Читать книгу Der Augenschneider - Valentina Berger - Страница 9
ОглавлениеKapitel 4
Christian ging in sein Zimmer, um sich für die Vernissage herzurichten. Er wollte genau den richtigen Eindruck erwecken: vertrauenswürdig und seriös, aber gleichzeitig unscheinbar. Niemand sollte sich an den Mann erinnern, mit dem Emilia gesprochen, der ihr ein paar Drinks geholt hatte und mit dem sie dann gegangen war.
Er entschied sich für einen dunkelgrauen Anzug, schlichtes Hemd, unauffällige Krawatte. Er blickte in den Spiegel. Sein Haar hatte er sich erst letzte Woche nachgefärbt. Ein mittlerer Braunton, der seine weißblonde Naturfarbe übertönte und ihn in die Anonymität der breiten Masse eintreten ließ.
Er hätte ein Banker sein können oder ein Agent, ein Fotograf, ein Immobilienmakler oder ein einfacher Kunstliebhaber. Hier, in diesem Zimmer, in dieser Stadt, in diesem Leben, fernab von Jana, war er Jakob Prandtauer, Architekt. Den hatte es tatsächlich gegeben. Ein einfacher Bauernsohn aus dem 17. Jahrhundert, der es geschafft hatte, zu einem führenden Klosterarchitekten seiner Zeit aufzusteigen. Oh ja, damit nahm er es genau. Er hatte sich immer große Namen als Vorbilder ausgesucht, auch wenn sie den meisten Leuten nichts sagten. Gegen Dummheit und Ignoranz ist kein Kraut gewachsen, predigte seine Mutter immer. Und da hatte sie recht. Erst einem, den er bisher getroffen hatte, war Jakob Prandtauer ein Begriff gewesen. Als der gefragt hatte: „Wie der berühmte Architekt?“, hatte er gezwinkert und geantwortet: „Leider nicht berühmt.“
Er hatte sich auch schon als Augenarzt ausgegeben: Theodor Watt, passend zu seiner Berufung. Aber da hatten die Menschen rundum plötzlich alle irgendwelche Krankheiten oder Wehwehchen gehabt und seinen ärztlichen Rat gefordert. Ehe er sich’s versah, stand er im Mittelpunkt. Der nette Herr Doktor meint dies, der nette Herr Doktor sagt das. Das Bild vom Halbgott in Weiß war in den Köpfen der Leute immer noch fest verankert. Deshalb schlüpfte er nur noch dann in die Rolle des Arztes, wenn er für seine medizinischen Eingriffe Instrumente, Klammern und chirurgisches Besteck nachbestellen musste.
Aus diesem Grund hatte er sich dazu entschlossen, als Architekt aufzutreten. Er kannte sich gut genug aus, um ein paar belanglose Gespräche über diesen Beruf zu führen. Er informierte sich immer sehr ausgiebig über die Personen, in deren Rolle er schlüpfte. Schließlich sollte alles perfekt sein. Glaubwürdig. Wenn man schon im Vorfeld schlampig arbeitete, schlichen sich Fehler ein – und die durfte er sich nicht erlauben.
Erzählte er den penetranten neugierigen Mäulern, er arbeite in einem großen Büro und sei nur einer von vielen Mitarbeitern, flaute das Interesse an ihm im Allgemeinen schnell ab.
Seine Gesprächspartner wandten sich spannenderen Mitmenschen zu, den Schauspielern, Künstlern oder anderen Prominenten. Und ihn vergaßen sie, noch bevor sie ihm den Rücken zukehrten, ganz so, wie er es beabsichtigte. Das gehörte für ihn zum Spiel, dessen Regeln nur er kannte und aus dem er bisher immer als Sieger hervorgegangen war.
Seine Mutter hatte ihm oft gesagt, er sei etwas ganz Besonderes. Aber sie hatte ihn auch Bescheidenheit gelehrt. Andere Leute würden nur neidisch werden, ihn zum Außenseiter stempeln, hätten kein Verständnis für seine Einzigartigkeit. Er brauchte keine Bestätigung von fremden Personen. Das Wissen um die alles umfassende Liebe seiner Mutter zu ihm, einer besonderen Liebe, deren Geheimnis sich nur ihm und ihr erschloss und die er in seinem Herzen für ewig bewahren würde, reichte ihm.
Auf die Gästeliste für diese Vernissage gesetzt zu werden, war einfacher gewesen, als er gedacht hatte. Es hatte ihn bloß einen Telefonanruf gekostet. In allen Medien wurde von der Firma Deco-Art-Studios berichtet, welche die Inneneinrichtung des Museums für neue Kunst übernommen hatte. Die Sekretärin hatte sich in ihrem Eifer überschlagen, Herrn Jakob Prandtauer auf die Gästeliste zu schreiben, nachdem Christian sich als Mitarbeiter von Deco-Art-Studios ausgegeben und gebeten hatte, einem ihrer besonders wichtigen Kunden eine Einladung zu verschaffen. Er sei ein wahrer Kunstliebhaber und die Vernissage wäre die Krönung des Geschäftstreffens.
„Natürlich, gar kein Problem“, sagte die Frau mit der jungen, samtigen Stimme. Unter anderen Umständen hätte er sie gerne kennengelernt, um zu sehen, ob seine Vorstellung mit ihrem tatsächlichen Aussehen übereinstimmte.
Nachdem die Verwandlung in Jakob vollständig war, nahm er ein kleines braunes Fläschchen von seinem Tisch und hielt es gegen das Licht. Halb voll. Mehr als genug!
Rainer Moser erhob sich schwerfällig von seinem Sessel. Der Rücken tat ihm weh. Er streckte sich, um das steife Gefühl in seiner Wirbelsäule loszuwerden. Er hatte Stunden an seinem Schreibtisch verbracht, ohne zu einem nennenswerten Ergebnis zu kommen. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als in das verhasste Labor zu gehen. Sie hatten dort genug Zeit gehabt, um etwas Vorweisbares zu finden.
Der Geruch nach Chemikalien stieg ihm in die Nase, als er die Glastür öffnete. Moser spürte eine leichte Übelkeit und wusste, spätestens in fünfundvierzig Minuten würden sich auch die Kopfschmerzen einstellen. Wenn er Glück hatte. Manchmal ging es auch schneller, das hing von seiner Tagesverfassung ab. Heute würde es wohl keine halbe Stunde dauern. Er spürte den Druck in seinem Nacken. Von dort breitete der Schmerz sich gewöhnlich strahlenförmig aus, umklammerte die linke Seite seines Schädels und hielt ihn wie in einem Schraubstock gefangen.
Die Angestellten nickten ihm zu. Ein Zeichen, dass sie ihn zur Kenntnis genommen hatten, nicht mehr. Er fragte sich, ob diese Weißkittel immer so wortkarg und unnahbar waren oder ob es mit ihm zusammenhing. Seit er die Vertretung Wagners übernommen hatte, wurde er nur geduldet. Auf die Loyalität oder gar Freundlichkeit seiner Mitarbeiter konnte er nicht zählen – allerhöchstens auf eine gewissenhafte Arbeit. Und das lag an Helmut Wagner, dem Übermenschen. Wagner, jedermanns Freund, der für alle ein offenes Ohr gehabt hatte, der sich gerne mit Anfängern umgab, weil sie angeblich frischen Wind brachten und mit neuen, unverbrauchten Ideen aufwarten konnten. Jeden noch so abwegigen Gedanken hatte der aufgegriffen. Eine sehr unprofessionelle Arbeitshaltung, wie Moser fand.
Nun ja, er war nicht hierher gekommen, um Freunde zu finden. Er war auch nicht gekommen, um geliebt zu werden. Seine Beweggründe waren viel einfacher: Er wollte Verbrecher hinter Gitter bringen. Mörder, Totschläger, Kinderschänder.
„Laura Campelli?“, fragte er einen vorübereilenden jungen Mann, den er bisher noch nie gesehen hatte. Wahrscheinlich ein Praktikant oder ein Student. Sie vergaben pro Jahr immer mehrere dieser heiß begehrten Stellen.
Der pickelige Junge deutete auf einen der hinteren Räume und hastete weiter. Gerade als Moser die Tür erreichte, ging diese auf. Die ungekrönte Königin der Spurensicherung trat heraus, gefolgt von einem Mann, den er auf Anhieb erkannte.
„Danke Laura“, sprach der große Blonde. Als Moser die Stimme hörte, krampfte sich sein Magen zusammen.
„Helmut Wagner! Was führt Sie denn zurück nach Wien?“, fragte er und reichte seinem Rivalen die Hand.
Der ergriff sie und schüttelte sie kurz und kräftig. „Ich hab beschlossen, meinen Urlaub zu unterbrechen, um Ihnen bei den aktuellen Ermittlungen unter die Arme zu greifen“, antwortete Wagner und lächelte unverbindlich.
Moser nickte. „Das wäre nicht notwendig gewesen. Ich komme ganz gut allein zurecht.“
„Keine Angst. Wenn alles vorbei ist, fahr ich wieder.“
Moser wollte Wagner glauben, doch er wurde das Gefühl nicht los, dass mehr dahintersteckte. Warum traute der Mann ihm nicht zu, diese Morde zu lösen? Vielleicht wollte Wagner den Erfolg für sich beanspruchen, und er selbst würde in die Röhre schauen. Nein, das konnte er nicht zulassen. Welche
Beweggründe Wagner auch hatte, diese Fälle gehörten Moser. Und niemand würde sie ihm wegnehmen.
Heinz Martin wartete auf den Anruf seiner Schwester. Jetzt war es neun Uhr und er hatte sein Handy in den letzten zwei Stunden zig Mal aus seiner Hosentasche geholt und auf entgangene Anrufe überprüft. Immer wieder blickte er auf die Ladeanzeige, aber der Akku war noch halb voll. Allerdings hatte er in dem Kellergewölbe, in dem sich sein Reich befand, nicht überall einen guten Empfang. Der Autopsiesaal war einer der Räume, in dem sein Mobiltelefon nutzlos war. Gut, das störte ihn nicht weiter. Bei der Aufgabe, die er dort zu erledigen hatte, konnte er keine Unterbrechungen brauchen. Wenn jemand etwas von ihm wollte, musste der sich schon persönlich zu ihm begeben, was aber außer in Notfällen niemand tat. Der Autopsieraum verfügte auch über ein Telefon mit Freisprecheinrichtung, es wurde jedoch so gut wie nie benutzt. Er hasste Störungen jeder Art, wenn er sezierte. Sie vergrößerten die Verletzungsgefahr und lenkten seine Aufmerksamkeit von der eigentlichen Arbeit ab, sodass er leicht etwas übersehen konnte.
Doch hier, in seinem Büro, sollte es mit dem Empfang keine Probleme geben. Verdammt, sie hätte schon längst anrufen sollen. Er hatte zweimal ihre Nummer gewählt, beide Male hatte es geläutet, aber sie hatte nicht abgehoben. Sollte er es noch ein drittes Mal versuchen? Auch auf die Gefahr hin, dass er sich dann von ihr anhören musste, er sei eine Glucke, sie wolle nicht, dass er sich in ihre Angelegenheiten mischte? Einerseits der Ruf „Hilf mir! Ich brauche dich“ und andererseits ihre Empörung, dass er tatsächlich da war, dass er sich um sie kümmerte, sich um sie sorgte. Was war in ihrem Leben bloß schiefgelaufen, dass sie so viel Angst davor hatte, ihre Unabhängigkeit zu verlieren? Immer hatte sie das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. Wenn er es nicht riskieren wollte, dass sie sich ganz von ihm zurückzog, dann durfte er sie nicht bedrängen. Schließlich war Emilia nicht nur seine Schwester, sondern auch so etwas wie eine Zeugin. Sie hatte ihm klar gemacht, dass sie alleine zurechtkommen wollte. Auch jetzt. Er war bloß der Joker, den sie erst auszuspielen gedachte, wenn alle Stricke rissen. Sie hatte wieder einmal ihren Willen durchgesetzt. Alle sollten nach ihrer Pfeife tanzen. Nichts hatte sich verändert. Alles wie gehabt, alles wie immer. Blöd wie er war, hatte er sich auf ihr Spielchen eingelassen, und jetzt blieb ihm gar nichts anderes übrig, als sich nach ihren Regeln zu richten. Nun, er würde sich nicht wahnsinnig machen lassen. Emilia stand vor elf gar nicht erst auf. Wenn sie also in der Früh sagte, konnte das unter Umständen Mittag bedeuten.
Er beschloss, ihr noch bis zwölf Zeit zu geben. Wenn sie sich bis dahin nicht gerührt hatte, würde er bei ihr vorbeifahren, egal, ob sie sich kontrolliert vorkäme oder nicht. Immerhin hatten sie das so ausgemacht. Darauf konnte er sich berufen, wenn sie sich über sein Erscheinen beschweren sollte.
Er steckte sein Telefon ein und versuchte sich auf seinen Bericht zu konzentrieren. Aber seine Gedanken schweiften immer wieder ab.
Erleichterung durchströmte ihn, als das Handy läutete. Endlich! Doch es war nicht Emma, sondern Wagner.
„Du wirst nicht erraten, wen ich getroffen habe“, dröhnte die Stimme gut gelaunt an ein Ohr.
„Du wirst es mir gleich sagen“, grummelte Heinz.
„Zunächst einmal Laura. Sie hat mir die Laborergebnisse von beiden Opfern gezeigt. Und dann kam auch noch Moser hinzu. Ich glaube, der hat sich nicht sonderlich gefreut, mich zu sehen.“
„Wieso? Hat er so ausgeschaut, als hätte er in eine Zitrone gebissen?“ Wagner lachte. „Das hast du treffend beschrieben.“
„Ich kenne ihn gar nicht anders. Nichts gegen Zitronen. Auf einem Wiener Schnitzel gehören sie dazu, ich trinke gern Limonade und liebe Zitronenkuchen. Aber zu viel davon kann Magenbeschwerden verursachen und die Säure ist ätzend.“
„Was ist denn mit dir los? Katerstimmung heute Morgen?“
„Emilia hat nicht angerufen.“
„Ja und? Warum rufst du sie nicht an?“
„Hab ich doch. Sie geht nicht an das verdammte Telefon.“
„Vielleicht schläft sie noch. Probier’s halt weiter.“
„Den Teufel werd ich tun.“ Er hörte den Trotz in seiner eigenen Stimme. So sehr er es sich auch einzureden versuchte, Emma war ihm nicht egal.
„Ich komme rüber“, unterbrach Wagner seine Gedanken und legte auf. Heinz starrte das Telefon böse an und legte es griffbereit auf einen
Zeitschriftenstapel auf seinem Tisch. Mit purer Willenskraft versuchte er es zum Läuten zu bringen. Doch das Gerät blieb stumm.
„Was wollte der hier?“, fragte Moser, nachdem Helmut Wagner sich verabschiedet hatte.
Laura Campelli starrte ihn an. „Wagner?“
„Wer sonst?“
„Er will helfen. Und Sie?“
Moser überlegte kurz. Er hatte das unbestimmte Gefühl, etwas sei ihm entgangen, aber er wusste nicht, was. Die Kopfschmerzen hielten mittlerweile seinen gesamten Hinterkopf in einer Zwinge. Kein Wunder, dass er nicht denken konnte.
Er folgte Laura, die sich wortlos umgedreht hatte und auf eben diesen Raum zuhielt, aus dem sie zuvor mit Wagner gekommen war und in dem sie Gott weiß was getrieben hatten.
Laura war eine überaus attraktive Frau. Zierlich und klein, aber mit Rundungen an den richtigen Stellen, soweit er das unter diesen weiten Laborkitteln erahnen konnte, hinter denen sie sich versteckte. Moser hätte gern gewusst, was sich unter ihrem Arbeitsmantel verbarg. Ihm fiel auf, dass er Laura Campelli noch nie in Privatkleidung gesehen hatte. Ein großes Manko, wenn er es sich überlegte. Helmut Wagner wusste bestimmt, was sie bevorzugt trug, wie sie in Unterwäsche, und vielleicht auch ohne, aussah. Eine Welle der Abneigung gegen diesen Mann drohte über ihm zusammenzuschlagen, aber sofort rief er sich zur Ordnung.
Gefühle, negative wie positive, hatten hier keinen Platz. Er musste sich nun auf Lauras Worte konzentrieren, die ihm gerade vorlas, was sie herausgefunden hatten: „Scopolamin.“
„Ich hab das schon einmal gehört, weiß aber gerade nicht ...“
„Scopolamin ist eine Naturdroge. Es kommt in manchen Nachtschattengewächsen vor, etwa Bilsenkraut, Stechapfel, besonders aber in der Engelstrompete.“
„Was? Aus Engelstrompeten kann man Drogen herstellen? Ich wusste ja, dass die giftig sind, aber ...“
Laura blickte von ihren Unterlagen auf. „Die Wirkung ist sogar recht heftig. Schon bei geringer Dosierung kommt es zu Euphorie, Benommenheit und Ermüdung. Scopolamin trübt das Bewusstsein und führt zu Gedächtnisverlust.“ Moser nickte, etwas, das er besser nicht hätte tun sollen. Der Schmerz stach ihm erbarmungslos in den Nacken, und er musste einen Moment die Augen schließen, bis er abgeebbt war. „Die berühmten K.-o.-Tropfen.“
„Genau. Die sind nicht einmal schwer herzustellen.“
Moser fühlte die Kopfschmerzen bis in jede Haarspitze. Er biss die Zähne zusammen. „Wir sollten uns bald zu einer Besprechung zusammensetzen“, presste er hervor.
Laura zuckte ihre Schultern. „Wann immer Sie wollen!“
Rainer Moser verließ fluchtartig den Raum, rannte durch das Labor und erntete ungehaltenen Protest, als er auf dem Weg zum Ausgang einige von Lauras Mitarbeiter anrempelte.
Erst vor der Herrentoilette machte er Halt. Bevor er die Tür aufriss, kam ihm der Gedanke, dass jemand drinnen sein könnte. Sein Zustand würde die Mannschaft ein halbes Jahr lang mit Gesprächsstoff versorgen. Egal, sein Ruf war ohnehin schon schlecht, da kam es darauf auch nicht mehr an. Er hatte Glück. Die Toilette war leer. Dankbar lehnte er sich mit den Händen gegen den Waschtisch und atmete ein paar Mal durch. Die Luft war dermaßen abgestanden, dass sie einen eigenartigen Geschmack in der Kehle hinterließ. Trotzdem kam sie ihm wie eine Wohltat nach dem Geruch im Labor vor.
Er drehte den Wasserhahn auf, wartete, dass das herausströmende Wasser richtig kalt war, und klatschte sich mehrere Hände voll ins Gesicht, ohne darauf zu achten, dass sein Hemd, seine Krawatte, der Kragen von seinem Sakko nass wurden.
Schließlich steckte er seinen ganzen Kopf unter den Wasserstrahl. Vielleicht ließen sich die Schmerzen auf diese Weise fortspülen. Fort in den Abguss, weiter das Abwasserrohr entlang, bis in den Kanal, wo sie sich mit anderem unnötigen Unrat vereinigen würden. Verdünnt zu einer homöopathischen Dosis, sodass sie keinen Schaden mehr anrichten konnten.
Wegen seiner Kopfschmerzen würde er zum Arzt gehen müssen – aber erst, wenn dieser Fall geklärt war.
Als Helmut Wagner die Räume des gerichtsmedizinischen Institutes betrat, beschlich ihn das übliche mulmige Gefühl in der Magengegend. In all seinen Dienstjahren bei der Mordkommission hatte er sich nicht an den Anblick von Toten gewöhnt. Jeder Leichenfund war gleichzeitig ein Kampf mit dem Brechreiz und jede Autopsie stellte ihn vor eine persönliche Herausforderung. Oft genug war er während einer Obduktion gezwungen gewesen hinauszugehen. Heinz quittierte seine Animosität stets mit einem amüsierten Lächeln.
Heute würde ihm der Anblick einer Leiche erspart bleiben. Eine Gnadenfrist, wenngleich er wusste, dass es nur aufgeschoben war.
Er fand seinen Freund in dessen Büro. Die Tür stand offen, wie meistens. Heinz gehörte zu den Menschen, die sich in geschlossenen Räumen nicht wohlfühlten.
„Bei dir schaut es furchtbar aus. Erinnert mich an mein Zimmer. Aber ich war ja schon immer chaotisch. Zu dir passt das hier nicht!“ Wagner sah sich in all der Unordnung um. Es musste ziemlich schlimm um Heinz stehen, wenn er sein Reich so verkommen ließ.
„Die Arbeit nimmt zurzeit überhand. Und dann noch Emilia ...“
Heinz gab sich oft abgebrüht, aber Wagner merkte, wie sein Freund litt, wie er versuchte, den Schein der Normalität und der Professionalität aufrechtzuerhalten. Doch ihm konnte er nichts vormachen.
„Und? Hast du sie in der Zwischenzeit erreicht?“
Heinz Martin schüttelte den Kopf. „Da macht man einen Notfallplan und dann funktioniert er nicht. Weil sie sich nicht daran hält!“ Den letzten Satz brüllte er. Auch etwas, das Wagner selten bei Heinz erlebt hatte. Heinz war ein ruhiger Mensch, der nur selten Emotionen zeigte und sich zurückzog, wenn ihm etwas naheging.
„Ich ...“ Wagner wurde vom Klingelton des Handys unterbrochen. Heinz griff blitzschnell nach dem Apparat. Während er den Hörer ans Ohr führte, bedeutete er Helmut, still zu sein. Sein Nicken zeigte Wagner, dass es Emilia war.
Ein paar Sekunden lang sagte Heinz nichts. Dann sprach er in beherrschtem, leisem Ton. Wagner kannte seinen Freund gut genug, um zu wissen, dass er dem Explodieren nahe war.
Entnervt beendete Heinz das Telefonat.
„Sie war unter der Dusche, ist doch nicht zu fassen!“
„Leute duschen nun mal“, versuchte Wagner zu beruhigen.
„Aber nicht, wenn sie wissen, dass sie vorher anrufen sollen“, polterte Heinz nun los, um seinem Ärger über Emilia Luft zu machen.
„Jetzt sei doch froh, dass ihr nichts passiert ist.“
„Bin ich auch. Aber das ist so typisch für sie. Andere sind ihr egal. Nicht eine Sekunde hat sie sich Gedanken darüber gemacht, dass ich vor Sorge umkomme.“ Er gestikulierte so heftig, dass Wagner Angst um die Schreibtischlampe hatte, die er nur um Haaresbreite verfehlte. Heinz atmete tief durch. Etwas ruhiger setzte er hinzu: „Genau das prägt meine Beziehung zu Emilia. Ich reiß mir den Hintern auf, um ihr zu helfen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ich eile hin, wenn sie mich braucht, um herauszufinden, dass es wegen nichts ist. Ich lass alles stehen und liegen, weil sie Angst hat oder sich einsam fühlt oder einfach weil ihr sonst niemand Besseres einfällt, der ihr die Langeweile vertreiben kann. Und sie? Sie kommt zu spät oder gar nicht. Sie sagt, sie habe überreagiert. Sie kann nicht einmal zu dem verdammten Hörer greifen und mich anrufen, um mir zu sagen, dass es ihr gut geht!“
Wagner ließ ihn reden. Als Heinz geendet hatte, meinte er, es sei der richtige Zeitpunkt, um ihm von dem Scopolamin zu erzählen.
„Irgendwo hab ich den Bericht. Laura hat ihn schon herübergeschickt, nur zum Lesen bin ich noch nicht gekommen. Und das haben sie im Blut der zweiten Toten gefunden?“
Wagner nickte. Und da Arbeit immer noch das beste Mittel war, um Heinz von seinen privaten Sorgen abzulenken, sagte er: „Komm, es wird Zeit, dass wir herausfinden, ob das zweite Opfer tatsächlich Luisa war.“