Читать книгу Vergiss mein nicht - Vanessa Pätzold - Страница 10
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Gedämpfter Gesang weckte Henry am nächsten Morgen. Verwirrt rieb er sich den Schlaf aus den Augen. War Sophie wieder da? Aber Sophie sang doch nicht. Verdammt, dachte er und hielt sich fluchend den brummenden Kopf. Nach und nach kam die Erinnerung zurück. Er war in einer Kneipe gewesen und hatte getrunken. Zu viel. Aber wie war er nach Hause gekommen?
Langsam schob er seine Bettdecke zu Seite und stellte fest, dass er dieselben Sachen trug wie am Tag zuvor. Er zuckte mit den Schultern und schob alles seinem Kater in die Schuhe. Er hatte aufgrund des Alkohols wahrscheinlich einfach nur ein Blackout. Allerdings erklärte das noch immer nicht den Gesang, der allem Anschein nach aus der Küche kam.
Aus der gleichen Richtung wehte ihm auch der Geruch frisch aufgebrühten Kaffees entgegen. Henry spürte, wie sein Magen sich zusammenzog und gleich darauf auch knurrte. Also ging er in die Küche. Sehr vorsichtig allerdings, schließlich hatte er die singende Person noch immer nicht identifiziert. Noch während er um die Ecke trat erkannte er sie jedoch.
„Guten Morgen, Mr Scott. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen. Gestern waren Sie ja gleich weg. Hier bitte, ich glaube Sie können einen Kaffee gut vertragen.“ Jane stellte eine Tasse dampfenden, rehbraunen Kaffee vor ihn hin und lächelte ihn charmant an.
„Jane“, war zunächst alles was er hervorbrachte und sein Gesicht verzog sich zu einer fragenden Grimasse.
„Mr Scott“, erwiderte sie mit hochgezogener Braue.
Anstatt seine offensichtlichen Fragen loszuwerden, hob er die Tasse an seinen Mund und trank einen Schluck.
„Wow, der ist gut“, stellte er daraufhin fest und ließ sich einen weiteren Schluck schmecken. „Woher weißt du, wie ich meinen Kaffee trinke?“
„So oft, wie Sie schon welchen im Unterricht tranken … Ich habe Sie letzte Nacht getroffen, als Sie die Kneipe verließen und Sie dann nach Hause gebracht.“ Henry blinzelte überrascht. Der Schleier über seinen Erinnerungen hob sich. Er sah vor sich, wie er sich übergeben hatte und war seiner Schülerin äußerst dankbar, dass sie dies nicht erwähnt hatte.
„Entschuldige?“
„Sie wissen nicht mehr, wie Sie nach Hause kamen. Ich habe Sie hergebracht“, erklärte sie.
„Woher weißt du –“ Sie unterbrach ihn.
„Es ist offensichtlich. Ihr Gesichtsausdruck verrät Sie meilenweit.“
„Verstehe.“ Er verstand nichts. „Und du hast auch hier geschlafen?“
„Ich war so frei. Auf dem Sofa, selbstverständlich.“
„Selbstverständlich“, wiederholte er tonlos und runzelte die Stirn, während er seine Nasenwurzel rieb.
„Sie sollten etwas essen. Ich habe vorhin Schrippen gekauft. Bitte sehr.“ Sie schob ihm die Brötchentüte zu und legte noch einen Teller und ein Messer daneben. „Marmelade, Nutella, Käse, Wurst?“, fragte sie und öffnete den Kühlschrank.
Henry stand noch immer wie versteinert da und wusste nicht recht was hier vor sich ging. Als vor seinen Augen plötzlich eine Hand erschien, schreckte er zusammen.
„Erde an Mr Scott.“ Jane bewegte ihre Hand vor seinem Gesicht hin und her um ihn aus seiner Trance aufzuwecken.
„I´m sorry. Was war los?“, fragte er, noch immer nicht ganz da.
„Ich fragte welchen Belag Sie haben wollen“, wiederholte Jane geduldig, als spräche sie mit einem kleinen Kind. Warum hatte sie eigentlich nicht den Tisch gedeckt, wenn sie doch schon dabei gewesen war, Kaffee zu kochen?
„Oh. Äh … Nutella. Bitte“, fügte er hastig hinzu und sie stellte ihm das Nutella hin. „Danke.“ Langsam schmierte er sich sein Brötchen und verzehrte es gleich im Stehen.
„Du hast mich also hergebracht?“, fragte er noch einmal nach. Er konnte es noch immer nicht recht glauben. Immerhin war sie seine Schülerin und es fühlte sich sehr merkwürdig an, sie hier in seiner Küche vor sich stehen zu sehen.
„Ja. Hören Sie, Mr Scott, ich weiß wie merkwürdig die Situation hier ist. Aber ich konnte Sie ja wohl kaum auf der Parkbank übernachten lassen. Und ich wollte sichergehen, dass es Ihnen heute gut geht. Sie mussten gestern schließlich ziemlich was durchmachen. Nicht, dass Sie noch auf dumme Gedanken kommen. Mein Beileid übrigens. Wenn ich das sagen darf, sie hat Sie gar nicht verdient.“ Henry schluckte.
„Woher – Ach, vergiss es. Ist ja auch egal, woher du es weißt. Vermutlich irgend-wie ′deduziert′, nicht wahr? Wenn du wirklich so schlau bist, Ms Holmes, dann sag mir doch mal, was ich deiner Meinung nach jetzt tun soll?“ Herausfordernd sah er ihr in die Augen. Auf den Vergleich mit dem Consulting Detective hin war sie einen Schritt zurückgewichen, den sie nun wieder auf ihn zuging.
„Mr Scott: Ich bin gewiss nicht mal halb so gut wie Sherlock Holmes. Und ich bin auch keine Lebensberaterin, ich habe ja nicht einmal Ahnung vom Leben. Wie sollte ich, mit fast 18 Jahren?“ Henry glaubte, unterdrückte Gefühle in ihren Augen zu erkennen. Schmerz oder Qualen. Er konnte es nicht genau festmachen und um ehrlich zu sein, interessierten ihn Janes Gefühle gerade äußerst wenig. Alles was er wollte, war einen Plan zum Weitermachen finden, denn aufgeben wollte er auf gar keinen Fall.
„Ich kann Ihnen dennoch einen Rat geben: Geben Sie nicht auf. Sie sind doch noch jung, haben so viel vor sich. Ihre Frau ist es nicht wert, dass Sie ihr hinterher trauern, wenn sie Sie so behandelt. Sie sind ein starker Mensch, Mr Scott. Sie werden einen Weg finden. Ich sehe Sie dann morgen bestimmt in der Schule. Auf Wiedersehen, Mr Scott. Und bitte denken Sie immer daran, dass Sie nicht nur für sie gelebt haben und dass es immer noch Menschen gibt, die Sie lieben und die für Sie da sind.“ Mit diesen Worten ging Jane hinaus in den Flur, griff nach ihrer Jacke und Tasche und verschwand.
Henry stand nach wie vor regungslos in der Küche und versuchte, Janes Worte zu verarbeiten. Sein Prozessor lief noch sehr langsam, von daher dauerte es eine Weile, bis er sie begriff. Als es endlich so weit war, brach er in prustendes Gelächter aus. War das gerade wirklich geschehen? Seine Schülerin, bei ihm zu Hause, hatte ihm Frühstück gemacht und aufgemuntert? Nicht zu vergessen, ihn am Abend zuvor betrunken nach Hause gebracht? Die Situation war einfach zu grotesk!
Nach einigen Minuten wandelte sich sein Lachen in einen Schluckauf und Henry fragte sich, was er nun machen sollte ... Normalerweise würde er etwas mit Sophie unternehmen, ins Kino gehen, sie in ein Restaurant ausführen oder einfach nur zu Hause bleiben und den ganzen Tag im Schlafzimmer verbringen. Doch Sophie war nicht mehr da. Und der Gedanke, dass sie bereits von diesem Mirko schwanger gewesen sein musste, als sie das letzte Mal miteinander geschlafen hatten, verursachte in ihm eine noch nie dagewesene Übelkeit und er spürte sein Frühstück wieder hochkommen. Schnell bemühte er sich, auf andere Gedanken zu kommen und rief Martin an. Nach dem fünften Klingeln nahm er ab.
„Yeah, mate? Was gibt’s?“
„Sportclub, halbe Stunde. Bis gleich.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er sofort wieder auf. Seine Sporttasche war schnell gepackt und eine halbe Stunde später wartete er vor dem Eingang des Sportclubs auf Martin, welcher keine zwei Minuten nach ihm eintraf. Der Sport würde ihm guttun.
„Was gibt es denn so Wichtiges, dass du mich am Sonntagvormittag von zuhause wegholst?“, erkundigte er sich als sie sich umzogen.
„Sophie hat mich verlassen. Das heißt, ich habe sie rausgeschmissen. Sie ist schwanger von einem ihrer Kollegen und hat auch noch Gefühle für ihn.“ Komisch. Wenn er es so nüchtern aussprach, fühlte es sich beinahe so an, als beträfe es gar nicht ihn selber. Doch was heißt schon beinahe?
„Oh nein, Henry! Das ist ja schrecklich. Und noch dazu gestern, an eurem Hochzeitstag? Was für ein Biest!“ Martin war erschüttert. „Wenn Heike mir das antun würde …“ Martin hatte vor einem Jahr seine Jugendliebe geheiratet und so wie Henry Sophie geliebt hatte, liebte sein Kumpel Heike. „Ich habe sie zwar nur ein paar Mal gesehen und mich mit ihr unterhalten, aber sie schien mir ein aufrichtiger Mensch zu sein. Das tut mir sehr leid, Henry.“ Er schlug seinem Kumpel aufmuntert auf die Schulter.
„Danke, Martin. Aber das ist noch nicht alles: Ich habe mich gestern Abend in einer Kneipe betrunken und als ich heute Morgen aufgewacht bin, war Jane bei mir in der Wohnung und hat mir Frühstück gemacht.“
„Jane? Die Schülerin, Jane?!“
„Genau die. Sie hat mich gestern wohl vor der Kneipe aufgegabelt und nach Hause gebracht. Und dann hat sie auch noch auf meinem Sofa geschlafen. Ich weiß nicht recht, was ich von ihr halten soll, Martin. Einerseits ist es ja echt lieb von ihr, sich so um mich zu kümmern. Aber andererseits ist sie meine Schülerin und als ich sie in meiner Küche hab stehen sehen, hat sich das echt falsch angefühlt. Sie benimmt sich so erwachsen und als ob das alles voll normal gewesen wäre.“ Sie stiegen auf zwei nebeneinander stehende Laufbänder und joggten drauf los.
„Ich sag ja: Sie hat einen Narren an dir gefressen“, stellte Martin fest und zwinkerte Henry zu.
„Ich weigere mich, das zu glauben. Verdammt, Martin. Das kann doch gar nicht sein. Ich bin ihr Lehrer. Keiner verknallt sich in seinen Lehrer.“
„Wenn du wüsstest.“
„Ist ja jetzt auch egal. Die weitaus wichtigere Frage ist doch, was ich jetzt machen soll. Sophie möchte bestimmt die Scheidung. Aber ich kann sie doch nicht so einfach gehen lassen. Klar bin ich steinsauer–“
„Stinksauer“, verbesserte ihn Martin.
„–stinksauer, aber wir sind seit sechs Jahren verheiratet. Ich liebe sie immer noch, das kann ich doch nicht einfach wegdenken! Sie gehört in mein Leben. Und nur, weil dieser Mirko sie geschwängert hat, kann sie mich doch nicht vergessen haben.“
„Hat sie sich nicht schon immer ein Kind gewünscht?“
„Ja.“ Henry seufzte resigniert auf. „Es hat bei uns nur nie funktioniert. Aber dass sie deswegen eine Affäre anfängt ... Was habe ich denn nur falsch gemacht? War ich nicht gut genug für sie?“
„Henry, ich kann dir diese Fragen nicht beantworten. Aber eins kann ich dir versichern: Sie verdient dich nicht, wenn sie so mit dir umgeht. Sie ist es nicht wert, dass du ihr hinterher trauerst. Lass sie gehen, wenn sie der Meinung ist, dich nicht zu brauchen. Sieh es nicht als Ende. Das ist ein neuer Anfang für dich. Beweis ihr, dass du sie nicht brauchst um glücklich zu sein. Komm schon, alter Knabe. Wie war noch mal diese eine Zeile aus dem Theaterstück der einen Klasse neulich? ′Sie können mit Zuversicht in die Zukunft schauen.′ Du kannst das auch. Immer positiv denken.“
Henry musste lachen.
„Was ist denn?“, fragte Martin etwas verwirrt nach.
„Du bist schon die zweite Person heute, die so etwas zu mir sagt.“
„Wer war die andere?“
„Jane. Sie hat mir gesagt, ich sei doch noch so jung und habe mein ganzes Leben vor mir. Recht ironisch, wenn man bedenkt, dass ich etwa doppelt so alt wie sie bin. Und dann sagte sie, dass ich nicht vergessen solle wie viele Menschen es gibt, die mich lieben und für mich da seien.“
„Weises Mädchen“, stellte Martin nach kurzem Überlegen fest. „Und das für ihr Alter. Wer weiß, was sie schon durchmachen musste, um so etwas sagen zu können, wen sie schon verloren hat.“ Darüber hatte Henry noch gar nicht nachgedacht. Er war so sehr mit sich beschäftigt gewesen, dass es ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen war, sich genauere Gedanken um Jane zu machen.
„Wie auch immer“, fuhr sein Kumpel fort. „Sie hat Recht. Du bist noch nicht mal 40. Du hast noch so viel vor dir. Wer weiß schon, zu was das gut war? Wie wär es mit einer Geschwindigkeitserhöhung?“
Nach drei Stunden im Sportclub fühlte Henry sich ausgelaugt und glücklicher. Zuhause duschte er erst einmal ausgiebig den Schweiß und die schlechten Gedanken weg. Martin und Jane hatten Recht: Wer weiß schon, ob sich das alles weitreichend nicht sogar positiv auswirken konnte.
Beim Abendessen bereitete er sich auf die Unterrichtsstunden des nächsten Tages vor. Zumindest versuchte er es. Denn obwohl er sich vorgenommen hatte, die ganze Angelegenheit so positiv wie möglich zu sehen, gelang es ihm verständlicherweise nicht auf Anhieb und so schlief er in Gedanken versunken am Schreibtisch ein.
Sein Wecker schrillte so laut, dass Henry ihn hörte obwohl er zwei Räume weiter saß. Er schreckte hoch und war das erste Mal froh darüber, ihn eine dreiviertel Stunde früher als nötig gestellt zu haben. So hatte er mehr als genug Zeit um sich fertig zu machen und nochmal über den Lehrplan zu schauen.
Sein nicht ganz klarer Kopf half ihm durch die erste Stunde zu kommen, da er sowieso immer Englisch redete, wenn er nicht ganz bei der Sache war. Dennoch bemerkte seine zehnte Klasse seine geistige Abwesenheit natürlich und nutzte sie schamlos aus um miteinander zu reden und den Arbeitsauftrag so weit wie möglich nach hinten zu schieben. Nach endlosen 45 Minuten beendete das Klingeln endlich die Stunde und Henry verabschiedete seine Klasse mit den Worten: „Dass ihr die Aufgaben, die ihr in der Stunde nicht geschafft habt, zu Hause beendet, ist selbstverständlich, denke ich. Bye.“ Das Stöhnen der Schüler begleitete Henry aus dem Raum.
Im Lehrerzimmer traf er auf Martin.
„Ausgeschlafen?“, begrüßte dieser ihn.
„Nicht wirklich. Aber das ist ja nichts Neues. Und selber?“
„Nö. Es ist einfach unmenschlich, dass die Schule so früh anfängt. Dabei haben Wissenschaftler herausgefunden, dass das menschliche Gehirn – besonders das von Jugendlichen und Kindern – erst ab 10 Uhr komplett aufnahmefähig ist. Was soll´s? Können wir eh nicht ändern.“ Henry stellte fest, dass sie sich unbewusst darauf geeinigt hatten, Smalltalk zu halten, um das eigentliche Problem nicht vor anderen anzusprechen, denn Martin wusste, dass Henry noch nicht bereit war, seine gescheiterte Ehe publik zu machen. Und Jane? Nun ja, Jane war sowieso ein Thema für sich.
In diesem Moment öffnete sich die Tür und Fabian Willms, Musik- und Deutschlehrer, kam herein.
„Hallo ihr beiden. Ich müsste mal den Drucker benutzen, unserer drüben spinnt.“
„Ja klar, bedien dich“, sagte Martin locker und wandte sich erneut an Henry. „Hast du eine Ahnung, was ich in einer Vertretungsstunde mit Sechstklässlern machen kann?“
„Welches Fach?“
„Englisch.“
„Schau einen Film. Auf Englisch selbstverständlich. Mit Untertiteln, falls nötig. Die werden sich freuen und du kannst dich in der Zeit mit Materialien für die nächste Klasse beschäftigen.“
„Gute Idee, danke. Ich werde dann mal einen raussuchen gehen. Man sieht sich“, verabschiedete er sich von Henry, nickte Fabian zu und machte sich auf den Weg zur Bibliothek der Schule, in der neben den Büchern auch DVDs und alte Videokassetten standen.
„Wie geht’s dir?“, richtete Henry das Wort an Fabian.
„Ganz gut. Müde. Ich habe gleich eine siebte Klasse, die sind immer so quirlig. Gott, wie ich das hasse. Die können auch nie stillsitzen!“, beschwerte er sich. „Jetzt muss ich aber wieder rüber, gleich klingelt´s. Bis denne.“ Damit verschwand er.
Henry hatte nun zwei Freistunden, also holte er einen Stapel Klassenarbeiten heraus und machte sich daran, sie zu korrigieren.
In der Klassenleiter-Stunde, die er nach den Freistunden mit seiner Zehnten hatte, erging es ihm genauso wie am Morgen in Englisch. Zu allem Übel schlief er beinahe ein.
Seine letzte Klasse des Tages war eine Zwölfte in Geschichte. Glücklicherweise waren sie bereits vernünftiger als die Zehnte. Zugegeben, zwar nicht immer, doch heute schienen sie gut drauf zu sein. Er teilte sie in Gruppen ein und wies jede an, eine Rede über das Ende der Französischen Revolution und die Vor- und Nachteile für die jeweiligen Länder – Großbritannien und Frankreich – zu schreiben, die sie in der nächsten Stunde halten sollten.
Am Abend nahm er sich die restlichen Klassenarbeiten vor, die er in den Freistunden nicht hatte bewältigen können. Es war sterbenslangweilig, fünfzehn Mal mehr oder weniger dasselbe in anderen Formulierungen zu lesen.
Kurz bevor er die letzte Arbeit beendet hatte, klingelte sein Handy. Sophie verkündete die Anruferidentifikation. Henry fühlte sich nun wirklich weder in der Lage, noch in der Stimmung mit ihr zu sprechen und so drückte er sie weg. Keine fünf Minuten später versuchte sie es erneut und wurde wieder abgewürgt. Das gleiche Spiel wiederholte sich noch ein drittes Mal, dann schien sie eingesehen zu haben, dass er heute nicht mit ihr reden wollte. Dies sollte sich auch in den nächsten Tagen nicht ändern. Wie könnte er ihr je wieder in die Augen sehen, ohne an ihren Verrat erinnert zu werden?
Um ihren möglicherweise folgenden Anrufen zu entgehen, schaltete er sein Handy stumm, legte eine Doctor Who-DVD ein und sah dem Doctor und Donna dabei zu, wie sie durchs antike Pompeji liefen, bis er schließlich auf dem Sofa einschlief.
Mittwochmorgen konnte er kaum an etwas anderes als an Jane denken. Er würde sie heute schließlich wiedersehen – zum ersten Mal nach diesem grausamen Wochenende. Würde sie sich anmerken lassen, was geschehen war? Hatte sie ihren Freundinnen etwa davon erzählt? Grundsätzlich schätzte Henry es sehr, wenn Freunde sich einander so sehr vertrauten, dass sie sich alles Mögliche erzählten. Selbstverständlich wollte er jedoch nicht, dass seine Schüler erfuhren, wie er das Wochenende verbrachte hatte, weder dass er betrunken gewesen war, noch, dass Jane – seine Schülerin! – bei ihm übernachtet hatte.
Andererseits schätzte er Jane als vertrauensvoll ein und konnte sich nur schwer vorstellen, dass sie es irgendjemanden erzählen würde und damit sein Vertrauen missbraucht hätte. Wäre dies der Fall gewesen, hätte ihn außerdem bestimmt schon jemand darauf angesprochen oder er wäre zu Herrn Krämer gerufen worden.
„Come on, Henry“, ermahnte er sich selbst. „Du bist doch hier der Erwachsene, also steh gefälligst über den Dingen. Jane ist diejenige, die sich Gedanken machen müsste, nicht du! Also shut up und konzentriere dich auf den Unterricht!“
In der Schule angekommen, wurde er zunächst dadurch abgelenkt, dass seine zehnte Klasse die Aufgaben, die er ihnen am Montag gegeben hatte und die sie zu heute beenden sollten, zum größten Teil nicht gemacht hatte. Henry wunderte sich kaum darüber. Er kannte seine Pappenheimer und hatte es sich längst abgewöhnt, sich über nicht gemachte Hausaufgaben grün und blau zu ärgern. Der Ordnung halber hielt er seinen Schülern dennoch eine gehörige Standpauke – nicht, dass das etwas bringen würde, aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.
In der darauffolgenden Freistunde bereitete er sich mental darauf vor, Jane zu sehen. Im Nachhinein betrachtet, hätte er sich wirklich keine großen Sorgen machen müssen. Jane benahm sich wie immer: schüchtern und zurückhaltend. Henry wunderte sich sehr darüber. Sie schien in der Schule ein komplett anderer Mensch zu sein. Am Wochenende war sie noch so offen und keck gewesen. Doch was interessierte es ihn überhaupt? Sie war doch nur eine seiner Schülerinnen.
Nach dem Schlussklingeln, alle Schüler hatten die Klasse bereits verlassen, kam Jane auf ihn zu.
„Mr Scott?“, fragte sie mit zitternder Stimme.
„Was gibt es, Jane?“, antwortete er überrascht.
„Nichts, eigentlich. Ich wollte mich nur erkundigen, wie es Ihnen geht. Sie haben heute einen sehr geschafften und übermüdeten Eindruck gemacht, was ich in Anbetracht Ihrer derzeitigen Situation voll verstehen kann.“
„Danke Jane.“ Henry war sich nicht ganz sicher, was er darauf entgegnen sollte. „Ich bin in der Tat sehr müde und habe in den letzten Tagen recht wenig geschlafen. Danke, dass du nachgefragt hast. Sehr freundlich von dir. Und auch für Samstag danke noch mal.“
Sie errötete und erwiderte hastig: „Nicht der Rede wert, ich war ja nur zufällig in der Gegend. Einen schönen Tag noch, Mr Scott.“ Damit war sie auf einmal verschwunden.
Henry wurde aus diesem Mädchen einfach nicht schlau.
Während er auf Arbeit war, musste Sophie in der Wohnung gewesen sein. Der Großteil ihrer Kleidung und ihre gesamten Toilettenartikel waren weg. Henry war ihr dankbar, dass sie den Anstand besaß, aufzutauchen, während er abwesend war. Sophie war wirklich die Letzte, die er um sich haben wollte.
Nachdem er sich überbackenen Camembert auf Brot gemacht und gegessen hatte, ging er ins Internet. Vor einer Weile hatte er einen Instagram-Account eröffnet, um seine Liebe zu Doctor Who und Sherlock durch gepostete Bilder und kurze Video-Clips mit Menschen auf der ganzen Welt zu teilen. Inzwischen hatte er fast 200 Follower und war noch immer erstaunt darüber, wie viele Leute ihm folgten und seine Bilder likten. Und keiner von ihnen kannte ihn persönlich. Irgendwie ja schon ein wenig unheimlich, wenn man mal genauer darüber nachdachte: da waren so viele Menschen, die genau wussten, von welchen Serien er ein großer Fan war und wie er über bestimmte Theorien zu diesen Serien dachte und doch kannte nicht ein einziger von ihnen auch nur seinen Namen.
Er postete einen Screenshot von einer Theorie, die besagte, dass Richard Brook und Jim Moriarty (Sherlock) tatsächlich zwei verschiedene Personen waren – basierend darauf, dass einer der beiden Rechts- und der andere Linkshänder sei, schrieb als kurze Bildunterschrift „habe das erst kürzlich gesehen und kann der Logik dahinter nur zustimmen. Ob es stimmt oder nicht, sei dahingestellt“ und setzte noch einige Hashtags dahinter.
Während er durch die Posts derer scrollte, denen er folgte, musste er auf einmal auflachen. Wie geschockt seine Schüler doch wären, erführen sie, dass er einen Instagram- und einen Twitter-Account hatte. So etwas wurde jemandem, der die 25er Grenze überschritten hatte, wahrscheinlich kaum noch zugetraut.