Читать книгу Der Augenschneider - Valentina Berger - Страница 10
ОглавлениеKapitel 5
Emilia Martin zerrte den engen Rock über ihre schmalen Hüften und zog den Reißverschluss hoch. Mit flinken Fingern durchforstete sie den Kleiderschrank nach einem passenden Oberteil. Sie entschied sich für eine grün schillernde Bluse mit extravagantem Schnitt, die sie hundertfünfzig Euro gekostet hatte. Vivi hatte damals gewitzelt: „Der Preis ist indirekt proportional zum Stoff. Würde sie noch mehr kosten, wärst du nackt.“
Diese Vernissage hatte sie schon seit Monaten in ihrem Terminkalender. Nach allem was passiert war, hatte sie schon überlegt abzusagen. Aber in ihrem Job lief alles darauf hinaus, gesehen zu werden. Viele Prominente hatten ihr Kommen angekündigt. Und die zogen wiederum die Kameras an. Presse, Fernsehen, bekannte Namen und ein paar unbekannte, die darauf hofften, irgendwann zur ersten Kategorie zu gehören. So lief dieses Spiel. Im Grunde musste man gar nicht viel können, man musste nur präsent sein. Immer und überall.
Emilia schloss die Riemen an ihren hochhackigen Sandalen, die in ihrem Farbton genau zu ihrer Bluse passten und sie noch um zehn Zentimeter größer erscheinen ließen, als ihr einfiel, dass ihr Handy noch ausgeschaltet war. Sie machte es vor dem Schlafengehen gewöhnlich aus. Kaum hatte sie ihren Code eingetippt, als es auch schon zu vibrieren begann. Emilia blickte auf die angezeigte Nummer und ein Hitzeschwall durchströmte ihren Körper. Sie hatte Heinz vergessen! Bevor sie die Telefonnummer ihres Bruders wählte, wappnete sie sich vor dem Donnerwetter, das ihr unweigerlich bevorstand.
Als sie auflegte, hatte sie Tränen in den Augen. Nur gut, dass sie noch nicht geschminkt war. Sie hätte sonst alles verschmiert und mit der langwierigen Prozedur von vorne anfangen müssen. Sie verfluchte sich und ihren Bruder, der immer so pedantisch war, so genau und so ... verlässlich.
Das hatte sie echt toll hinbekommen. Heinz war sauer auf sie, wieder einmal. Dabei hatte sie beim letzten Treffen das Gefühl gehabt, der komplizierte Knoten in ihrer Beziehung hätte sich gelockert, sodass die Hoffnung bestand, irgendwann, und sei es in ferner Zukunft, wäre ein normales Geschwisterverhältnis möglich. Nun hatte sie alles kaputt gemacht.
Heinz war in diesen Belangen nachtragend. Nein, in allen Dingen. Sein Gedächtnis konnte es mit dem eines Elefanten aufnehmen. Er erinnerte sich an Kleinigkeiten, an die sie schon Minuten später nicht mehr dachte, wusste den Wortlaut eines jeden Streits. Jede Nuance ihrer Aussagen konnte er wiedergeben. Er war wirklich ein Phänomen. Schade nur, dass es kaum angenehme Situationen gab, die ihm im Gedächtnis haften bleiben konnten. Entschlossen wischte sich Emilia Martin die Tränen aus dem Gesicht. Sie schalt sich, weil sie in letzter Zeit häufig weinen musste und schon Tropfen brauchte, um die Rötung ihrer Augen verschwinden zu lassen.
Sie setzte sich vor ihren Schminktisch, ein kitschiges Ding mit Lichtern rund um den Spiegel, das einem alten Hollywoodschinken alle Ehre gemacht hätte. Er war ihr ganzer Stolz. Sie hatte genau nach solch einem Tisch gesucht und ihn selbst restauriert. Emilia begann mit einer Feuchtigkeit spendenden Creme, die sie mit ihren Fingerspitzen leicht einmassierte. Als sie zu dem Tiegel mit dem Make-up griff, war sie hoch konzentriert. Das war das, was sie am besten konnte, hierin war sie perfekt. Sie verschwendete keinen Gedanken mehr an Heinz, an den Ärger mit ihm oder daran, dass sie eigentlich Angst hätte haben müssen.
„Wo steckt Heinz Martin? Ich habe ihm doch bereits vor dem Mittagessen eine Mail geschrieben und ihm den Termin für unser Treffen genannt“, grollte Moser. Laura Campelli zuckte die Schultern. Sie hatte, sehr zu Mosers Missfallen, immer noch den viel zu weiten Laborkittel an.
„Kommt sonst noch wer?“, wollte sie wissen.
„Wen hätten Sie denn gern? Wagner vielleicht?“
Lauras Blick ließ ihn sogleich verstummen. Sie hatte italienisches Blut in den Adern und in ihren Augen glomm plötzlich ein Feuer auf, das Stahl zum Schmelzen gebracht hätte. Er merkte, dass er mit seiner Bemerkung zu weit gegangen war, aber eine Entschuldigung kam nicht in Frage. Sie war ein Zeichen von Schwäche – und in seiner jetzigen Position konnte er sich das nicht erlauben.
„Immerhin hat er jahrelange Erfahrung mit Mordermittlungen. Und für die
nächsten drei Wochen ist er noch der Chef dieser Abteilung.“
Mehr denn je fühlte sich Moser zurückgesetzt. Er räusperte sich. „Gut, dann hat es wenig Sinn, darauf zu warten, bis Martin kommt. Wir verschieben unser Treffen auf morgen Früh. Sie haben mir ja bereits die Untersuchungsergebnisse mitgeteilt, also ...“
„Sie sollten Heinz Martin den Termin persönlich mitteilen. Oder zumindest rechtzeitig ankündigen. Er hat etliche andere Kleinigkeiten zu erledigen, und wartet nicht darauf, dass Sie sich mit ihm treffen wollen. Und Wagner können
Sie nicht ausblenden, damit tun Sie sich selbst keinen Gefallen.“
Moser nickte kaum wahrnehmbar. Niemand sollte ihm nachsagen, er wäre uneinsichtig. So ein Monster, als das ihn alle hier hinstellten, war er ja gar nicht. Jetzt blieb allerdings die Frage, was er bis Dienstschluss tun sollte, wie er sich die Zeit vertreiben konnte. Schon wieder die Mordakten durchgehen? Zum wievielten Male eigentlich? Oder sich die Tatortfotos wieder und wieder ansehen? Es würde ja doch nichts dabei herauskommen.
Er beschloss, sich im Internet über das Scopolamin schlauzumachen. Damit wäre er eine Weile beschäftigt. Außerdem schadete es nicht, vorbereitet zu sein, wenn Wagner hinzukam. Wenigstens wäre er für alle Fragen gerüstet. Vielleicht konnte er mit seinem Wissen punkten.
Und danach würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als heimzugehen, in eine Wohnung, in der niemand auf ihn wartete. Weder Manuela, seine Frau, noch Kerstin. Die liebe, kleine Kerstin. Sein Sonnenschein. Seine Tochter.
Wagner und Heinz Martin standen vor einem dreistöckigen Mietshaus in der Gudrunstraße, im zehnten Wiener Gemeindebezirk. Emilia hatte Heinz die Adresse gegeben. In der Wohnung würden sie ausreichend DNS finden. „Emma hatte nicht zufällig einen Schlüssel?“
Heinz schüttelte den Kopf. „Du kommst ja sonst auch überall rein.“ Helmut zog die Brauen hoch, seufzte und drückte auf mehrere Klingelknöpfe der Gegensprechanlage. Der Türöffner summte und er schob mit der Schulter das schwere Holztor auf.
„Die Leute sind viel zu gutgläubig. Unvorsichtig, wenn du mich fragst“, sagte er zu Heinz, während er ihm die Türe aufhielt und grinste.
Breite Steinstufen führten rechts und links hinauf. An der Wand hingen zwei Tafeln mit den Namen der Mieter. Die beiden Männer betrachteten die Namensschilder. „Links, zweiter Stock, Tür dreiundzwanzig“, murmelte Heinz. Sie begannen mit dem Aufstieg. Wagner zählte zehn Stufen bis zum Zwischenstock und noch einmal zehn bis in den ersten. Gleich neben dem Aufgang wohnte die Hausmeisterin, wie er zufrieden feststellte. Viele Gebäude wurden ja nur noch von irgendwelchen Firmen verwaltet. Für Ermittlungsbeamte waren Hauswarte, die ihre Mieter kannten und meistens allerhand zu erzählen wussten, weitaus hilfreicher.
Tür dreiundzwanzig war weiß gestrichen. Eine Türmatte aus Kokosfasern mit einem Katzenmotiv hieß Besucher willkommen. Wagner überprüfte das Schloss und kam zu dem Ergebnis, dass es kein Hindernis für ihn darstellte. Er hatte seine Erfahrungen im Aufbrechen von Schlössern. Eine Tür mit den Füßen einzutreten, funktionierte in Filmen, nicht aber in der Realität. Im Normalfall riefen die Beamten einen Schlosser oder einen Schlüsseldienst. Wagner überlegte. Er könnte tatsächlich jemand holen, der ihm aufsperrte. Aber wenn er Pech hatte, musste er eine Wartezeit von einer Stunde oder mehr in Kauf nehmen, und das war entschieden zu lange.
„Wir läuten erst einmal und warten was passiert“, schlug Heinz vor. „Vielleicht hat sie ja nicht allein gelebt.“
Helmut nickte. Beide Männer zogen sich Handschuhe über, um keine irreführenden Fingerabdrücke zu hinterlassen.
Heinz Martin drückte mit dem Daumen auf die Türklingel. Nichts geschah. Er klingelte noch einmal. Und noch ein drittes Mal.
Na, dann die zweite Möglichkeit. Wagner holte aus der Hosentasche einen Satz Dietriche heraus und suchte einen, der ihm am Passendsten erschien. Binnen einer Minute hatte er das Schloss geknackt und die Tür schwang auf. Nicht einmal ein leichter Kratzer wies auf ihr Eindringen hin.
Emilia Martin fühlte sich so wohl wie schon lange nicht mehr. Sie war mindestens zweimal von einer der Fernsehkameras aufgenommen worden, und die Bilder von Sergej Kolinsky waren besser, als sie erwartet hatte. Das Büfett war grandios, auch wenn sie nur zwei, drei Häppchen zu sich genommen hatte. Dafür leerte sie gerade ihr drittes Glas Rotwein. Das Gemurmel der Menschen rundum war leiser geworden, je mehr sie getrunken hatte. Eine angenehme Gelassenheit breitete sich in ihr aus. Sie stand vor dem Gemälde, das ihr am meisten imponierte. Düstere, aber kräftige Farben. Es zeigte eine Mutter mit ihrem Kind. Sie war in mehrere Mäntel gehüllt, die Kleine hatte eine löchrige Wollmütze auf und Decken lagen um ihre schmalen Schultern. Trotzdem schien sie zu frieren, denn die Frau drückte das Mädchen an sich, als wolle sie es wärmen. Der Künstler hatte das Bild „Russischer Winter“ getauft, und es sagte mehr über Kälte aus, als es Schnee und Eis getan hätten.
„Soll ich Ihnen das abnehmen?“
Der Mann deutete auf ihr leeres Weinglas, das sie immer noch in ihrer Hand hielt. Sie zögerte, reichte es ihm dann aber wortlos. Er blickte sich suchend nach einer Abstellmöglichkeit um, drängte sich dann an einigen Gästen vorbei zu einem der Tische.
Emilia betrachtete immer noch das Kunstwerk, als er von hinten an sie herantrat. „Ein großartiges Gemälde, nicht wahr? Dieses hier gefällt mir besonders gut“, sagte er. Sie konnte seine Nähe spüren und sein Atem kitzelte ihren Nacken. Es war nicht unangenehm, trotzdem machte sie einen kleinen Schritt zur Seite. „Es ist auch mein Lieblingsbild“, gab sie zu. „Es wirkt so melancholisch und ist doch gleichzeitig voller Hingebung.“ Ein Blitz ließ Emilia den Kopf in die Richtung des Fotografen drehen. Schön, noch ein Foto für die Presse. Sie lächelte und wandte sich erneut dem Gemälde zu.
Der Fremde beugte sich zu ihr, um sie besser zu verstehen. Diesmal rückte sie nicht ab, als er ihr zuflüsterte: „Es ist die Liebe der Mutter zu ihrem Kind. Ich bin überzeugt, sie würde lieber selber erfrieren als dass der Kleinen etwas zustößt.“
Emilia blickte dem Unbekannten überrascht ins Gesicht. Mit so viel Einfühlungsvermögen hatte sie nicht gerechnet. „Emilia Martin“, stellte sie sich vor und reichte ihm die Hand.
Er lächelte. „Jakob Prandtauer, sehr erfreut.“
Emilia nahm sich nun die Zeit, ihren neuen Bekannten zu mustern. Er war ein wenig kleiner als sie, aber das war nichts Ungewöhnliches bei ihrer Größe.
Braunes Haar, muskulös und ein gewinnendes Lächeln. Schade, dass er auf den ersten Blick so unscheinbar wirkte. Er hätte mehr aus sich machen können. Seine Stimme klang weich, fast hypnotisch – und diese Augen! Ein helles Grau mit dunklen Sprenkeln. Wie Granit! Sie hatte noch nie zuvor solche Augen gesehen.
„Oh, jetzt sagen Sie bloß, Sie sind auch noch Architekt.“
Er lächelte sie geheimnisvoll an. „In der Tat. Aber bei Weitem kein so ein bedeutender wie mein Namensvetter. Vielleicht hatte meine Berufswahl etwas mit meinem Namen zu tun.“
Emilia schenkte ihm ein kokettes Lachen. „Ja, nomen est omen, nicht wahr? Ich sag Ihnen was: Ich gehe kurz vor die Tür rauchen. Sie holen mir in der Zwischenzeit ein Glas von dem wundervollen Rotwein und dann können wir noch einmal gemeinsam durch die Ausstellung gehen. Ich glaube, ich finde Ihre Betrachtungsweise spannend.“
„Ganz zu Ihren Diensten, schöne Frau!“
Emilia schlängelte sich durch die Menschenmenge ins Foyer. Dort standen ein paar Leute um Aschenbecher herum. Über ihren Köpfen schwebte der Rauch wie leichter Nebel und wurde von der Lüftungsanlage ins Freie befördert. Emilia kramte in ihrer Handtasche nach den Zigaretten und ihrem Feuerzeug. Den ersten Zug inhalierte sie tief. Leichter Schwindel erfasste sie. Sie brauchte dringend noch etwas zu essen.
Was tust du da überhaupt?, meldete sich ihr Gewissen.
Was soll ich schon tun? Ich sehe mir nur die Bilder an und das macht zu zweit mehr Spaß, antwortete sie sich selbst.
Sie drückte ihren Glimmstängel aus und flüchtete in den menschenüberfüllten Saal, dorthin wo sie die leise Stimme nicht hören konnte. Sie mochte ihren Klang nicht, er war langweilig und vernünftig. Er erinnerte sie an Heinz, den Letzten, an den sie jetzt, wo sie sich endlich wieder zu amüsieren begann, denken wollte.
„Ich gehe ins Badezimmer und hole ihre Zahnbürste. Das reicht für eine DNA-Probe“, sagte Heinz.
Wagner nickte. Mehr brauchten sie nicht. Heinz kam mit einem Säckchen zurück und hielt es in die Höhe.
„Schön, die bringen wir gleich ins Labor!“ Wagner ging zur Tür.
„Warte!“, rief Heinz. Er deutete auf das kleine Notizbuch neben dem Telefon.
„Das wäre vielleicht hilfreich. Ich meine, wenn wir schon da sind.“
„Du willst das aber nicht ernsthaft mitnehmen“, sagte Wagner, „wir dürfen hier nichts verändern, bevor die Spurensicherung nicht alles dokumentiert hat.“
„Weiß ich doch“, beruhigte ihn sein Freund. „Ich mach mir bloß ein paar Notizen.“
Dagegen hatte Wagner nichts einzuwenden. „Hat dein Handy keine Fotofunktion?“
„Jetzt, wo du es sagst“, grinste Heinz und begann, Seite für Seite abzulichten. Dieser Moser ist schon ein komischer Kauz, dachte Laura Campelli, als sie dessen Büro verließ. Irgendetwas stimmte mit ihm definitiv nicht. Zuerst hatte er sie in seine heiligen Räume beordert, eigentlich immer noch Wagners Büro, wo er sich schon ausgebreitet hatte, als gehöre alles ihm. Wenigstens hatte er das Namensschild noch nicht ausgetauscht.
Sie ließ sich nicht gern herumkommandieren, aber sie musste zugeben, sie war neugierig gewesen. Vielleicht gab es Neuigkeiten. Nun, er hatte sie enttäuscht. Stattdessen hatte er sich bei ihr über Heinz Martin beschwert. Dabei gab es keinen verlässlicheren Menschen. Etwas verschroben vielleicht, wahrscheinlich auch eigenwillig, um nicht zu sagen, sogar stur – aber ein netter Kerl.
Moser war bleich gewesen und hatte geschwitzt. Sie hatte seine Körperausdünstung gerochen und sofort war ihr ihr schwerkranker Vater eingefallen. Sie besuchte ihn fast jedes Wochenende, weil sie nicht wusste, wie viel Zeit ihr noch mit ihm blieb. Ihre Mutter hätte es lieber gesehen, wenn sie ihre Freizeit mit einem netten Mann geteilt hätte – einem potenziellen Schwiegersohn. Jedes Mal musste sie sich anhören, dass andere Frauen in ihrem Alter schon längst verheiratet waren und mindestens ein, zwei Kinder hatten. Enkelkinder, die sich ihre Mutter sehnlichst wünschte.
Laura hingegen hatte nicht vor, sich zu binden. Das war auch der Grund gewesen, warum sie die Beziehung zu Helmut Wagner beendet hatte. Er wollte eine Frau fürs Leben, sie wollte hin und wieder neben einem Mann einschlafen. Helmut hätte uneingeschränkt die Zustimmung ihrer Mutter gefunden, was nicht weiter aufsehenerregend war. Sie wäre mit jedem einverstanden gewesen, Hauptsache, er war kinderlieb.
Aber Laura wusste, dass Wagner ihrem Vater ebenfalls gefallen hätte – und seine Messlatte hing wesentlich höher als die ihrer Mutter.
Laura seufzte. Sie wollte nicht nostalgisch werden. Schließlich war sie diejenige mit den Bindungsängsten gewesen. Warum also kreisten ihre Gedanken nun ständig um Wagner, seit er zurück war?
Weil er immer noch gut aussah, weil er keine echte Gefahr für sie darstellte, denn er war mit dieser Sonja verlobt. Weil er so breite Schultern hatte und so wunderbar braune Augen und einen verdammt sinnlichen Mund. Und weil er für seinen Freund alles stehen und liegen gelassen hatte und aus Innsbruck gekommen war, um bei den Ermittlungen zu helfen. Das erste Mal tat es ihr leid, dass sie es mit ihm nicht wenigstens versucht hatte. Wenn jemals eine Beziehung funktioniert hätte, dann mit Helmut Wagner.
Jakob Prandtauer lächelte zufrieden. Aus der Nähe übertraf Emilia noch seine Erwartungen. Für einen Moment hatte er das Gefühl gehabt, Janas Augen sähen ihn an und er hatte weiche Knie bekommen, hatte sich aber sofort am Riemen gerissen. Schließlich war er nicht zu seinem Vergnügen hier. Das hieß, genaugenommen würde er auch auf seine Kosten kommen. Es würde ihm Spaß machen, ihren Körper zu erforschen, mit dem Messer in seiner Hand. Ihr seine Zeichen einzuritzen, aus ihr ein Kunstwerk zu machen, das es mit den Bildern hier allemal aufnehmen konnte. Eines, das mehr als jedes andere ein Glanzstück wäre, auch wenn niemand erkannte, was für ein Künstler sich in ihm verbarg. Aber das spielte keine Rolle. Er wollte sich nicht in den Vordergrund drängen.
Er schlängelte sich durch die umherstehenden Leute. Nur zu gern würde er Emilias Wunsch nach Wein entsprechen. Es ging alles leichter als erwartet. Das war bestimmt ein gutes Omen.
Er suchte sich eine ruhige Nische an einem der hohen Fenster, holte das kleine braune Fläschchen hervor und zählte die Tropfen ab, die er in den Rotwein träufelte. Schon die Hälfte hätte gereicht, um Emilia in einen rauschähnlichen Zustand zu versetzen. Diese Menge würde bewirken, dass ihr Bewusstsein getrübt wäre und sie sich willenlos seinen Anordnungen fügte.
Später würde sie tief und traumlos schlafen und nach dem Erwachen würde sie sich an nichts mehr erinnern. Es hatte einiger Frauen bedurft, um auf das Scopolamin zu kommen. Die ersten hatte er mit Chloroform betäubt. Aber das hatte sich als umständlich erwiesen. Die Betäubung hatte nicht lange gehalten und er hatte ständig Erbrochenes wegwischen müssen. Also hatte er nach einem Mittel gesucht, das seinen Zwecken dienlicher war – und nach tagelangen Recherchen und einigen Versuchen war er auf das Scopolamin gestoßen.
Bei Luisa war die Dosis zu gering gewesen. Die Wirkung hatte schnell nachgelassen, er hatte sich einen unnötigen Kampf mit ihr geliefert, sie unterschätzt, wie er schmerzlich hatte erfahren müssen. Bei Emilia würde das nicht passieren. Erfahrungen. Die hatte er zur Genüge gemacht. Sie hatten ihn vorangebracht, zu dem gemacht, was er heute war. All die Dinge, die ihm seine Mutter gezeigt hatte, die er als Junge nicht einordnen konnte – sie alle waren Erfahrungen, die notwendig gewesen waren, um das tun zu können, was nötig war, um Jana zu helfen. Sie hatten ihn stark gemacht.
Jakob ließ das Fläschchen unauffällig in seiner Tasche verschwinden und bahnte sich seinen Weg zurück zu dem Gemälde, wo die große schlanke Gestalt bereits auf ihn wartete. Er lächelte, während er auf sie zu trat und ihr das Glas in die Hand drückte.
Sie nippte an dem Wein. „Kommen Sie, wir sehen uns die anderen Kunstwerke an“, sagte sie und hängte sich bei ihm unter.
Er wandte sich dem nächsten Gemälde zu, drehte sich aber noch einmal zum
„Russischen Winter“ um. Ja, das Bild gefiel ihm wirklich.