Читать книгу Vergiss mein nicht - Vanessa Pätzold - Страница 8

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Röchelnd versuchte er zu atmen, doch seine kratzende Kehle versagte es ihm und ein tiefes Husten verließ seinen Mund, das seinen Ursprung in den Bronchien zu haben schien. Unterdessen fand in seinem Kopf ein Kampf statt: von außen wurde seine Schädeldecke mit Presslufthammern durchbohrt, von innen drückten hundert Kilo dagegen und versuchten, die Eindringlinge fernzuhalten.

Ein schrilles Klingeln beendete die Kampfszene, die Henrys Traumgespinsten entsprang, doch die Schmerzen blieben.

′Na wundervoll!′ Sophie war anscheinend schon weg. Zumindest konnte er sie nicht hören. Da sie Gleitzeit hatte, war er sich nie sicher, ob er sie morgens noch zu Gesicht bekam oder nicht. Mühsam schlurfte er ins Wohnzimmer, wo das Telefon stand und rief in der Schule an.

„Hallo Marie“, krächzte er, nachdem die Sekretärin sich gemeldet hatte. „Henry Scott hier. Ich kann heute nicht zur Arbeit kommen. Hörst du ja.“

„Ach Mensch, du Armer. Kurier dich mal schön aus. Kann deine Frau sich um dich kümmern?“

„Schön wär´s. Nein, sie ist schon los zur Arbeit.“

„Oh. Ok. Danke fürs anrufen. Wir werden mal sehen, wer für dich einspringen kann. Gute Besserung, Henry“, beendete sie das Telefonat.

Henry warf sich ein Aspirin ein und gurgelte mit Kamillenwasser. Dann legte er sich wieder ins Bett und schlief ein. Sein Schlaf war unruhig. Er träumte von Jane, die ihm sagte, dass sie ihn liebe und versuchte, ihn zu verführen. Schweißgebadet wachte er auf und schüttelte hektisch seinen Kopf. Warum träumte er so etwas? Ferner von der Realität entfernt ging es ja wohl nicht. Erschöpft hielt er sich den Kopf und stutzte. Seine Stirn fühlte sich ganz heiß an. Das Fieberthermometer zeigte ihm 39°C. Es hatte ihn richtig erwischt. Er griff nach seinem Handy, das auf dem Nachttisch lag und wählte Sophie an.

„Komm schon, geh ran“, murmelte er, doch sein Hoffen wurde nicht erhört. Sophie schien ihr Handy stumm geschaltet zu haben. „Verdammt!“, fluchte Henry in dem Moment, als es an der Tür läutete. Verwirrt sah er auf die Uhr: Kurz nach Eins. Hatte er wirklich so lange geschlafen? Er schälte sich aus dem Bett, wickelte allerdings das Laken um sich, da er in diesem Zustand wohl kaum die Tür öffnen konnte. Schlafanzüge störten ihn; er hatte stets das Gefühl, in einer Wurst aus Stoff verwickelt zu sein, darum schlief er nackt.

Es klingelte erneut.

„Moment“, schniefte er, während er zur Tür schlurfte und sie öffnete. Er erstarrte.

„Hallo, Mr Scott.“ Vor ihm stand Jane, die bis zu den Haarspitzen errötete. Henry wurde sich bewusst, dass das Laken nur seinen Unterkörper bedeckte und sein Sixpack frei sichtbar war. Schnell zog er es hoch.

„Jane. Was machst du, … machen Sie denn hier?“, krächzte er und täuschte einen Hustenanfall vor, um das ‘du‘ zu vertuschen, der allerdings sofort in einen richtigen Anfall umschlug.

„Herr Ruhr meinte, er müsse Ihnen das hier heute noch geben, habe aber keine Zeit, zu Ihnen zu fahren. Also habe ich mich angeboten. Er meinte, eigentlich dürfe er mir ja nicht ihre Adresse geben, aber er vertraue mir. Und es sei dringend. Also, hier bin ich.“ Sie lächelte verlegen und wusste scheinbar nicht recht, wo sie hinsehen sollte. In ihren Armen hielt sie einige dicke Akten und über der Schulter hing eine ausgebeulte Tasche.

„Äh ...“ Er konnte ihr die Akten nicht abnehmen, denn dazu hätte er das Laken loslassen müssen und hätte nackt vor ihr gestanden. Also atmete Henry tief durch – so tief das eben mit einer Erkältung ging – und hoffte, dass er diese Entscheidung nicht bereuen würde: „Komm doch rein. Du ka- … Sie können sie mir auf meinen Schreibtisch legen.“ Er trat einen Schritt zur Seite und ließ sie durch. Zaghaft schritt sie über die Schwelle, als betrete sie eine Höhle voller Fallen. Er schloss die Tür hinter ihr wieder, schob sich an ihr vorbei und ging voran. Sein Arbeitszimmer lag am Ende des Flurs.

„Einfach drauflegen, bitte“, hustete er und sie tat es.

„Sehr schlimm?“, fragte sie besorgt.

„39 degrees Fieber, ein exploding Kopf und der Hals. Sorry, wenn es mir schlecht geht, fällt mir meine Muttersprache einfacher“, entschuldigte er sich und erwartete, dass sie zur Tür ging. Doch sie blieb stehen.

„Kein Problem. Wenn Ihnen das leichter fällt, können wir gern Englisch reden. Ich bevorzuge diese Sprache sowieso. Außerdem klingt Ihr Akzent nicht mal halb so gut, wenn Sie Deutsch reden“, murmelte sie auf Englisch und wurde wieder rot. ′Das war ein Kompliment, oder?′

„Danke sehr. Das ist lieb von Ihnen. Aber Sie sollten jetzt wirklich gehen.“ Mit dieser Aufforderung wechselte er wieder ins Deutsche, um ihr zu verdeutlichen, dass sie sich ihm nicht anzupassen brauchte.

„Aber …“ Sie stockte. „Kommt Ihre Frau früher nach Hause, um sich um Sie zu kümmern?“ Diese Frage hatte er nicht erwartet und für einen Moment klappte sein Kiefer herunter und seine Augen weiteten sich überrascht.

„Vor sieben wird sie nicht zuhause sein. Warum?“

„Weil Sie momentan weder sehr gut aussehen, noch sich gut fühlen. Ich mache Ihnen einen Tee. Wo ist die Küche?“ Sie wirkte entschlossen zu bleiben und Henry fühlte sich ja nun wirklich alles andere als prickelnd, also versuchte er gar nicht erst, sie von ihrem Vorhaben abzubringen.

„Folgen Sie mir.“

„Sie können mich ruhig duzen“, bemerkte die Rothaarige auf Deutsch. „Schließlich sind wir hier nicht in der Schule und bis zur Zehnten haben Sie es ja auch getan.“

„Wenn du meinst.“ Er ging ihr voraus in die Küche, wo er, kaum dass er durch die Tür getreten war, stehen blieb. Sophie hatte ihre Klamotten von letzter Nacht nicht weggeräumt, sodass ihre Bluse, sein Hemd und ihr BH immer noch auf dem Boden lagen. Jane betrat eine Sekunde nach ihm den Raum und wurde erneut rot. So langsam fragte er sich, ob sie die Farbe Rot magisch anzog. Was sollte sie sie nur von ihm denken, wenn sie diese Szene sah? Nervös biss er sich auf die Unterlippe, schalt sich jedoch gleich darauf für seine Sorgen. Sophie war seine Frau, das war normal. Außerdem hatte das Mädchen hier eigentlich rein gar nichts zu suchen. Sie schluckte und er bemerkte, dass sie etwas leise vor sich hinmurmelte.

„Sorry?“, fragte er.

„Oh nichts. Ich habe nur … Ich denke, ich habe nur etwas … deduziert.“

„Deduziert? So wie Sherlock Holmes? Was denn?“ Natürlich wusste er die Antwort, doch aus irgendeinem Grund konnte er sie nicht in Ruhe lassen. So wie sie vor ihm stand, beinahe einen Kopf kleiner als er, mit vor Scham gesenktem Kopf und Wangen, die ihrer Haarfarbe Konkurrenz machten, schrie sie regelrecht danach, ein wenig geärgert zu werden. ′Sie ist diejenige, die nicht gehen wollte, also ist es ihre eigene Schuld′, entschied er.

„Sie … als Ihre Frau gestern nach Hause kam, hat Sie ein Glas Wein getrunken. Nein, ein halbes Glas. Er hat ihr nicht geschmeckt. Sie … Sie hatten Sex. Begannen hier und endeten im Schlafzimmer.“ Sie sah ihn nicht an und war offensichtlich verlegen.

„Du bist gar nicht mal so übel darin. Woher weißt du, dass wir nicht die ganze Zeit hier waren?“

„Nun ja … Nur Ihr Hemd und die Bluse und der BH Ihrer Frau liegen hier. Wären Sie die ganze Zeit über hier geblieben, läge dort mehr. Wie Ihre … Ihre Jeans.“

„Und woher willst du wissen, dass ich die überhaupt noch an hatte, als Sophie nach Hause gekommen ist?“

„Mein Gott, das ist doch offensichtlich“, schnaubte sie und als sie sich zu ihm umdrehte und mit ihren leuchtend grünen Augen direkt in seine sah, fiel ihre Schüchternheit von ihr ab wie Herbstlaub im Sturm. „Dieses Hemd“, sie bückte sich, hob sein Hemd auf und hielt es ihm vor die Brust. „Das ist das Hemd, das Sie gestern in der Schule trugen. Das bedeutet, Sie haben sich nicht umgezogen. Also warum sollten Sie in dem gleichen Hemd herumlaufen, aber Ihre Hose ausziehen? Das ergäbe nicht viel Sinn. Außerdem verrät mir Ihre Frage die Antwort, sonst hätten Sie wohl kaum nachgehakt.“

Das war sie also: die nicht schüchterne Jane. Sie gefiel Henry. Zumindest in dem Sinne, dass er besser mit ihr reden konnte.

Plötzlich wurde seine Atmung von einem widerlichen Würgen unterbrochen. Hustend und nach Luft ringend krümmte er seinen Körper; es schmerzte beinahe unerträglich.

Durch den gelockerten Griff rutschte sein Laken nach unten, doch Henry bemerkte das gar nicht. Jane hingegen griff geistesgegenwärtig nach dem herunterrutschenden Ende und zog es hoch. Ihre Hand blieb auf seinem Rücken liegen.

„Wo ist Ihr Schlafzimmer?“ Das war auch eine Frage, die man nicht alle Tage von seiner Schülerin hörte. Henry konnte allerdings nicht antworten, das Würgen versagte ihm das Sprechen. Also wies er mit seinem Kopf in die Richtung. Jane führte ihn hinein und drückte ihn sanft aufs Bett.

„Sie sollten sich besser hinlegen. Ich mache Ihnen jetzt den Tee.“ Sie verschwand wieder in die Küche, wo kurz darauf der Wasserkocher zu hören war.

Henry warf das Laken auf die Bettseite seiner Frau und zog sich schnell die Decke über. Allerdings war es ziemlich warm darunter, also ließ er sie so liegen, dass sein Oberkörper wieder frei war. Jane würde ihn dann zwar so sehen, aber er fühlte sich gerade so mies, dass es ihm egal war. Auch, dass Schwitzen hilfreich war, tangierte ihn gerade äußerst peripher. Kaum hatte er sich jedoch einigermaßen gemütlich hingelegt, war er auch schon eingeschlafen.

Als Henry wieder aufwachte und nach der Uhr sah, war es 17:48 Uhr. Sophie würde bald zuhause sein und Henrys Gedanken sprangen zu Jane. Er stand auf, zog sich erneut das Laken um den Körper und trat in den Flur.

„Jane?“ Keine Antwort. Er wiederholte ihren Namen, doch sie war anscheinend bereits gegangen. Nicht dass er etwas dagegen hatte, oh nein! Es war sowieso seltsam gewesen, seine Schülerin in der Wohnung zu haben. Er schleppte sich weiter in die Küche, wo eine Tasse Tee stand. Vorsichtig nippte er daran, doch sie war bereits eiskalt, also schüttete er sie in den Ausguss. Seine Blase beschwerte sich und veranlasste ihn, ins Bad zu gehen, wo er einen Moment verwirrt stehen blieb und schnupperte. Es roch so anders. Er kannte diesen Geruch. Natürlich! „Jane muss ihr Parfüm erneuert haben, bevor sie den Tee gemacht hat“, murmelte er vor sich hin und sprühte sein Deo in die Luft. Er wollte nicht, dass Sophie auf den Gedanken kam, es sei eine fremde Frau in ihrer Wohnung gewesen. Auch wenn dies ja der Fall war. Würde er Jane jedoch wirklich als Frau bezeichnen? War sie nicht viel eher noch ein Mädchen, ein Kind?

Nach dem befreienden Toilettengang und einer kurzen Dusche, ging Henry zurück ins Schlafzimmer, um sich etwas Vernünftiges anzuziehen. Dabei steckte er sich das Fieberthermometer in den Mund und stellte begeistert fest, dass es sich auf 37,5°C gesenkt hatte.

Als er nach seiner Uhr griff, fiel ihm ein zusammengefaltetes Blatt Papier auf, das gegen die Wand gelehnt auf dem Nachttisch lag. Er nahm es in die Hand und öffnete es:

„Mr Scott. Ich hoffe, es geht Ihnen bald besser. Es tut mir ehrlich leid, so hereingeplatzt zu sein, wird nicht wieder vorkommen. Im Kühlschrank ist eine Hühnerbrühe, die brauchen Sie nur noch aufzuwärmen – sie hilft sehr gut gegen Krankheiten. Bis bald in der Schule. Jane“

Er schluckte und las die Nachricht noch einmal. Sie hatte ihm wirklich Hühnerbrühe gemacht? Sie war verrückt. Eindeutig verrückt. Er musste lachen. Hatte sie denn keine anderen Hobbys, als ihren kranken Lehrer zu bemuttern? Und woher hatte sie das Huhn?

Er schlurfte in die Küche, griff nach der Hühnerbrühe im Kühlschrank und erwärmte sie in der Mikrowelle. Nach dem ersten Löffel hielt er überrascht inne. Das schmeckte wirklich wundervoll. Woher konnte ein 17-jähriges Mädchen so gut kochen? Und vor allem: Warum konnte sie so gut kombinieren? Beziehungsweise deduzieren, wie sie es genannt hatte. Ein wenig unangenehm, dass sie das mit dem Sex des letzten Abends wusste. Andererseits anhand der auf dem Boden liegenden Klamotten und seiner Reaktion war es nicht schwer gewesen, darauf zu kommen. Sie war nicht wie Sherlock Holmes. Jane war nur gut im Raten, mehr nicht. Als ob jemand im echten Leben so kombinieren oder ′deduzieren′ konnte, wie Sherlock Holmes. Das war doch sehr unwahrscheinlich.

Dass sie so gut kochen konnte, erstaunte ihn dennoch. Musste sie zuhause viel kochen? Hatte sie Geschwister, um die sie sich kümmern musste? Was war mit ihren Eltern? Henry beschloss, auf dem nächsten Elternabend mit ihnen zu sprechen. Dass sie in seiner Wohnung war, musste er ihnen ja nun nicht unbedingt auf die Nase binden. Doch dann fiel ihm siedend heiß ein, dass es in der Oberstufe keinen Elternabend mehr gab. Nun gut, er würde einen anderen Weg zu einer Unterhaltung mit Janes Eltern finden.

Genüsslich aß er die Suppe auf und wusch dann das Geschirr ab. Gerade, als er es wieder in den Schrank geräumt hatte, hörte er Sophies Schlüssel im Schloss.

„Hey, honey. Ich bin wieder zuhause“, rief sie in den Flur und er ging ihr entgegen.

„Endlich. Ich habe dich dutzende Male angerufen, warum bist du nicht rangegangen?“ Stumm starrte sie ihn an.

„Schatz? Ist alles ok? Stimmt was nicht?“ Henry schüttelte sie. Endlich rührte sie sich.

„Wie? Achso, ja, sorry. Mir geht es nicht so gut, mein Kopf brummt. Aber was ist denn mit dir? Du siehst mies aus.“

„Danke, sehr freundlich“, erwiderte Henry sarkastisch. „Ich bin krank. Bin heute Morgen mit hämmerndem Kopf und kratzender Kehle aufgewacht und hatte zwischendurch 39 Grad Fieber. Aber dank Tee und viel Schlaf geht es jetzt wieder besser. Also, warum bist du nicht an dein Handy gegangen?“

„Ich hatte letzte Nacht vergessen, es aufzuladen. Im Büro habe ich festgestellt, dass der Akku alle ist und ich auch kein Ladegerät dabeihatte. Tut mir echt leid, Sweetheart.“ Das klang plausibel.

„Schon gut. Ich habe mir nur echt Sorgen gemacht, weil du doch sonst immer rangehst und mir ging es echt mies.“

„Sorry. Ich mach dir mal noch einen Tee, okay?“ Sie ging in die Küche und setzte Wasser auf. „Glaubst du, du kannst morgen wieder arbeiten gehen?“

„Hörst du mir überhaupt zu? Ich hatte 39 Grad Fieber und mir geht es immer noch nicht sonderlich gut. Also nein, ich denke nicht, dass ich morgen wieder arbeiten gehen kann.“ Sophie sah ihn kleinlaut an: „Entschuldige, ich habe doch gesagt, ich habe starke Kopfschmerzen. Du weißt doch, dass ich da wenig mitbekomme.“ Als der Wasser-kocher pfiff, verzog sie ihr Gesicht und stöhnte genervt auf. Henry reichte ihr eine Tasse und nachdem sie einen Teebeutel hineingelegt hatte, goss sie das Wasser hinzu.

„Ich lege mich hin, bin todmüde. Nacht, Schatz.“ Sophie gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verschwand ins Badezimmer. Henry seufzte und fragte sich, was mit seiner Frau los war. Während sein Tee zog, schrieb er Martin eine Nachricht: „Was ist denn bloß in dich gefahren, Jane meine Adresse zu geben?!“ Die Antwort kam nicht mal eine Minute später: „Die Akten mussten dringend zu dir, du musst die Zwischennoten für den Elternabend der Mittelstufe nächste Woche fertig machen und da ich keine Zeit hatte und sie sich angeboten hat … Außerdem ist sie eine sehr vertrauenswürdige Schülerin.“

„Eben: eine Schülerin! Die bei mir zuhause war und mich halb nackt gesehen hat! Martin, du Idiot! Mach das nie wieder!“

Der Wasserstrahl, den Henry aus dem Bad vernommen hatte, ebbte ab und er sah seine Frau, eingewickelt in einen Bademantel, ins Schlafzimmer tippeln.

„Sie hat dich halb nackt gesehen?!? Wie? Warum?“ Er konnte Martins Mischung aus Entsetzen und Belustigung beinahe hören.

„Als sie an der Tür geklingelt hat, habe ich noch geschlafen und mir daraufhin nur ein Laken übergeworfen, das nur meinen Unterkörper bedeckte, was ich erst bemerkt habe, als sie mich so komisch und geschockt angeguckt hat. Und später bin ich eingeschlafen, als sie noch da war, mit der Decke ebenfalls nur bis kurz über der Gürtellinie.“

„Was schläfst du auch nackt“, war die einzige Antwort seines Freundes. Henry schüttelte ungläubig den Kopf.

„Jedenfalls herzlichen Dank dafür. Wir sehen uns übermorgen oder so.“

„Bye.“ Gerade, als Henry sein Handy wieder weglegte, signalisierte die Eieruhr, dass der Tee fertig war. Darauf bedacht, sich nicht die Zunge zu verbrühen, trank er ihn mit kleinen Schlucken und ließ kopfschüttelnd den wohl verrücktesten Tag seines Lebens Revue passieren.

Zwei Tage später fühlte Henry sich wieder fit genug, um zur Arbeit gehen zu können. Er war froh, dass er Jane erst am darauffolgenden Mittwoch wiedersehen würde. Und selbst dann hätte er wahrscheinlich immer noch keine Ahnung, was er sagen oder wie er reagieren sollte. Er konnte ja schließlich nicht so tun, als wäre Dienstag nie passiert, oder doch? Vielleicht sollte er auch erst einmal abwarten und sie beobachten, um dann anhand ihrer Reaktion zu entscheiden, ob und wie er reagieren sollte.

Er war sich ziemlich sicher, dass es nichts Gutes für seine Karriere bedeuten würde, sollte Herr Krämer etwas davon erfahren.

Doch jetzt sollte er sich erst einmal auf die Geschichtsstunde mit der neunten Klasse vorbereiten und seine Gedanken nicht zu Jane schweifen lassen. Um sie würde er sich später kümmern.

Am Samstag war es dann so weit: Sophies und sein sechster Hochzeitstag. Er hatte seinen Handywecker bereits auf sieben Uhr gestellt, sodass er genug Zeit hatte, seiner Frau ein reichhaltiges Frühstück zu machen. Henry wusste, dass sie es liebte, im Bett zu frühstücken und wollte diesen Tag so besonders wie möglich gestalten. Also ging er in die Küche und setzte den Kaffee auf. Während dieser lief, holte er Croissants und Brötchen, kochte Rühreier mit Bacon und stellte zum Schluss alles auf ein großes Tablett. Auf leisen Sohlen schlich er dann zurück ins Schlafzimmer, wo Sophie noch immer lieblich schlummerte. Vorsichtig stellte er das Tablett auf seinem Nachttischschrank ab und setzte sich dann neben sie. Liebevoll sah er sie an. Mit ihren blonden Haaren, die sich über das weiße Kissen verteilten und dem friedlichen Ausdruck im Gesicht, sah sie aus wie ein Engel. Sein Engel.

„Good morning, baby. Rise and shine.“ Verschlafen drehte sie sich zu ihm um. „Alles Gute zu unserem sechsten Hochzeitstag, mein Liebling. Hast du gut geschlafen?“ Sophie rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah ihn an. Henry konnte ihren Blick nicht deuten: sie wirkte zwar sehr freudig – das sollte ja schließlich auch so sein, sie waren nun immerhin sechs Jahre glücklich verheiratet – doch dahinter steckte noch etwas anderes, etwas … zweifelndes, gequältes und unentschlossenes. Henry beschloss, nicht weiter darauf zu achten und balancierte das Tablett auf seinen Knien.

„Ich hab Frühstück mitgebracht. Ich liebe dich, Schatz.“ Sie schwieg einen Moment, eigentlich viel zu kurz um `Moment´ genannt zu werden und erwiderte dann: „Das ist lieb von dir, danke. Gießt du mir einen Kaffee ein?“ Was war das denn? Kein `ich dich auch´?

„Sophie? Was ist los?“

„Was meinst du, Henry?“ Sie sah ihn mit großen Augen an, doch Henry ließ sich dadurch nicht verunsichern.

„Du weißt genau, was ich meine. Heute ist unser sechster Hochzeitstag und du wirkst eher gehetzt als glücklich. Also raus mit der Sprache: Was ist los?“ Beinahe verzweifelt sah sie sich um. „Sophie! Was zum Henker ist los?“ Henry machte sich so sehr Sorgen, dass er in seine Muttersprache verfiel. „Sweetheart, I love you. Du kannst mir doch alles erzählen. Ich bin dein Mann, verdammt noch mal!“ Aufgebracht rieb er sich seine Nasenwurzel und atmete tief durch.

„Das ist … Henry, mach es mir nicht noch schwerer. Nicht heute, bitte nicht heute.“

„Sophie, irgendetwas bedrückt dich und ich kann das nicht mehr ignorieren. Also spuck es jetzt endlich aus: Was. Ist. Los?“ Sie seufzte lautstark auf und wandte ihr Gesicht ab.

„Es wird den Tag ruinieren. Es wird dich ruinieren. Es wird einfach alles ruinieren.“

Henry spannte seine Gesichtsmuskeln an und sah sie mit zusammengekniffenen Augenlidern an. Wortlos bedeutete er ihr, weiter zu reden.

„Es … es ist nichts Schönes.“ Sophie setzte sich hin und lehnte sich an die Wand, ihre Arme verschränkten sich um ihre Knie. „Henry, Liebling. Du wirst mich dafür hassen und ich kann es verstehen. Aber früher oder später hättest du es sowieso erfahren.“ Sie atmete tief ein und fuhr dann fort: „Ich bin schwanger.“

Henry entfuhr ein erleichterter Seufzer: „Aber Sophie, das ist doch etwas Wunderbares! Warum sollte mich das wütend machen?“ Er strahlte bis über beide Ohren und wollte sie gerade umarmen, als …

„Das Kind ist nicht von dir, Henry.“ Sein Gesicht erstarrte und sein Blick erkaltete. Die Arme noch immer nach ihr ausgestreckt, blinzelte er sie ungläubig an.

„Was meinst du damit?“ Sie schloss für einige Sekunden ihre Lider und sah ihm dann entschlossen in die Augen.

„Henry: Ich habe eine Affäre. Mit Mirko, von der Arbeit. Das Kind ist von ihm.“ Henry starrte stillschweigend auf seine Frau. Seine Arme sanken langsam auf seinen Schoß. Es hatte ihm schlichtweg die Sprache verschlagen. Das konnte einfach nicht sein. Sophie würde so etwas nie im Leben tun. Sie liebte ihn doch genauso sehr, wie er sie. Das war ihr sechster Hochzeitstag. Sechs Jahre Ehe – bedeutete das denn gar nichts? War alles eine große Lüge?

„Henry? Henry sag doch was“, flehte sie ihn an.

„Liebst du mich?“ Ernst sah er ihr in die Augen. Sie schüttelte verwirrt den Kopf: „Was?“

„Liebst du mich? Hast du mich jemals geliebt? Oder war das alles nur Theater?“

„Natürlich habe ich dich geliebt! Henry du warst das Beste, das mir passieren konnte. Ich –“

„Warst? Du liebst mich also nicht mehr“, stellte Henry nüchtern fest und wunderte sich, warum er nicht heftiger darauf reagierte.

„Das ist kompliziert!“

„Was ist daran kompliziert? Du hast mich betrogen und bist von diesem … diesem Mirko“, er spie den Namen aus als wäre er das schlimmste Wort der Welt, „auch noch schwanger geworden. Und jetzt? Wie hast du dir das vorgestellt? Wolltest du mir weiß machen, es wäre meins?“ Er fühlte förmlich, wie sein Stolz entzwei sprang. Und sein Herz gleich hinterher.

„Verdammt, Henry. Ich weiß es nicht. Schau mal, die Sache ist halt die, dass er für mich nicht bloß eine belanglose Affäre ist. Ich … ich habe Gefühle für ihn entwickelt. Und er für mich ebenfalls. Henry, ich … verdammt, ich weiß doch auch nicht.“

„Geh“, flüsterte Henry kaum hörbar.

„Sorry?“, hakte Sophie nach.

„Geh“, wiederholte er, diesmal lauter. „Geh zu deinem Mirko. Ich möchte dich nicht mehr sehen.“

„Aber –“

„Ich sagte: Geh!“ Er sprang auf und deutete zur Tür. Seine Wut war kaum zu beschreiben. Er fühlte sie durch seine Adern fließen, sie nahm seine Gedanken ein, war einfach überall. Seine Sophie hatte ihn betrogen! Seine über alles geliebte Sophie, seine Frau, sein Ein und Alles … Sie hatte sich als eine bloße Täuschung herausgestellt. Langsam schob sie ihre Bettdecke zur Seite und stand auf.

„Ich werde duschen und mir etwas Vernünftiges anziehen. Danach bist du mich los.“ In all seiner Wut hatte Henry ganz vergessen, dass sie noch immer im Schlafanzug steckte. Langsam nickte er.

„Beeil dich.“ Mit diesen Worten marschierte er in sein Arbeitszimmer und begann fieberhaft, sich von den Ereignissen des Morgens abzulenken. Vergeblich. Er konnte einfach nicht aufhören, an seiner Menschenkenntnis zu zweifeln. Sogar der Gedanke, dass Jane es an seiner Stelle bestimmt schon längst bemerkt hätte, zog durch seine Gedanken.

Nach etwa zwanzig Minuten hörte er die Wohnungstür ins Schloss fallen – sie war weg. Endgültig. Verschwunden aus seinem Leben, für immer.

Den Kopf in die Hände gestützt saß er eine gefühlte Ewigkeit an seinem Schreibtisch. Auf einmal klingelte sein Handy, Martin hatte ihm geschrieben: „Herzlichen Glückwunsch zum sechsten, alter Freund. Auf weitere –“ Henry löschte die Nachricht ohne sie zu Ende zu lesen. Was hätte das auch für einen Sinn?

Als er auf die Uhr blickte, stellte er fest, dass es bereits spät am Nachmittag war. Er musste eingeschlafen sein. Ohne groß darüber nachzudenken, zog er sich eine Jacke an, steckte seinen Geldbeutel ein und stiefelte zur nächstgelegenen Kneipe. Dort angekommen setzte er sich an die Bar und bestellte einen Wodka, an dem er vorsichtig nippte. Mit jedem Schluck geriet der Morgen mehr und mehr in Vergessenheit. Auf den ersten folgte ein zweiter Wodka, ein dritter, ein vierter … Als der Barkeeper ihm das keine-Ahnung-wievielte Glas hinstellte, sagte er bestimmt: „Det reicht dann aber, ne?“ Henry sah ihn aus glasigen Augen an und erwiderte lallend: „Wascheinich schon. Pascht scho.“ Er schob ihm einige Scheine zu und kippte den Wodka auf Ex herunter. Dann erhob er sich und ging leicht torkelnd zur Tür.

Draußen war es duster. Er spürte Erbrochenes hochkommen und stürzte in die nächste Gasse, wo er den Boden mit dem zuvor getrunkenen Wodka veredelte. Noch während er kopfüber dastand, hörte er jemanden besorgt fragen: „Geht es Ihnen gut?“ Die Stimme kam ihm seltsam vertraut vor und als er sich in ihre Richtung drehte, musste er ein paar Mal blinzeln, bis die Informationen auch wirklich sein Hirn erreichten.

„Oh mein Gott, Mr Scott?! Ist alles in Ordnung?“ ′Offensichtlich nicht. Ich bin betrunken in einer Gasse, kotze mir die Seele aus dem Leib und meine Frau ist von einer Affäre schwanger.′

„Sssehe ich ssso ausss, alsss ob nich?“ Er bemühte sich, sie anzusehen. Doch welche der drei Janes war die Richtige?

„Mr Scott! Sie sind ja völlig betrunken!“ Sie eilte auf ihn zu und hielt ihn fest, da er ständig hin und her schwankte und nicht in der Lage war, gerade zu stehen.

„Sch-Jane. Was massu hier? ′s is nach Elf“, stammelte er mühselig und verzog sein Gesicht zu seltsamen Grimassen um sich auf sie zu konzentrieren.

„Ich war im Kino“, lautete ihre knappe Antwort. Sie führte ihn in einen nahegelegenen Park, wo sie ihn auf eine Bank drückte und sich neben ihn setzte. Eine Weile sagte keiner der beiden was. Dann brach Jane das Schweigen: „Warum, Mr Scott? Sie sind doch kein Trinker.“

„Dedusier mich ′och ei′fach“, maulte Henry und brach in Tränen aus. Jane sah ihn schockiert an und streichelte langsam seinen Rücken. Sein Gesicht hatte er in seinen Händen vergraben und sein ganzer Körper bebte unter den schweren unregelmäßigen Schluchzern. Ihre Hand fühlte sich schwer und heiß an. Als wolle sie ihm ein schlechtes Gewissen einbrennen.

„Ich denke, ich sollte Sie besser nach Hause bringen. Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Und wissen Sie was? Ihre Frau verdient Sie gar nicht“, stellte Jane nüchtern fest und half ihm wieder auf. Allerdings war er noch immer nicht standfest und begann sofort wieder, hin und her zu schwanken. Daraufhin legte sie sich seinen Arm um ihre Schulter und ihren anderen Arm um seine Hüfte. Unter seinem Gewicht ächzend schlug sie den Weg zu seiner Wohnung ein. Einige Male mussten sie stehen bleiben, da er sich erneut übergeben musste. So brauchten sie beinahe doppelt so lang wie üblich. Vor dem Haus angekommen, griff Jane kurzerhand in Henrys Hosentasche und zog seinen Schlüssel heraus. Nachdem sie die Haustür und kurz darauf die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, verfrachtete sie ihn ins Schlafzimmer, wo er sofort aufs Bett fiel und auf der Stelle einschlief.

Vergiss mein nicht

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