Handgelenk trug. Ihr elektronischer Fahrer fragte nach dem Ziel.
»Wollen Sie in Ihr Hotel oder möchten Sie zuerst sehen, wo Robert ums Leben gekommen ist?«, wollte Hanna wissen.
Simon überlegte kurz. Je eher er mit seiner Arbeit begann, umso früher konnte er wieder nach Hause. »Bitte zuerst zum Unfallort.«
Hanna nickte. »Halten Sie sich fest!« Sie gab dem Roboter ein Zeichen.
Kurz bevor ihr Wagen beschleunigte und mit aus Turbinen schlagenden Flammen und einem infernalischen Dröhnen davonfuhr, sah Simon erneut die Kleine mit den roten Haaren. Sie hatte einen jüngeren Begleiter, der wohl ihr Bruder war. Beide stellten sich ans Ende der Warteschlange vor dem Eisautomaten.
Der Wagen, in dem Simon und Hanna durch den Park fuhren, bewegte sich langsamer, als das tiefe Wummern der Triebwerke vermuten ließ, das übrigens nur im Inneren ihres Fahrzeugs zu hören war. Für die Besucher am Rand der Strecke fuhren sie fast lautlos vorbei. Die Erbauer des Parks hatten durch ein cleveres Design und mithilfe der Computer und ihrer Nanoroboter dafür gesorgt, dass die Themenwelt der Stadt der Zukunft größer erschien, als sie in Wirklichkeit war. Hanna erzählte Simon, dass alles oberhalb der ersten Stockwerke der Hochhäuser nur Fassade sei und aus dem Computer stamme. Ebenso viele der Gebäude, die sie in der Ferne sahen. Und natürlich der Schutzschirm, samt Sternenhimmel und Raumschiffen. Der Park verteilte sich auf sechs Ebenen innerhalb der Kuppel und auf zwei darunterliegende. Die Bauzeit der Anlage hatte ganze acht Jahre betragen.
Ein Handy klingelte. Hanna zog ein rosafarbenes Empathiephone mit gesprungener Vorderseite aus der Tasche ihres Kittels und schaute darauf.
»Wichtig?«, fragte Simon.
»Eher das Gegenteil.« Sie drückte den Anrufer weg. In den nächsten Minuten klingelte ihr Telefon noch einige Male, bis sie es schließlich ausschaltete.
»Jede der insgesamt fünf für die Besucher zugänglichen Ebenen besitzt ein eigenes Thema«, erklärte Hanna weiter. »Wir verlassen gleich die Stadt der Zukunft und fahren in den unterirdischen Bereich Der Mittelpunkt der Erde. Dort befinden sich unsere Wasserattraktionen. Die gigantische Wildwasserbahn, mit einer Streckenlänge von fast fünfhundert Metern, eine Raftingbahn, verschiedene Restaurants, außerdem das Freizeitbad mit dem Wellnessbereich und dem angrenzenden Hotel und den Bungalows. Ihr Zimmer befindet sich übrigens auch dort unten.«
»Und wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich anstatt nackter Felswände einen Karibikstrand. Richtig?«
Sie lachte schallend. »Nein, das würde ja nicht zum Thema Der Mittelpunkt der Erde passen.«
Der Wagen rumpelte, als sie über eine Bodenunebenheit fuhren, aber natürlich ließen der Parkcomputer und seine Nanoroboter nicht zu, dass Simon etwas davon sah. Auf den Wegen herrschte dichtes Gedränge. Massen an Besuchern schoben sich durch den Park. In den Wartebereichen der einzelnen Attraktionen hatten sich schon jetzt lange Schlangen gebildet. Simon hörte das Geschrei der Menschen und war froh, dass er im Wagen saß und Abstand zu ihnen halten konnte.
Hanna ahnte, was er dachte. »Die Menschenmassen verlaufen sich in den nächsten Minuten. So früh nach der Eröffnung herrscht hier immer dichtes Gedränge. Wenn die Besucher sich erst einmal auf die einzelnen Ebenen verteilt haben, wird es besser.«
Ihr Fahrzeug fuhr an einem Kettenkarussell vorbei, in dem die Besucher in zigarrenförmigen, schlanken Gondeln saßen. Auf der Spitze drehte sich ein strahlend blauer Planet, den etliche Monde gegenläufig umrundeten. Der Computer des Parks sorgte dafür, dass die Ketten des Karussells nicht sichtbar waren, und so schien es, als umkreisten die Besucher mit ihren Raumschiffen eine unbekannte Welt.
So interessant Hannas Erzählungen auch waren, Simon war nicht hier, um etwas über den Park zu erfahren. Er sollte den Tod von Robert Neuhaus untersuchen und je früher er damit begann, umso schneller konnte er wieder fahren.
»Erzählen Sie mir etwas über den Toten. Was war er für ein Mensch?«
Hanna dachte nach. Ihr wurde klar, dass sie Robert eigentlich kaum gekannt hatte. Obwohl sie lange Kollegen gewesen waren, wusste sie nichts über ihn. Er hatte weder von seinen Hobbys erzählt noch davon, wie er seine Freizeit verbrachte. »Wir sahen uns nur morgens und abends auf dem Parkplatz oder während der wöchentlichen Besprechung im Nebengebäude. Er war für das Parkdeck zuständig, während ich in der Steuerzentrale sitze und mich um die Computer des Parks kümmere und neue Kampagnen entwerfe.«
»Und trotzdem sind Sie sich sicher, dass er keinen Selbstmord begangen hat?«
»Wie ich schon sagte, er plante seinen Urlaub. Auf der Besprechung letzte Woche hat er mir Fotos von seinem Urlaubsort und dem Hotel gezeigt. Eine wahnsinnig teure Hütte, irgendwo auf einer Karibikinsel. Jemand, der so viel Geld für eine Reise ausgibt, bringt sich nicht um. Jedenfalls nicht vor seinem Urlaub.«
»Wenn er für das Parkdeck verantwortlich war, warum ist er dann in der Kuppel gewesen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Es gibt zwar einen Zugang vom Parkdeck zur unteren Ebene, aber der ist verschlossen und nur für das Wartungspersonal gedacht. Außerdem hätte Robert keinen Grund gehabt, ihn zu benutzen. Er musste nicht in die Kuppel. Was er im Park zu suchen hatte, kann ich Ihnen also nicht sagen.«
Sie ließen das Kettenkarussell hinter sich zurück.
»Wie viele Mitarbeiter arbeiten in der Steuerzentrale?«
»Wir sind zu siebt.«
»Ist das nicht etwas wenig, um so einen Park zu steuern?«
»Wir steuern gar nichts, das erledigt der Computer. Wir haben einen der größten und leistungsfähigsten Rechner in Europa. Selbst das Hotel im Untergeschoss arbeitet vollautomatisch. Dort gibt es nur eine Handvoll Angestellte, die sich um das Wohl spezieller Gäste kümmern. Unsere Aufgabe in der Steuerzentrale ist es, den Ablauf im Park zu überwachen und die Szenarien für die Einzelspieler zu starten. Den Supercomputer bedient eine Gruppe Techniker in der fünften Etage.«
»Und, kommt es oft zu Problemen?«
»Niemals«, schwindelte Hanna. »Außerdem sorgen außerhalb der Kuppel weitere zweihundert Mitarbeiter dafür, dass alles reibungslos funktioniert. Sie erledigen Reparaturen, nehmen Waren an, pflegen die Grünflächen, entwerfen neue Attraktionen und – ganz wichtig – sie zahlen uns unser Gehalt.« Sie deutete nach vorn. »Wir kommen gleich zum Mittelpunkt der Erde. Dort unten ist Robert verunglückt.«
An einer Weggabelung bog ihr Fahrzeug auf die rechte Spur ab und steuerte auf den Eingang einer Höhle zu, die in ein gewaltiges, hoch aufragendes Bergmassiv führte. Der Felsen sowie der Bereich mit seinen startenden und landenden Raumschiffen, an dem sie kurz zuvor vorbeigekommen waren, existierten nicht wirklich. Kein Besucher würde sie je erreichen können. Sie bestanden aus etwas Pappmaché und den Bits und Bytes des Parkcomputers.
Dann fuhren sie in die Höhle und im gleichen Moment veränderte sich ihr Fahrzeug. Plötzlich saßen sie in einer offenen, verrosteten Kipplore, die sich auf Schienen quietschend durch einen grob bearbeiteten Tunnel bewegte. Simon lehnte sich hinaus. Ihr Fahrzeug schien nicht mehr zu schweben, stattdessen drehten sich unter ihnen wuchtige Eisenräder. Die Wände bestanden aus Gestein und wurden alle paar Meter von dem Licht flackernder Öllampen beleuchtet. Verdreckte und verschwitzte Arbeiter, mit Spitzhacken und Schaufeln in den Händen, förderten Erz und verluden es in weitere Loren, die in Nebenschächten standen. Obwohl Simon wusste, dass keine der Gestalten echt war, fiel es ihm schwer, diese Tatsache nicht zu vergessen.
»Das kommt mir vor wie Zauberei«, sagte er, während er sich umschaute. Über seinem Kopf stützten morsche Holzbalken die Decke. Das Skelett eines Dinosauriers schaute zur Hälfte heraus.
Hanna nickte. »Ein guter Vergleich. Das alles ist wie die Magie in den Zaubershows. Jeder weiß, dass sie nicht echt ist, aber man will trotzdem daran glauben. So ist es auch hier. Die Besucher wissen, dass neunzig Prozent von dem, was sie sehen, aus dem Computer stammt, trotzdem kommen sie immer wieder und versuchen das Erlebte auf Fotos festzuhalten.«
Ihre Lore änderte überraschend die Richtung. Als Simon sah, dass die Schienen vor ihnen steil abwärtsführten, verkrampfte er sich. Er wollte etwas sagen, da kippte ihr Fahrzeug auch schon nach vorn weg und raste mit funkensprühenden Rädern in die Tiefe. Er stieß einen Schrei aus. Seine Nackenhaare richteten sich auf. Er klammerte sich krampfhaft an den Haltegriffen fest. Kurz schoss der bekannte Schmerz durch sein Schultergelenk. Rechts und links sausten Felsen vorbei, manche so nah, dass er glaubte, sie würden ihn treffen. Einmal sprangen sie ein paar Meter von einem Schienenstrang auf einen anderen. Und noch immer wurde die Lore schneller. Schließlich ging es in einer Spiralbewegung abwärts, bis der Schacht in einer Grotte mit einer gigantischen Wildwasserbahn im Zentrum endete. Rechts von ihnen stürzte ein Wasserfall in die Tiefe und ergoss sich in den See eines Erlebnisbades mit verschiedenen Wasserrutschen und einer Insel in der Mitte. Aus den Felswänden dahinter ragte das Hotelgebäude hervor. Auf Terrassen saßen Menschen an Tischen und frühstückten.
Simon war schweißgebadet. »Sie hätten mir auch sagen können, dass ich in einer Achterbahn sitze.«
»Dann hätte ich aber auf Ihr entsetztes Gesicht verzichten müssen.« Ihre Augen blitzten vor Schalk.
»Ich nehme an, es gibt auch noch einen anderen Weg in diese Ebene.«
»Sicher, aber der wäre nicht so aufregend gewesen – und außerdem länger.«
Die Lore fuhr jetzt in einem gemächlichen Tempo weiter, bis sie an ihrer Endstation stoppte. Hanna stieg aus. »Wir sind da.«
Auch Simon erhob sich. Er stellte ärgerlich fest, dass seine Beine zitterten. Obwohl er wusste, dass nichts von dem, was er erlebt hatte, echt gewesen war, schien sein Körper anderer Meinung zu sein.
Er blickte sich um. Zuerst spürte Simon die Wärme. Er stand in einer gewaltigen, von Säulen getragenen Höhle, in deren Mitte gemütlich aussehende Dinosaurier an urzeitlichen Pflanzen und Bäumen knabberten. Durch einen Wald aus Pilzen, jeder so hoch wie ein Mensch, schlängelte sich eine Bahn in Form eines Tausendfüßlers. Dahinter sah er einen Spielplatz mit einem Streichelzoo, in dem ein Dutzend kleinerer Kinder Dinosaurierbabys mit riesigen Augen umringte. Es war ein unwirklicher Anblick und doch so realistisch, dass er Simon fast vergessen ließ, dass alles nur eine Simulation war. Er blickte hinauf zur Höhlendecke. Die Spitze einer Rakete ragte heraus, mindestens dreißig Meter über ihm, als hätte sie sich von der Oberfläche hindurch zum Mittelpunkt der Erde gebohrt. Den spektakulärsten Anblick aber bot die Wildwasserbahn. Ihre Strecke führte durch die ganze Höhle. Um einen Teil schlängelten sich die Fangarme eines riesigen Oktopus, der sich am höchsten Punkt der Wildwasserbahn festklammerte. Jedes Mal, wenn eine neue Reihe Wagons ihn erreichte, löste er seine Fangarme und die wie Boote geformten Gondeln fuhren unter ihnen hindurch. Obwohl noch nicht viele Tagesbesucher den Weg in die unterste Ebene gefunden hatten, waren alle Boote der Wildwasserbahn bereits besetzt. Simon hörte das Geschrei der Fahrgäste und wünschte sich, nicht hier zu sein.
»Kommen Sie«, sagte Hanna und schlug einen Weg rechts vorbei an dem Pilzwald ein. »Die meisten Besucher, die Sie hier sehen, sind Wochengäste. Richtig voll wird es erst, wenn die Tagesgäste auftauchen. Jeder will zuerst mit der Wildwasserbahn fahren.«
»Ich nicht«, rutschte es Simon heraus.
»Sie sind ja auch kein Gast.«
Auf einer Parkbank saß der glatzköpfige Ballonmann, der Simon schon auf dem Parkplatz aufgefallen war. Von seiner Minirock tragenden Frau und den beiden Kindern war nichts zu sehen. Der Ballonmann wischte sich mit einem Taschentuch über seine schweißnasse Stirn und erhob sich, als er Hanna in ihrem weißen Kittel bemerkte. »Entschuldigen Sie, Sie sehen aus, als ob Sie zum Park gehören. Ich kann meine Frau und ihre Kinder nicht wiederfinden.«
Hanna blieb stehen. »Überall im Park gibt es Notrufsäulen. Dort können Sie die Position Ihrer Familie erfahren.«
Der Mann sah sich suchend um.
»Dort hinten ist eine«, half ihm Hanna und deutete auf eine Säule neben einem Eisstand.
Der Mann bedankte sich, griff nach seinem Trolley und eilte davon, so schnell es seine Pfunde zuließen. An der Notrufsäule blieb er stehen. Einen Augenblick lang verschnaufte er. Dann drückte er den Knopf auf der Säule.
Simon hatte ihm nachgeschaut. Jetzt blickte er wieder Hanna an. »Sie kennen die Positionen aller Ihrer Besucher?«, fragte er.
Sie nickte. »Sonst würde die Illusion nicht funktionieren. Unser Computer berechnet abhängig vom Standort, der Blickrichtung, dem Lichteinfall und vielem mehr die entsprechenden Bilder und sendet sie an die Nanoroboter. Es ist sogar möglich, für jeden Besucher ein individuelles Szenario zu kreieren. Theoretisch brauchten wir nicht einmal die Fahrgeschäfte, um unseren Gästen das Erlebnis einer Achter- oder Wildwasserbahn zu verschaffen. Wir könnten ihnen suggerieren, dass sie gerade die Fahrt ihres Lebens genießen, ohne dass sie sich auch nur von der Stelle bewegen, doch das wäre für die übrigen Besucher ziemlich langweilig. Aber dieses System funktioniert nur dann, wenn wir die Position jedes einzelnen Menschen kennen.« Hanna sah Simons Blick und kam seinem Einwand zuvor. »Fangen Sie jetzt nicht wieder mit dem Datenschutz an!«
Hinter einem Toilettenhäuschen, das im Felsen versteckt lag, verließen sie den gekennzeichneten Weg. Über ihre Köpfe rauschte die Wildwasserbahn hinweg. Wasser spritzte auf sie herab. Hanna führte Simon unter der Bahn hindurch, vorbei an Stalaktiten bis ans Ende der Grotte. Vor der Felswand blieben sie stehen. »Wir sind da«, sagte sie.
Simon legte den Kopf schief und sah zu der senkrecht in die Höhe ragenden, schroffen Felswand hinauf.
Hanna deutete auf einen Vorsprung in etwa zehn Metern Höhe. »Von dort oben ist er abgestürzt.«
»Oder gesprungen«, sagte Simon. Er sah sich um. Es gab keinerlei Vorsprünge, an denen man den Felsen hinaufklettern konnte, geschweige denn einen Pfad, der zum Vorsprung führte. »Wie ist er dort raufgekommen?«
»Durch die Tür«, antwortete sie zu seiner Verblüffung.
Als Simon mit der Hand über das Gestein fuhr, spürte er nur den schroffen Untergrund. Wenn es eine Tür gab, war sie gut versteckt.
»Sie werden sie nicht finden«, sagte Hanna. Aus der Tasche ihres Kittels zog sie ein zweites Armband, wie das, das Simon schon zuvor an ihr aufgefallen war. »Ohne einen DeAktor kommen Sie dort nicht hinein.« Sie griff nach seiner Hand und zog sie zu sich herüber. Das Armband schloss sich automatisch um sein Handgelenk, als sie es ihm anlegte. Auf dem Display erschien die Meldung ›Connected‹. Sie tippte auf einen der Buttons.
Die Umgebung veränderte sich. Die Felsen verschwanden. Nun bedeckte eine Schicht aus modelliertem grauem Fiberglas die Wände. Die Decke schien etliche Meter in die Tiefe gerutscht zu sein und bestand aus einer glatten, einfarbigen Fläche, an der in regelmäßigen Abständen Lichtleisten hingen. Den Wald aus prähistorischen Pflanzen im Zentrum der Grotte gab es nicht mehr. Stattdessen stand an seiner Stelle eine primitive Kunststoffkopie. Das Hotel existierte noch immer, doch jetzt ragte es aus einer künstlich geformten Fiberglas-Felswand hervor, die keine Ähnlichkeit mehr mit dem Gestein der Grotte hatte. In der Mitte des Erlebnisbades, das nun längst nicht mehr so blau wie zuvor schimmerte, schoss eine Wassersäule aus Düsen knapp unterhalb der Wasseroberfläche in die Höhe. Die Kinder am Ufer jubelten. Simon hätte es nicht gewundert, wenn in diesem Moment ein niedlicher Dinosaurier mit riesigen Knopfaugen aufgetaucht wäre. Auch die Wildwasserbahn sah jetzt anders aus. Zwar bot sie noch immer einen spektakulären Anblick, aber der Streckenverlauf war geschrumpft und den Oktopus gab es nicht mehr. Die Tiere des Streichelzoos hatten sich auch verändert. Anstatt Dinosauriern liefen die Kinder nun Lämmern und Ziegen hinterher.
»Ihre Nanoroboter befinden sich jetzt im Standby-Modus. Nun sehen Sie den Park ohne die gerenderten Elemente.«
Simon schaute wieder auf die Wand vor sich. Jetzt entdeckte er dort eine Tür.
»Wieso konnte ich sie nicht fühlen, als ich mit der Hand darübergestrichen habe?«
»Weil die Nanoroboter auch Ihren Tastsinn und Ihre Muskeln beeinflussen. Das Zusammenspiel aller Sinne ist es, das die Technik unseres Parks erst möglich macht. Wenn Ihre Augen keinen Durchgang sehen, Ihre Hände keinen fühlen und Ihre Muskeln verhindern, dass Sie den Arm weiter ausstrecken können, ist Ihr Verstand sich sicher, dass es keine Öffnung gibt.« Sie gab Simon mit einer Geste zu verstehen, dass er vorgehen sollte. Er öffnete die Tür und trat ein. Für die Menschen im Park musste es so aussehen, als verschwände er im Inneren des Felsens.
Vor ihm lag ein Wartungsraum. Eine Metalltreppe mit einem Geländer auf beiden Seiten führte steil in die Höhe. An einer Wand dahinter entdeckte er einen Tisch mit einem ausgeschalteten Computer, daneben mehrere mit Werkzeugen und Ersatzteilen gefüllte Regale und zwei deckenhohe graue Schränke. Davor standen vier Stühle um einen Tisch mit einem vor Kippen überquellenden Aschenbecher, einer angebrochenen Mineralwasserflasche und einer leeren Packung einer osteuropäischen Zigarettensorte.
»Das ist einer der Arbeitsräume des Wartungspersonals«, erklärte Hanna, während sie und Simon die Stufen der Treppe hinaufstiegen.
»Mit denen möchte ich auch noch sprechen.«
»Das geht frühestens morgen. Ein großer Teil des Personals und der Sicherheitskräfte hat heute frei. Schon vergessen? Wir haben Pfingsten.«
»Morgen reicht.«
Was von unten wie ein Vorsprung ausgesehen hatte, entpuppte sich jetzt als eine drei Meter durchmessende Plattform, auf der halbhohe Schaltschränke mit einem halben Dutzend Antennen standen. Hanna blieb auf der obersten Stufe der Treppe stehen und wies auf eine Stelle vor sich. »Von dort ist Robert abgestürzt.«
Simon ging bis an den Rand der Plattform und schaute in die Tiefe. Knapp zehn Meter unter sich sah er den Steinboden. Eine Stelle hatte sich leicht dunkel verfärbt. Im Polizeibericht, den sein ehemaliger Partner ihm besorgt hatte, stand als Todesursache »Unfall«. Simon kannte den Kollegen, der ihn verfasst hatte. Sein Name war Bernhard Strack. Als Simon seinen Polizeidienst quittierte, hatte Strack gerade seine Prüfung zum Polizeimeister abgelegt. Obwohl kaum jemand damit gerechnet hatte, dass er sie schaffen würde, hatte er anscheinend doch die richtigen Stellen angekreuzt und bestanden, andernfalls hätte man ihn nicht mit der Untersuchung dieses Falls betraut. Doch trotz seiner bestandenen Prüfung war das ein Fehler gewesen. Strack konnte man bedenkenlos als Verkehrspolizisten einsetzen, aber nicht, wenn es darum ging, die richtigen Rückschlüsse aus Indizien zu ziehen. Offensichtlich hatte er bemerkt, dass es kein Geländer gab, und war zu dem Schluss gekommen, dass Robert Neuhaus abgestürzt sein musste. Simon wusste, dass Strack nicht gerade für seine überschäumende Fantasie bekannt war, doch auch ihm hätten die Ungereimtheiten auffallen müssen. Was hatte der Tote hier gesucht und wie war er überhaupt hierhergekommen? Also doch Selbstmord? Sicher nicht, wer sich umbringen wollte, betrieb nicht so einen Aufwand. Es reichte, wenn er sich die Pulsadern aufschnitt, sich vom nächstbesten Dach stürzte oder in einer Parkbucht seinem im Boden versinkenden Auto hinterhersprang. Dazu musste man nicht auf diese Plattform klettern. Also waren Unfall und Selbstmord gleichermaßen unwahrscheinlich. Es gab noch eine dritte Möglichkeit, doch die gefiel Simon gar nicht.
Nach ein paar Augenblicken kehrte er zu Hanna zurück. Er sah, dass ihr Blick immer wieder ausbrach und zu der Stelle hinüberhuschte, an der Neuhaus in die Tiefe gestürzt war. »Gibt es im Park Kameras?«, fragte er.
»Jede Menge, aber nicht hier oben oder in den anderen Bereichen, in denen Mitarbeiter zu tun haben. Das lässt die Gewerkschaft nicht zu.«
Simon strich sich nachdenklich über sein Gesicht. »Haben Sie eine Idee, was Robert Neuhaus hier oben gesucht haben könnte?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Hat in letzter Zeit sonst jemand hier oben gearbeitet?«
Wieder ein Kopfschütteln.
Simon ging an ihr vorbei und stieg die Stufen hinunter.
Hanna sah ihm hinterher. »Roberts Aufgabenbereich war das Parkdeck. Dort hat er sich um den technischen Ablauf der Anlage gekümmert. Warum er hier war, weiß ich nicht.«
»Es gibt doch sicher Arbeitsanweisungen oder eine Liste der Aufgaben, um die er sich am Tag seines Todes hatte kümmern müssen. Können Sie mir die besorgen?«
»Ich schicke sie an Ihr Empathiephone.«
Simon blieb am Fuß der Treppe stehen und hob den Arm mit dem DeAktor. »Hatte Neuhaus auch so ein Anti-Nanoroboter-Armband?«
»Warum sollte er? Auf dem Parkdeck gibt es keine Nanoroboter.«
»Wenn er keinen DeAktor besaß, wie ist er dann aufs Dach gekommen? Er konnte die Tür doch gar nicht erkennen.«