Читать книгу Losing Game - Valuta Tomas - Страница 6
LEVEL 2
ОглавлениеAm nächsten Morgen kämpft Neve mit sich selbst, sich auf den Unterricht in der Schule zu konzentrieren. Die sechs Tequila und zwei Bier von letzter Nacht in der Bar, in die Jake und sie noch gefahren sind, schlugen schneller und härter bei ihr ein, als sie selbst gehofft hatte. Sie lag die halbe Nacht wach und kämpfte einen unfairen Kampf gegen ihren Kreislauf und den Brechreiz, der sich aber bis jetzt noch nicht voll entfaltet hat. Wenn sie heute Morgen wenigstens hätte kotzen können, würde es ihr jetzt sicherlich nicht so dreckig gehen. Aber ihr Körper weigerte sich, das Gift herauszulassen, genauso wie er gestern sowieso viel zu oft den Dienst verweigerte.
Umso erleichterter ist sie, als alle Schüler über den Aufgaben brüten, die sie mühselig an die Tafel geschrieben hat. Sam konnte es sich aber nicht nehmen lassen, mal wieder einen verdammt beschissenen Spruch loszulassen.
»Sie sehen ziemlich fertig aus, Ms. Stewart. War ihnen die Nacht mit mir zu anstrengend, oder geht es ihnen einfach nicht gut?«, grölte sie durch die Klasse, woraufhin diese natürlich mal wieder mit ihrem mittlerweile bekanntem Klopfkonzert auf den Tischen reagierte. Neve senkte daraufhin geschwächt den Kopf, während sie an der Tafel stand und den Schülern den Rücken zukehrte.
»Noch so ein Kommentar und sie finden sich beim Rektor wieder. Ich werde persönlich ihre Eltern anrufen und dann können sie ihnen erklären, weshalb sie für den Rest der Woche vom Unterricht suspendiert sind! Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?«, sprach sie kräftig, obwohl sie eigentlich keine Kraft mehr hatte auch nur noch eine Minute auf den Beinen zu stehen. Ihr geht es so beschissen wie schon seit Jahren nicht mehr. Die Erkenntnisse über Sam, der zweite Job, der Schlafmangel und dann noch der verdammte Alkohol. Irgendwie ein beschissener Cocktail der ihr überhaupt nicht schmeckt. Sie muss nach dem Unterricht definitiv eine volle Mütze Schlaf kriegen, denn heute Abend hat sie den Einsatz, bei dem sie hofft, Sam nicht anzutreffen.
Ein lautes Kichern drang, auf den Kommentar von Neve, durch die Klasse, was aber keineswegs von Sam kam. Es kam von Laura und doch antwortete Sam auf den, für sie, nutzlosen Kommentar von Neve.
»Sie können ja gerne versuchen meine Eltern zu erreichen. Da mich meine Erzeugerin aber als Baby wie einen Müllsack vor die Tür eines Heimes geschmissen hat und ich dort aufgewachsen bin, können sie den Rest des Tages damit verbringen, sich zu überlegen, wem sie meine schrecklichen Gräueltaten erzählen können.«, lachte Sam und dann konnte sich die Klasse nicht mehr halten. Jedem Schüler platzte ein Lachanfall heraus. Neve spürte, wie sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog. Sie blickte unauffällig über ihren ausgestreckten Arm an der Tafel zu Sam zurück und konnte nur erahnen, was sie mit ihren einundzwanzig Jahren schon alles durchmachen musste. Und doch sitzt sie in dieser hochqualifizierten Schule und scheint ein Ziel in ihrem Leben zu haben!? Welche Gegensätze und unterschiedlichen Welten prallen hier nur aufeinander?
Neve wusste es nicht und hatte derzeit auch keine Kraft um weiter darüber nachzudenken. Und so schrieb sie viel zu viele Aufgaben an die Tafel und freute sich über mindestens eine halbe Stunde Ruhe von den Schülern.
Nun sitzt sie kurz vor einer Ohnmacht am Pult und lässt ihre müden Augen über die Schüler wandern, bis sie bei Sam hängenbleibt. Wie ein Kartoffelsack sitzt sie in ihrem Stuhl, puhlt an einem Bleistift und blickt verträumt aus dem Fenster. Auch wenn es kein Test ist, wundert sich Neve doch wieso sie nicht wie die anderen, über den Aufgaben sitzt und diese löst.
Schwerfällig hievt sie sich vom Stuhl hoch und wandert durch die Reihen. Sie will der Sache auf den Grund gehen und bleibt direkt neben Sam stehen. Erstaunt blickt sie auf das Heft, das auf dem Tisch liegt. Sie kann nicht glauben was ihre Augen sehen. Sie blickt zur Sicherheit an die Tafel und dann auf das Heft zurück. Erschlagen von der Tatsache, dass Sam sämtliche Aufgaben von der Tafel abgeschrieben und schon ausgerechnet hat, blickt sie konzentriert auf die Ergebnisse, um irgendeinen Fehler zu finden. Aber das ist nicht der Fall. Sam hat nicht einen Fehler.
Soweit wie es Neves Körper noch zulässt, blickt sie ihre Schülerin mit geweiteten Augen erstaunt an, die auf die ganze Aktion nicht reagiert. Noch immer gelangweilt blickt sie aus dem Fenster.
Mit schweren Schritten, schleppt sich Neve zum Pult zurück, wühlt in ihrer Aktentasche, schindet sich zu Sam zurück und nimmt unterwegs einen Stuhl mit, den sie neben Sams Tisch stellt und sich dort wie ein Zementsack darauf fallen lässt. Erst jetzt erlangt sie Sams Aufmerksamkeit. Verwirrt schaut sie ihre Lehrerin an. Neve blättert achtlos in einem Buch, legt es aufgeschlagen auf den Tisch und zeigt auf mehrere Rechenaufgaben.
»Lösen sie diese Aufgaben bitte, jetzt«, befiehlt sie ihrer Schülerin scharf, woraufhin von Sam ein bissiges »Warum?« kommt. Neve wirft ihr einen müden aber deutlichen Blick zu, bei dem Sam genervt stöhnt, sich den Bleistift schnappt und beginnt, die erste Aufgabe aus dem Buch in das Heft zu übertragen. Sie notiert die ganze Aufgabe. Neve sieht, dass sie gleich nach der Aufgabenstellung das Ergebnis in das Heft einträgt. Das Ganze geht geschlagene zehn Minuten so, bis Sam das Seitenende erreicht hat. Sie schreibt die Aufgabe aus dem Buch ab und schreibt sofort das Ergebnis hinterher. Es ist wie ein Taubenschlag. Eins geht ins Andere über. Sam hat am Ende das Dreifache an Aufgaben gelöst wie ihre Mitschüler.
Fassungslos starrt Neve sie an, die sich auf dieses komische Theater keinen Reim machen kann. Was sollte dieser Mist? Nichts, so wie es scheint. Denn Neve schnappt sich kommentarlos das Buch, trägt den Stuhl zurück und setzt sich ans Pult. Sie scheint über etwas nachzudenken. Denn ihre Augen wandern wild über das Holz, bis sie ihren Blick hebt und zu Sam schaut. Irgendetwas will sie sagen, irgendetwas stimmt nicht. Sam blickt sie ebenfalls an und denkt über diese merkwürdige Aktion nach. Sie kommt aber auf keinen grünen Zweig und will nach diesen scheiß Aufgaben nur noch ihren Spaß haben. Plötzlich sieht Neve, wie Sam absolut provokant und unverschämt grinst. Sie weiß, dass Sam die nächste Attacke auf sie loslässt.
Genau wie letzte Nacht auf der Drecksbühne, schiebt sich Sam ihren Zeigefinger in den Mund und lässt Neve nicht eine Sekunde aus den Augen. Als Neve das Bild von gestern Abend in den Kopf schießt, hat ihr Körper das Maß an Verträglichkeit und Ekel erreicht. Sie ergibt sich dem aufkommenden Brechreiz. Endlich! Blitzschnell schießt sie vom Stuhl hoch und stürzt durch die Tür zur Toilette.
Als nach unendlich wirkender Zeit die Klingel zur Pause ertönt, spuckt Neve das letzte Mal in die Toilettenschüssel. Sie könnte eigentlich zusammenbrechen, so wie sie sich im Moment fühlt. Ihr Körper fühlt sich zwar jetzt um einiges sauberer an, aber Kraft hat sie noch immer keine.
Sie verlässt die Kabine, spült sich mehrmals den Mund aus und wäscht sich ihr Gesicht, um etwas Farbe in ihre Wangen zurück zu bringen. Die Tür zur Toilette schwingt auf. Der ohrenbetäubende Lärm aus dem Korridor dringt zu ihr durch.
Neve blickt zur Seite und sieht Sam an der mittlerweile geschlossenen Tür stehen. Ihr Gesicht drückt leichte Sorge aus.
»Tut mir leid, das wollte ich damit nicht erreichen«, spricht sie leise und meint es offensichtlich ernst.
»Jetzt weißt du wenigstens was ich von deinen scheiß Jobs halte«, antwortet Neve genervt und trocknet sich das Gesicht ab.
»Wieso zur Hölle machst du das überhaupt? Wieso verkaufst du deinen Körper? Bist du dir denn zu nichts zu schade?«, schimpft Neve. Sie kann an Sams gesengten Kopf erkennen, dass sie dazu nichts sagen will.
»Was zum Teufel ist los mit dir?«, fragt Neve ruhig. Verwirrt schaut Sam sie an.
»Was meinst du?«, flüstert sie kleinlaut.
»Hast du eigentlich eine Ahnung was ich dir da für Aufgaben gegeben habe?«, fragt Neve. Sams Blick verdunkelt sich, während sie die Frage nicht beantwortet. Schweigend bleibt sie an der Tür stehen.
»Das waren Aufgaben für Akademiker, die ihren Doktortitel in Mathematik machen und du löst sie, als wenn du deinen Namen schreiben würdest«, wirft sie Sam entgegen, deren Gesicht durch diese Aussage eine ungesunde Veränderung annimmt. Sie wird wütend.
»Ich weiß selbst, dass ich eine verdammte Intelligenzbestie bin, das musst du mir nicht auch noch unter die Nase reiben. Also stecke dir deine beschissene Fürsorge sonst wohin!«, faucht Sam funkelnd.
»Wenn du das weißt, was zur Hölle machst du dann bei den Five Dogs? Wieso verkaufst du dich wie eine billige Nutte? Wieso fängst du nichts Vernünftiges mit diesem Talent an?«, fragt Neve wütend, jedoch ernsthaft besorgt und interessiert.
»Weil ich nichts anderes habe! Keine Panik Neve, ich bin hier kein unschuldiges Opfer, das gleich weinend und kreischend zusammenbricht. ch jammere nicht herum, wie schlecht es mir doch eigentlich geht und ich am liebsten einen tollen Bürojob, und ein Haus mit Garten und Hund hätte. Ich habe mir das selbst ausgesucht. Die Five Dogs sind das was ich bin. Ich bin wie ich bin und ich komme damit verdammt gut zurecht«, faucht Sam wütend, womit Neve allerdings nicht zufrieden ist. Und somit entscheidet sie sich für die folgende Handlung, um Sam von diesem Five-Dogs-Ich-bin-wie-ich-bin-Gesülze loszureißen.
Mit schnellen Schritten geht sie auf Sam zu, legt eine Hand an ihre Hüfte, zieht sie eng an sich und blickt ihr direkt in die Augen. Es fehlen nur zwei Zentimeter, bis sich ihre Lippen berühren. Sie beobachtet Sam ganz genau. Diese ist im ersten Moment über diese Aktion total überrascht und überrannt. Aber dann fängt sie sich. Neve kann in Sams Augen erkennen, dass sie in ihren Armen zu schmelzen beginnt. Sie bekommt einen richtig verliebten Ausdruck; ihr Gesicht strahlt stärker als die Sonne.
Um ihr noch näher zu sein, hebt Sam beide Arme und legt sie um Neves Hals.
»Dieser Augenblick Sam, genau in diesem Augenblick bist du wer du wirklich bist! Du bist kein Five Dog, du bist Sam! Eine wunderschöne, hinreißende und verführerische Frau. Die Five Dogs sind nur eine beschissene Fassade, die du dir zugelegt hast, damit dich niemand verletzen kann. Aber im Leben musst man damit rechnen, verletzt zu werden, denn das gehört einfach zum Leben dazu«, flüstert Neve und reißt sich brutal von Sam los. Sie öffnet die Tür und tritt in den Korridor hinaus, während Sam wie angewurzelt in der Toilettentür stehen bleibt.
Kaum haben Neves Worte sie erreicht, steigt unbändige Wut in ihr auf. Mit einem wuchtigen Schritt eilt sie aus der Toilettentür und beginnt sofort zu brüllen.
»Ich bringe dich um, du verdammte Schlampe!! Überlege später lieber, ob du deinen Zündschlüssel umdrehst. Denn es könnte sein, dass dich deine gequirlte Scheiße in Stücke zerreißt, du miese Fotze!!«, brüllt sie lauthals. Sie sorgt sich keineswegs um die anderen Schüler.
Neve geht ihren Weg und schmunzelt. Da haben wir ja die beschissene Fassade.
Nach Schulschluss steigt sie in ihr Cabrio, greift nach dem Zündschlüssel und verharrt für einen kurzen Augenblick. Sams Worte hallen in ihrem Kopf wieder. Sie sie muss für einen kleinen Moment zugeben, dass sie jetzt in diesem Augenblick doch ein klein wenig eingeschüchtert ist. Morddrohungen sind alles andere als ein schönes Sonntag-Nachmittag-Eis.
Sie holt tief Luft, dreht den Schlüssel um und atmet erleichtert aus, als der Wagen ohne Probleme anspringt. Ungebeten schmeißt ihr das Radio gleich die neusten Nachrichten des Tages entgegen.
»Also Jungs…,«. Neve kontrolliert ihre Waffe, als sie am Abend mit Jake und einigen anderen Kollegen in einem Lieferwagen in der Chestnut Street sitzt. Völlig auf ihren Einsatz konzentriert, kann sie das erste Mal seit Stunden das vergessen, was am Abend zuvor passiert ist.
»Jake, Paul, Bill und ich gehen vorne rein. Ihr zwei geht nach hinten und ihr zwei passt auf, dass niemand von denen durch den Garten abhaut. Es sollen insgesamt acht sein. Sie sind mit Sicherheit bewaffnet, also passt auf euch auf.« Neve schaut ihre Kollegen flüchtig an, die, wie sie selbst, jeder eine Weste trägt.
»Lasst uns die Party beginnen«, grinst sie, öffnet die Hintertüren des Lieferwagens, der zwei Häuser weiter von dem alten Owenhaus in der Chestnutstreet geparkt ist und läuft in geduckter Haltung zum Haus.
Kaum beim Haus angekommen, verteilen sie sich auf dem gesamten Grundstück. Langsam und mit kontrollierten Schritten, geht Neve mit ihren Kollegen die drei Stufen der Veranda hoch. Alle vier behalten die Haustür im Auge. Mit entsicherten Waffen zielen sie dort hin, weil sie jede Sekunde damit rechnen müssen, dass sich die Tür öffnet und irgendjemand herauskommt. Weil dies aber nicht passiert, pressen sie sich gegen die Hauswand. Neve drückt auf ihren Kopfhörer, während sie leise in das Mikrofon spricht, das an der Weste befestigt ist.
»Auf drei! Eins, zwei, drei!«, flüstert sie und lässt Jake nicht aus den Augen. Er ist genauso angespannt wie sie.
»Los!!!« Genau in dieser Sekunde tritt Jake nur mit einem Schlag die Tür zum Haus auf. Alle vier dringen in das Haus ein. Die Kollegen stürmen im selben Moment von hinten das Haus.
»S.F.P.D.!! Keine Bewegung!!«, brüllt Jake. Wie kleine Kinder stehen er, Neve, Paul und Bill nebeneinander und glauben ihren Augen nicht zu trauen. Plötzlich verteilen sich ungefähr zwanzig junge Leute wie ein riesiger Bienenschwarm und rennen durch das ganze Haus.
»Verdammte Scheiße J.R.!!! Du solltest mal zählen lernen!!«, schimpft Neve wütend über die Tatsache, dass sie eigentlich vollkommen in der Unterzahl sind. Sie versucht verzweifelt auch nur einen von den jungen Leuten richtig ins Visier zu fassen, um sich auf ihn zu konzentrieren. Da sie aber wie verrückt durch das Haus rennen, ist dies schwieriger als es scheint.
Sie wirft einen kurzen Blick in den großen Raum, in dem sich die meisten Gangmitglieder bis eben noch aufhielten und kann eine riesige Unmenge von Drogen auf einem Tisch erkennen.
Dann erfassen ihre Augen zwei Personen, die die Treppe des Hauses hinaufrennen.
»Euch kriege ich!«, feuert sie sich selbst an und nimmt gleich zwei Stufen auf einmal, bis ihre Schritte langsamer werden. Im oberen Teil des Hauses ist kein Licht. Es ist stockfinster. Sofort zieht Neve eine kleine Taschenlampe aus der Weste, schaltet sie ein und hält sie direkt unter ihre Waffe. Konzentriert führt sie diese mit ausgestreckten Armen vor sich.
Stufe für Stufe, geht sie weiter nach oben. Sie kann erkennen, dass die beiden in eines der Zimmer auf der linken Seite verschwinden. Ganz langsam geht Neve an den anderen Räumen vorbei, wirft in jedes einen kurzen Blick, um eventuelle Gefahren sofort zu erkennen und bleibt direkt am Türrahmen des Zimmers stehen, in dem die zwei verschwanden. Blitzschnell lehnt sie sich etwas vor, wirft einen Blick in das Zimmer und sieht, wie die Flüchtigen aus dem Fenster steigen. Neve drückt sich wieder gegen die Wand, hebt ihre Waffe mit der Lampe, dreht sich in das Zimmer hinein und zielt auf die letzte Person, die in dem Moment den Fuß aus dem Fenster zieht und über das Dach flüchtet.
»S.F.P.D.!!! Keine Bewegung!!!«, warnt sie, rennt zum Fenster und sieht, wie die zwei etwas unsicher und mit ausgestreckten Armen (um das Gleichgewicht zu halten) über das Dach laufen.
»Verdammt wo seid ihr??!!«, schimpft sie über ihre Kollegen, die eigentlich im Garten sein sollten. Aber wie könnte es auch anders sein? Wenn man sich auf jemanden verlässt, ist man verlassen.
Ohne zu überlegen, steigt sie ebenfalls aus dem Fenster und verfolgt die Flüchtigen, die vom Dach auf die Garage und dann in den Garten flüchten. Genau denselben Weg nimmt Neve auch und rennt ihnen in eine Seitenstraße hinterher. Sofort bleibt sie stehen, als sie die beiden vor sich laufen sieht.
»S.F.P.D.!!! Stehen bleiben!!!«, brüllt sie durch die ganze Straße, was aber keinen von den beiden Kriminellen sonderlich beeindruckt. Sie laufen einfach weiter. Neve richtet ihre Waffe nach oben in die Luft, feuert einen Schuss ab und zielt wieder auf die Flüchtigen.
»Stehen bleiben habe ich gesagt!!!«, schreit sie. Tatsächlich bleibt einer der beiden stehen. Der andere Flüchtige rennt über die Chestnut Street in Richtung Jack Early Park.
Mit langsamen Schritten nähert sich Neve der Person die stehen geblieben ist und hält ihre Waffe schützend vor sich.
»Nimm die Hände so hoch, dass ich sie sehen kann!!«, befiehlt sie scharf, was die Person ohne zu zögern macht. Langsam gehen beide Hände in die Luft. Neve geht vorsichtig um den Kerl herum und glaubt ihren Augen nicht zu trauen.
»Verdammte Scheiße! Du bist ja noch ein Kind!«, stellt sie entsetzt fest, als sie in das Gesicht eines ungefähr fünfzehnjährigen Jungen blickt. Sofort beginnt sie ihn nach Waffen zu durchsuchen, wobei sie ihm ihre eigene direkt vor sein Gesicht hält.
»Leg dich mit dem Gesicht auf den Boden, Arme und Beine auseinander«, befiehlt sie dem Jungen.
Während er sich ganz langsam hinlegt, lässt er seinen Blick nicht von Neve. Sie kann in seinen Augen erkennen, dass er nur Hass für sie empfindet, was ihr im Moment allerdings egal ist.
Als sie seinen rechten Arm und sein linkes Bein mit Handschellen festmachen will, sieht sie etwas in seinem Nacken. Sie zieht den Kragen vom Shirt etwas herunter und erkennt die Tätowierung, die auch Sam und Laura haben. Eine römische Fünf und ein Rottweiler. Die Five Dogs! Dieser junge Grashüpfer ist einer der Five Dogs! Verdammt, da sind so viele Dealer herumgelaufen und sie musste sich unbedingt einen aus dieser Gang schnappen?
»Fuck!!«, flüstert sie leise, richtet ihren Blick zuerst auf den Park und dann zu dem Jungen zurück. Sie packt ihn am Kragen, zieht ihn vom Asphalt hoch und blickt ihm direkt in die Augen.
»Verschwinde!!«, faucht sie scharf. Er starrt sie mit großen Augen an.
»Was?«, haucht er geplättet.
»Du sollst verschwinden bevor ich es mir anders überlege!!«, zischt Neve und blickt sich nervös um. Der junge Hund steht noch immer vor ihr und bewegt sich keinen Zentimeter. Dann haut Neve ihm kräftig gegen die Schulter.
»Hau endlich ab!!«, faucht sie nochmal und sieht dann zu, wie der Junge sie noch immer mit großen Augen verständnislos anblickt. Langsam dreht er sich um. Erst jetzt werden ihm die gesprochenen Worte bewusst. Er nimmt die Beine in die Hand und rennt weg.
Neve weiß was sie damit angerichtet hat. Sie lässt einen Verbrecher laufen! Sie weiß aber auch, wenn Sam erfahren wird, dass sie selbst vor ihren Kollegen nicht halt macht und tatsächlich einen von ihnen einbuchtet, werden die beiden gewaltig aneinander geraten und das will Neve verhindern. Vorerst.
Als der Junge aus ihrem Blickfeld verschwunden ist, schaut sie zum Jack Early Park. Mit gezogener Waffe macht sie sich auf den Weg.
Meter um Meter läuft sie tiefer hinein, obwohl sie das Gefühl hat, dass die zweite Person schon längst über alle Berge ist. Dennoch treibt sie ein anderes Gefühl weiter, bis sie ihrem Verstand nachgibt und die Waffe ergeben senkt.
»Verdammt«, flucht sie leise und will die Taschenlampe ausschalten, als sie jemanden hinter sich leise aber schnell atmen hört.
In dem Moment in dem sie sich zu diesem Geräusch umdrehen will, hört sie zwei Schüsse. Irgendetwas Hartes prallt auf ihren Rücken. Sie schreit vor Schmerzen laut auf, verliert das Gleichgewicht und kippt nach vorne auf den Rasen. Zwei abgefeuerte Kugeln haben die schusssichere Weste an den weißen Buchstaben S.F.P.D. durchdrungen und quetschen sich nun in ihre Haut, um ihr für die nächsten Tage wundervolle Blutergüsse zu bescheren.
Schwer atmend, ängstlich und mit rasenden Schmerzen, hört Neve jemanden langsam auf sich zugehen. Eigentlich kann sie sich keinen Zentimeter bewegen. Sie schafft es irgendwie dennoch, sich auf den Rücken zu drehen und die Waffe zu heben. Sie muss sich schützen. Dazu hat sie jetzt allen Grund. Es wurde auf sie geschossen. Jedes Gericht würde sie aufgrund von Notwehr freisprechen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Das ist das Gesetz, für das sie tagtäglich lebt.
Keuchend, weil ihr die Schmerzen die Luft rauben, hält Neve tapfer aber zitternd die Waffe hoch. Plötzlich tritt Sam in ihr Blickfeld und starrt sie mit großen Augen an. In der rechten Hand hält sie eine Waffe. Sie kann nicht glauben, dass ihre Mathematiklehrerin mit einer Schusssichern Weste vor ihr auf dem Boden liegt.
»Neve?«, haucht sie geschockt und sinkt kraftlos in die Knie. Neve bekommt bei dem Anblick von Sam richtig schlechte Laune.
»Verdammt!!«, keucht sie schwer und lässt die Waffe sinken.
»Du bist ein Bulle!!«, pustet Sam atemlos. Sie schaut Neve fassungslos an. Dann verdunkelt sich ihr Blick.
»Du bist ein verdammter Bulle!!! Ich fasse es nicht, dass ich mich in einen scheiß Bullen verliebt habe!!«, keift sie noch immer entsetzt, ohne auch nur annähernd darüber nachzudenken, dass sie zweimal auf Neve geschossen hat. Wird hier das Prinzip Die trägt eine Weste, die kommt klar!, angewendet oder was soll das werden??
»NEVE???«, brüllt plötzlich jemand durch den Park. Erschrocken weiten sich Neves Augen, als ihr klar wird, dass Jake auf dem Weg zu ihr ist.
»Wir sprechen uns noch Sam!!!«, keift sie wutentbrannt, blickt kurz zur Chestnut Street und dann zu Sam zurück. Jake wird bei der Entfernung ungefähr zwei Minuten brauchen bis er bei seiner Kollegin ist. Wütend fährt Neve Sam erneut an.
»Verschwinde!! Ich regle das hier!!« Genau wie den Jungen vorhin, will sie Sam auch laufen lassen, aber diese hockt noch immer neben ihr. Sam weiß selbst nicht ob sie weinen oder brüllen soll. Sie hat auf Neve geschossen! Auf die Frau in die sie sich verliebt hat. Aber auch nur weil sie eine Polizistin ist.
»Sam!! Verschwinde!! Nochmal sage ich es nicht!!«, knurrt Neve.
Wie betäubt hockt Sam noch immer im Rasen und starrt Neve mit leerem Blick an. Dann hebt sie langsam den Kopf, blickt in Richtung der Chestnut Street und dann wieder zu Neve zurück. Plötzlich beugt sie sich über sie, gibt ihr einen Kuss auf die Stirn, springt vom Boden auf und rennt tiefer in den Park.
Neve blickt ihr noch eine Zeit hinterher, bis sie sie nicht mehr sehen kann. Schwerfällig dreht sie sich auf die Seite.
»Verdammt tut das weh!!«, stöhnt sie geschwächt. Sie kann in keinster Weise verstehen, was hier abgelaufen ist. Das ist doch echt der größte Albtraum, der ihr je untergekommen ist.
Nachdem sie zwei Stunden im Krankenhaus verbracht hat, fiel Neve zu Hause in ihr Bett und ist am nächsten Morgen bis in die tiefste Faser ihres Körpers erschrocken, entsetzt aber auch zugleich beeindruckt, dass Sam tatsächlich an ihrem Tisch im Klassenzimmer sitzt. Sie selbst gibt sich große Mühe, ihre Schmerzen zu verbergen. Sie hätte sich natürlich krankschreiben lassen können, aber das wollte sie bewusst nicht. Sie wollte sehen, ob Sam den Arsch in der Hose hat und ihr noch unter die Augen treten kann. Und das scheint sie offensichtlich zu können.
Aber anstatt wie immer, wie ein Kartoffelsackverträumt in ihrem Stuhl zu hängen, sitzt Sam stocksteif auf ihrem Platz und hat den Kopf so tief gesenkt, dass ihr Gesicht fast eine parallele Ebene mit dem Tisch ergibt.
»Ms. Rodriguez!«, spricht Neve ihre Schülerin in der Mitte der Stunde an, die darauf aber nicht reagiert.
»Ms. Rodriguez!!«, wiederholt sie. Wie beim Paukenschlag reißt Sam plötzlich ihren Kopf hoch. Sie schaut ihre Lehrerin mit einem solch hasserfüllten Blick an, dass Neve sofort das Blut in den Adern gefriert. Sie hat mittlerweile ja schon einige Blicke von Sam kennengelernt, aber dieser jetzt könnte vom Teufel persönlich sein.
Neve versucht sich nicht verunsichern zu lassen, obwohl sie zugeben muss, dass dieser Blick ihr durch und durch geht. Er treibt ihr den Angstschweiß auf die Stirn.
»Bitte kommen sie nach vorne zur Tafel und lösen die dort geschriebenen Aufgaben.« Wie eine Furie schießt Sam von ihrem Stuhl hoch. Mit lauten Schritten stampft sie auf ihre Lehrerin zu. Die hält ihr ein Stück Kreide entgegen. Anstatt dieses zu nehmen, stürmt Sam an ihr vorbei, greift an der Tafel nach einem neuen Kreidestück und beginnt nach und nach die Aufgaben zu lösen.
Mit dem Rücken zur Tafel, steht Neve fünf Schritte neben Sam und beobachtet sie dabei, wie sie in ihrer mittlerweile gewohnten Geschwindigkeit die Aufgaben löst, bis ihr auffällt, dass Sam die Kreide ungewöhnlich hart auf die Tafel setzt und die Zahlen schreibt. Sie schaut etwas genauer hin und sieht, dass Sams Hand vor Kraft und Anstrengung so stark zittert, dass die Kreide plötzlich in der Mitte zerbricht. Wie erstarrt steht Sam mit hochgezogenem Arm an der Tafel. Als Neve sie darauf ansprechen will, glaubt sie ihren Augen nicht zu trauen. Sie sieht, wie eine Träne an Sams Wange herunterläuft.
»Ms. Rodriguez?«, fragt Neve besorgt und macht einen Schritt auf ihre Schülerin zu. Plötzlich reißt Sam ihren Kopf in ihre Richtung. Schlagartig gefriert Neve erneut das Blut in den Adern. Sam weint! Ihr hasserfüllter Blick ist totaler Verzweiflung gewichen. Neve kann in ihren Augen erkennen, wie leid ihr die Sache von letzter Nacht tut.
Bevor sie auch nur eine Handbewegung machen kann, dreht sich Sam blitzschnell um und rennt aus dem Klassenzimmer. Genauso schnell wie sie die Flucht ergriffen hat, springt Laura von ihrem Stuhl auf und rennt ihrer Freundin hinterher. Wie gelähmt bleibt Neve an der Tafel stehen.